Systemische Psychologie

von: Guido Strunk, Günter Schiepek

Spektrum Akademischer Verlag, 2006

ISBN: 9783827417107 , 356 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 31,50 EUR

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Systemische Psychologie


 

4.4 Chaos, ein schwer zu definierendes Phänomen (S.94-95)

Die prominenteste und sicherlich populärste Verhaltensweise nichtlinearer dynamischer Systeme ist die chaotische Systemdynamik. Obwohl der Begriff des Chaos relativ alt ist und weit in die archaische Mythologienwelt der Menschheit zurückreicht (vgl. Paslack 1996), ist die Definition einer chaotischen Systemdynamik nur schwer zu geben. Vor dem Hintergrund einer physikalisch-mathematischen Perspektive stellt sich sogar die Frage neu, welcher Chaosbegriff verschiedenen Schöpfungsmythologien zu Grunde liegt. Ein völlig strukturloses „Tohuwabohu" ist praktisch nur schwer vorstellbar und findet sich bei näherer Betrachtung in kaum einer Schöpfungsmythologie (Paslack 1996, S. 13 f.). Immer schon ist auch im Chaos des Urzustandes der Welt eine Ordnung als Keimzelle angedeutet oder erscheint es als produktives Element, welches die Ordnung der Welt hervorzubringen vermag.

Am ehesten ließe sich ein solch chaotischer Urzustand mit einer Wüste, einer ebenen Sandfläche vergleichen. Dem Beobachter erscheint der Sand als strukturlose Menge, bei der die einzelnen Sandkörner ohne jede erkennbare Ordnung nebeneinander liegen. Ein Spiegel ließe sich beliebig im Sand platzieren, ohne dass sich ein anderes Bild zeigen würde. Eine völlig ebene Sandfläche wäre, egal wie groß oder wie klein ein Beobachtungsausschnitt gewählt wird, immer mit sich selbst identisch. Mathematisch gesprochen wäre sie eine maximal symmetrische Ebene. Ganz im Gegensatz zu der hier diskutierten Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer völlig chaotischen Strukturlosigkeit entdeckte Poincaré Chaos in einer ganz anderen Form und in einer Klasse von physikalischen Systemen, für die es eigentlich nicht zu vermuten gewesen wäre. Die Beschreibung der Planetenbahnen von nur drei Planeten, für die zudem der 2. Hauptsatz der Thermodynamik vernachlässigt werden kann, sollte eigentlich möglich sein, ist jedoch praktisch nicht durchführbar, da bereits kleinste Verstörungen in kürzester Zeit zu einem veränderten Verhalten führen. Dieses veränderte Verhalten ist jedoch keinesfalls strukturlos und wahllos, es folgt den internen Mechanismen des Systems. Diese operieren jedoch als gigantischer Verstärker kleinster Störungen.

Eines der Hauptkriterien bei der Definition von Chaos aus der Sicht der Theorien Nichtlinearer Dynamischer Systeme ist daher die sensible Abhängigkeit des Systemverhaltens von kleinen Fluktuationen. Liegt Chaos vor, dann streben beliebig nahe benachbarte Punkte im Phasenraum im Verlauf der Zeit exponentiell auseinander. An diesem zentralen Definitionsmerkmal sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben:

1.  Exponentielle Divergenz. In chaotischen Systemen streben nahe benachbarte Trajektorien nicht wahllos und beliebig auseinander. Sie divergieren exponentiell, sodass sich eine kleine Störung zwar lawinenartig vergrößert, sich aber dennoch nicht zufällig auswirkt. Das System macht keine Sprünge; es springt im Phasenraum nicht wahllos hin und her, wie es sich z. B. bei der Phasenraumdarstellung eines Glückspiels zeigen würde.

2. Divergenz bedingt Konvergenz. Würden die Trajektorien eines Systems nur divergieren, so würde sich der Phasenraum beständig vergrößern. Tatsächlich ist es ein Merkmal der chaotischen Systemdynamik, dass sich der Phasenraum trotz exponentieller Divergenz nahe benachbarter Punkte mit der Zeit nicht vergrößert, da die exponentielle Divergenz auf der einen Seite durch konvergente Entwicklungen auf der anderen wieder aufgefangen wird. Anschaulich wird dies durch die so genannte Bäckertransformation beschrieben. Ebenso wie ein Bäcker einen Teig zunächst auswalzt und dehnt, um ihn danach wieder zusammenzufalten, dehnt und faltet sich auch ein chaotischer Attraktor (vgl. Abbildung 60, S. 215). Wenn sich aber Divergenz und Konvergenz im Durchschnitt die Waage halten, wird es unter Umständen schwierig, Chaos in empirischen Systemen schlüssig zu identifizieren. In der Regel wird dann von Chaos gesprochen, wenn der Nachweis gelingt, dass nahe benachbarte Trajektorien exponentiell divergieren. Dass entfernte Trajektorien mit der Zeit konvergieren, fällt beim praktischen Nachweis von Chaos nicht ins Gewicht.