Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention

von: Anita Riecher-Rössler, Pascal Berger, Ali Tarik Yilmaz und Rolf-Dieter Stieglitz (Hrsg.)

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2004

ISBN: 9783840916496 , 362 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

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Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention


 

3 Dynamik von Krisen und ihre Bedeutung für die Krisenintervention (S. 54-55)

Von Horlacher und Reimer (1992) wurden Krisen in verschiedene Phasen eingeteilt. In der ersten Phase ist das Individuum mit einer subjektiv ausweglosen Situation konfrontiert und es tritt die typische Destabilisierung entscheidender – u. U. aller – Lebenszusammenhänge auf. In der zweiten Phase werden Lösungsversuche, Bewältigungsstrategien und Vermeidungsstrategien zugleich aktiviert und ausprobiert. Dieses aktive Suchverhalten ist die Reaktion auf die Destabilisierung und markiert die Klimax der Krise. Der Zustand ist dadurch noch nicht stabiler. Die Stabilisierung tritt im günstigen Falle zu Beginn der dritten Phase ein. Nun zeigen adäquate Bewältigungsstrategien ihre erste Wirkung und der Erlebnishorizont des Betroffenen weitet sich wieder, ebenso wie die ausgeprägte Tunnelsicht des Suizidalen. Die Fokussierung auf die Krise und auf das eigene Erleben („Selbstaufmerksamkeit") werden vermindert. Dies ist der positive Verlauf, der sehr häufig eine restitutio ad integrum nach sich zieht. Überwiegen jedoch inadäquate Lösungsversuche, kommt es zu einer weiteren Verschlechterung mit der Gefahr der Chronifizierung inadäquater Lösungsstrategien (z.B. Sucht, PTBS etc.) oder gar des Suizids.

Von verschiedenen Autoren (Schnyder, 2000; Ciompi, 1977) wurden die therapeutischen Leitlinien, die sich aus diesem phasenhaften Verlauf von Krisen ableiten, detailliert dargestellt. Diese Leitlinien, die in sechs bis sieben Phasen eingeteilt wurden, haben nicht den Charakter eines manualisierten Therapieprogrammes, sondern können durchaus parallel oder in unterschiedlicher Reihenfolge ablaufen. Sie haben heute wie zum Zeitpunkt ihrer Konzeptualisierung uneingeschränkte therapeutische Gültigkeit. Wir wollen hier jedoch versuchen, die im Verlauf von Kriseninterventionen immer wieder auftauchenden Fragen nach dem richtigen Zeitpunkt für stützende, aufdeckende oder gar konfrontierende Interventionen so weit wie möglich zu klären. Es geht also auch während des eigentlichen Prozesses der Krisenintervention um die differenzielle Indikation einzelner Therapieschritte. Da an anderer Stelle dieses Buches ausführlich auf die Wirkfaktoren in der Therapie eingegangen wird, wollen wir uns hier auf das Nötigste beschränken. Hierbei bewegen wir uns auf unsicherem Boden, weil die Wirkmechanismen der Psychotherapie insgesamt noch nicht ausreichend untersucht sind und insbesondere in ihrer Anwendung auf die Krisenintervention große Forschungslücken bestehen. Wenn wir im Folgenden von therapeutischen Wirkmechanismen sprechen, beziehen wir uns auf die Darstellung von Grawe (1998), in der ein integratives Modell der psychologischen Therapie entworfen ist.

3.1 Differenzielle Indikation spezifischer Therapieschritte im Verlauf der Krisenintervention

In diesem Abschnitt wollen wir uns vornehmlich mit den Begriffen der „Problemaktualisierung", der „Ressourcenaktivierung", der „Problembewältigung" und dem „Verstehen" beschäftigen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dürfte in der Krisenintervention zu Anfang keine weitere Problemaktualisierung notwendig sein, da der Betroffene von der Situation beherrscht wird und das „Problem" geradezu übermäßig aktuell ist. Erst wenn sich im Verlauf erweisen sollte, dass Vermeidung,Verdrängung oder andere Abwehrmechanismen die weitere Therapie verhindern bzw. erschweren, muss die Problemaktualisierung vom Therapeuten aktiv, allerdings empathisch vorgenommen werden. Hierbei ist jedoch große Vorsicht geboten, da die nicht vorhandene Problemaktualisierung darauf hinweisen könnte, dass die rasche Aktualisierung den Patienten überfordert und damit die Krise verschärft und unter Umständen in eine maligne Regression einmünden könnte. Diese Situation ist aber nur in Ausnahmefällen anzutreffen; meist ist das Problem nur allzu präsent und es ist die Aufgabe der Therapie, die als übermächtig empfundene, von subjektivem Versagen gekennzeichnete Lebenswirklichkeit in überschaubare, beherrschbare und insbesondere bewältigbare Untereinheiten zu gliedern. Dies ist ein großer Unterschied zu vielen anderen psychotherapeutischen Situationen, in denen häufig erst ein Problembewusstsein geschaffen werden muss, und stellt die große Chance zur positiven Veränderung dar, die sich in der Krise bietet.

Die Diskussion in der Therapieforschung der vergangenen Jahre hat sich stark mit der Ressourcenorientierung beschäftigt (Willutzki, 2000). Unter Ressourcen versteht man dabei unspezifische, allgemeine Kräfte, gewissermaßen individuelle Quellen der Stärke, die zur Lösung und Bewältigung von Problemen beitragen können. In der Krisenintervention ist dem Patienten der Zugang zu den eigenen Ressourcen in aller Regel versperrt. Es geht daher in besonderem Maße darum, diese Ressourcen wieder zugänglich zu machen. Am Anfang steht die therapeutische Beziehung als wichtige Ressource im Zentrum. Dies muss sich jedoch rasch ändern, da in Anbetracht der kurzen Dauer der therapeutischen Beziehung in der Krisentherapie eine Verlagerung des Schwergewichtes von der therapeutischen Beziehung weg und hin zu den ursprünglichen Ressourcen des Patienten erreicht werden muss. Diese lassen sich überwiegend in der Familie, dem Freundeskreis, der Arbeitsumgebung und/oder den Freizeitaktivitäten ausmachen. Auch die Integration in eine Therapiegruppe bildet unter Umständen eine wichtige Ressource, indem in der Auseinandersetzung mit den anderen Patienten die Möglichkeit gegeben wird, eigene Bewältigungsstrategien mit denen anderer zu vergleichen. In jedem Fall ist eine intensive und rasch erfolgende Zusammenarbeit mit dem relevanten sozialen Umfeld des Patienten unerlässlich und stellt eine weitere Besonderheit der Krisenintervention dar.