Mutig werden mit Til Tiger - Ein Trainingsprogramm für sozial unsichere Kinder

von: Sabine Ahrens-Eipper, Bernd Leplow, Katrin Nelius

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2009

ISBN: 9783840922473 , 168 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 35,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Mutig werden mit Til Tiger - Ein Trainingsprogramm für sozial unsichere Kinder


 

Kapitel 2 Klinische Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie (S. 10-11)

2.1 Das Erscheinungsbild der Sozialen Unsicherheit

Wie macht sich Soziale Unsicherheit nach außen bemerkbar?

Sozial unsichere Kinder sind unauffällig. Sie können Kindergarten und Schule durchlaufen, ohne dass irgendjemand bemerkt, dass sie Ängste oder Probleme haben. Sie können den Leistungsanforderungen genügen (vor allem im schriftlichen Bereich) und gelten als still und zurückhaltend. Sie verursachen in ihrem sozialen Umfeld keinen Leidensdruck, wie es etwa bei aggressiven Kindern der Fall ist (Petermann & Petermann, 1996). Nur sie selbst und eventuell ihre Eltern leiden unter den Folgen der Sozialen Unsicherheit.

Wie wirken sich diese Defizite für die Kinder praktisch aus?

Die Kinder können sich in sozialen Anforderungssituationen nicht behaupten. Sie vermeiden oder verweigern Sozialkontakte. Es fällt ihnen schwer, Freundschaften aufzubauen und zu erhalten. Sie haben Angst, vor einer Gruppe zu sprechen. Sie trauen sich nicht, alleine zur Schule, in Geschäfte oder zur Toilette zu gehen. Sie haben Angst, von anderen negativ bewertet zu werden, sich zu blamieren oder zu versagen. Sie fürchten sich vor Begegnungen mit mehreren Menschen oder mit Fremden. Sie wagen es nicht, eigene Ideen zu äußern, eigene Bedürfnisse zu formulieren, sich gegen andere durchzusetzen, ihre Interessen zu vertreten oder „Nein“ zu sagen. Die Folgen sind fatal: Die Kinder ziehen sich zurück, ihr Handlungsradius wird immer eingeschränkter, ihre Sozialkontakte werden stetig weniger.

Folgen und Begleiterscheinungen Sozialer Unsicherheit

Die betroffenen Kinder zeigen häufig depressive Symptome: Sie fühlen sich wertlos, traurig, ganz anders als alle anderen, unattraktiv oder einsam (Epkins, 1996, Blechman, McEnroe, Carella & Audette, 1986, LaGreca & Stone, 1993, Inderbitzen & Hope, 1995). Kinder mit Hemmungen in sozialen Situationen sind weniger beliebt, haben einen niedrigeren Selbstwert und ein geringeres Verhaltensrepertoire als nicht-ängstliche Kinder (LaGreca et al., 1993, Asendorpf & van Aken, 1994). Die effektive Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen wird durch die Ängste und Hemmungen in sozialen Situationen verhindert.

Dies hat weitreichende Folgen für den Lebensbereich von Kindern im Grundschulalter, da die Kinder sich im Umgang mit Gleichaltrigen, Eltern und Lehrern zunehmend mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen (Burk & Wittchen, 1991, Ahrens-Eipper & Hoyer, 2006), auch wenn dies vom jeweiligen Gegenüber nicht oder nur selten wahrgenommen wird (Kashdan & Herbert, 2001). Selbstunsichere Kinder zeigen geringere Schulleistungen (Burk et al., 1991, Bonney, 1943, Buswell, 1953) und haben größere Lernschwierigkeiten (Amidon&Simon, 1965) als sozial kompetente Kinder. So kann das im Kindesalter relativ stabile Beschwerdebild zu einem zentralen Problem der kindlichen Entwicklung werden.

In älteren Studien wurde angenommen, sozial unsichere Kinder hätten ähnliche Defizite in der sozialen Perspektivübernahme wie aggressive Kinder. Dafür findet die neuere Forschung jedoch keine Belege. Pfingsten (1991) vermutete einen kurvilinearen Zusammenhang zwischen sozialen Perspektivübernahmeprozessen und der Sozialen Kompetenz. Dies würde bedeuten, dass sowohl zu wenig als auch zu viel soziale Perspektivübernahme zu einem Mangel an Sozialer Kompetenz führen. Exzessive Perspektivübernahme ist gerade bei der Durchsetzung der eigenen Rechte ungünstig. Ein sozial unsicheres Kind könnte sich zu viel damit beschäftigen, dass der Andere die Forderung nur ungern erfüllt, und sie deshalb erst gar nicht stellen, während ein aggressives Kind überhaupt nicht auf die Idee kommt, dass es dem Gegenüber unangenehm sein könnte, die Forderung zu erfüllen, und sie deshalb zu oft und zu rigoros stellt. Wie aggressive Kinder vermuten auch sozial unsichere Kinder bei anderen eher feindliche Absichten, was sich jedoch nur in stress- oder konfliktbehafteten Situationen zeigt (Dodge, Murphy & Buchsbaum, 1984). Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Formen der sozialen Inkompetenz „Soziale Unsicherheit“ und „Aggressivität“ sind in Tabelle 1 aufgeführt.

Sozial unsichere Kinder zeigen ungünstige Kontrollerwartungen (Petermann & Petermann, 1996). Beim Entwickeln von alternativen Lösungsmöglichkeiten weisen sozial unsichere Kinder Defizite auf, wenn es um das Aufbauen von Freundschaften geht oder darum, Konflikte zu lösen. Ihre Lösungsvorschläge sind nicht generell qualitativ schlechter, sondern werden es erst nach einem Fehlschlag der ersten Reaktion (Lübben & Pfingsten, 1999). Das Soziale Kompetenzvertrauen, also die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Bewältigungsmöglichkeiten, korreliert negativ mit sozialer Angst und sozialem Rückzug (Connoly, 1989). Unsichere Kinder bemühen sich in Konfliktsituationen weniger als sozial kompetente Kinder um die Aufklärung der tatsächlichen Absichten anderer (Lübben & Pfingsten, 1999). Nach Dodge und Feldmann (1990) treten Beeinträchtigungen in der kognitiven Verarbeitung von sozial unsicheren Kindern auf, sobald die Situation Stress oder Konflikte beinhaltet oder die Reaktionen des Kindes sich nicht sofort als erfolgreich erweisen.

Bei der Kontaktaufnahme verhalten sich sozial unsichere Kinder passiv, gehemmt und zeigen deutliche Vermeidungstendenzen, dies gilt auch für Leistungssituationen (Asendorpf, 1993).