Schematherapie bei Patienten mit aggressivem Verhalten - Ein Therapieleitfaden

von: Neele Reiss, Friederike Vogel, Claudia Knörnschild

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783840926228 , 218 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

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Schematherapie bei Patienten mit aggressivem Verhalten - Ein Therapieleitfaden


 

Kapitel 2 Einführung in die Schematherapie (S: 26-27)

2.1 Hintergrund

Die Schematherapie stellt eine innovative Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie dar (vgl. Kap. 1). Als integratives Therapiekonzept beinhaltet die Schematherapie neben allen kognitiven und verhaltenstherapeutischen Techniken auch Elemente aus der Tiefenpsychologie, der Bindungstheorie, der Gestalttherapie und ist um die emotionsaktivierenden Interventionen als wichtige Therapiebausteine erweitert. In der Schematherapie wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch in seiner Kindheit und Jugend bestimmte Kernbedürfnisse hat, die von wichtigen Bezugspersonen überwiegend erfüllt werden müssen, damit im Erwachsenenalter psychische Stabilität und somit Lebensqualität erreicht werden kann. Im Rückschluss geht J. Young (Young et al., 2003) davon aus, dass besonders Patienten mit chronischen psychischen Erkrankungen einzelne dieser oder alle Kernbedürfnisse dauerhaft nicht oder nicht ausreichend befriedigt bekommen haben. Diese Kernbedürfnisse werden mit den Patienten psychoedukativ und transparent erarbeitet (z. B. Was braucht ein Kind, um gesund und glücklich aufwachsen zu können? Was davon hat der Patient erleben dürfen und was hat er nicht erhalten oder erhalten können?). Zusätzlich stellt ein übergeordnetes Ziel der Schematherapie die Erfüllung der Kernbedürfnisse in der Therapie dar. Dies geschieht im Rahmen der Therapiebeziehung, des „limited reparenting“ (siehe ausführliche Darstellung im Kap. 4). Der Therapeut fungiert hier als Modell eines gesunden Erwachsenen und unterstützt vor allem zu Beginn der Therapie den Patienten bei der Erfüllung seiner Kernbedürfnisse, d. h. sie zu erkennen und sich diese selbst schrittweise aus dem Modus des gesunden Erwachsenen heraus erfüllen zu können.

2.2 Die Kernbedürfnisse nach J. Young

J. Young hat als einen der Grundpfeiler der Schematherapie die im Folgenden definierten Kernbedürfnisse postuliert.

1. Bindung, Sicherheit, Stabilität und Vorhersehbarkeit. Um in psychischer Gesundheit aufwachsen und zu stabilen Persönlichkeiten reifen zu können, benötigen Kinder und Jugendliche nach J. Young eine gute Bindung an Bezugspersonen, die ihnen ein dauerhaftes Gefühl vermitteln, geschützt und geliebt zu werden. Dabei liegt der Fokus neben Liebe, Zuneigung und Schutz vor allem auch auf der Vorhersagbarkeit und Verlässlichkeit von Bezugspersonen. Kinder, die z. B. mit phasenweise sehr liebevollen, aber – aufgrund von psychischer Erkrankung oder Temperamentsfaktoren – nicht dauerhaft emotional verfügbaren Eltern aufwachsen, erhalten zwar manchmal Liebe und Schutz, aber in für sie nicht vorhersagbarer Art und Weise.

2. Autonomie, Kompetenz und Identitätsgefühl. Ein weiteres Grundbedürfnis, welches Kinder und Jugendliche erfüllt bekommen sollten, besteht in der Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, eigene Fehler machen und daraus lernen zu dürfen und somit Zutrauen in eigene Stärken und Entscheidungen entwickeln zu können. Dafür brauchen Kinder Bezugspersonen, die selbst nicht zu ängstlich und dem Kind gegenüber nicht übermäßig protektiv agieren, sondern sich bei ersten eigenen Entscheidungen und Autonomiebestrebungen des Kindes unterstützend verhalten und diese fördern.

3. Freiheit, eigene Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken zu können. Bezugspersonen sollten weiterhin Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass ihre Gefühle wahrgenommen und ausgedrückt werden dürfen. Kinder sollten in einem Umfeld aufwachsen, in dem sie sich zum Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen ermutigt fühlen und diese validiert bekommen. Das bedeutet, dass es für Kinder hilfreich ist, früh zu lernen, dass es normal und erlaubt ist, Gefühle zu empfinden und dass es wichtig ist, diese in einer angemessenen Art und Weise ausdrücken zu lernen.

4. Spontanität und Spiel. J. Young hat mit der Aufnahme von Spiel und Spontanität in die Reihe der Grundbedürfnisse dieser Komponente für das seelisch gesunde Heranwachsen von Kindern eine im Vergleich zu anderen Therapieformen relativ große Bedeutung zugemessen. Viele unserer Patienten mit schweren chronischen psychischen Störungen sind in einem Umfeld aufgewachsen, in dem kein Raum für angemessenes „Kindsein“ mit Spiel, Spaß und Unbeschwertheit möglich war. In der Folge sind Menschen, die dieses Kernbedürfnis nicht ausreichend oder gar nicht erfüllt bekommen haben, oft im Erwachsenenalter auch nicht in der Lage, diese Komponenten in ihr Leben zu integrieren. Da Spaß und Unbeschwertheit aber wesentliche Faktoren zum Aufbau von Lebensqualität sind, wird diesen Komponenten in der Schematherapie ebenfalls viel Raum gegeben (siehe „limited reparenting“ in Kap. 4, Arbeit mit dem Modus des glücklichen Kindes u. a. m.).

5. Realistische Grenzen gesetzt bekommen. Nicht zuletzt können Kinder und Jugendliche nur dann zu gesunden und lebenstüchtigen Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen, wenn sie lernen, dass ihrem Verhalten Grenzen gesetzt sind und sie die Grenzen anderer Menschen respektieren lernen. Hierzu gehört, sich an Regeln zu halten, aber auch Langeweile und Frustration ertragen zu lernen.
Selbstverständlich müssen diese Kernbedürfnisse nicht zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation erfüllt werden, um ein gesundes Heranwachsen zu gewährleisten. Weiterhin gibt es nur wenige Patienten, bei denen nur eines der fünf genannten Kernbedürfnisse nicht, alle anderen aber zufriedenstellend befriedigt worden sind. Hilfreich ist es, mit den Patienten zu erarbeiten, welche Kernbedürfnisse sie nicht erfüllt bekommen haben und dass sie ein Recht gehabt hätten, diese erfüllt zu bekommen. Dieser Teil schematherapeutischer Psychoedukation hat häufig auch eine starke emotionsaktivierende Komponente, die einen Trauerprozess anstößt, der für den therapeutischen Prozess hilfreich ist (z. B. Trauer um verlorene Kindheitserfahrungen, die für den Patienten wichtig gewesen wären).

2.3 Die Schemata

2.3.1 Die Definition eines maladaptiven Schemas

Ein maladaptives Schema (im Folgenden nur kurz als Schema bezeichnet) nach J. Young stellt ein übergeordnetes Lebensthema oder Lebensmuster dar, das ein Mensch im Laufe seines Lebens erwirbt, sich dem Schema entsprechend verhält und sich dieses dadurch kontinuierlich weiter entwickelt und verfestigt. Dadurch wird das Schema zu einer eigenen subjektiven Wahrheit für den Menschen, durch die er sich selbst, die Beziehung zu anderen und die Umgebung wahrnimmt. Ein Schema entsteht durch Bedürfnisfrustration in Kindheit und Jugend, d. h. durch die dauerhafte Nichterfüllung einzelner oder mehrerer Kernbedürfnisse. Wir sprechen in diesem Buch nur über maladaptive Schemata, da diese für unsere Patienten im Rahmen der Schematherapie relevant sind, wenngleich alle Menschen auch adaptive Schemata haben, die ihnen ihr Leben erleichtern. Es handelt sich bei einem Schema um ein Konglomerat aus Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen und Körperwahrnehmungen. Als neurobiologisches Korrelat dafür sind bestimmte neuronale Aktivierungen anzunehmen, die durch bestimmte Stimuli besonders aktiviert werden. Das gesamte Schemakonzept stellt ein heuristisches Modell dar, das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt werden kann.

Nach J. Young entstehen stark ausgeprägte Schemata in Kindheit und Jugend durch immer wiederkehrende oder dauerhafte Frustration von Kernbedürfnissen, um sich dann durch bestimmte Umgangsweisen mit diesem Schema (den Bewältigungsstilen der Schemata) im Lauf des Lebens weiter zu entwickeln. Daraus leitet sich das übergeordnete Ziel der Schematherapie ab, die Kernbedürfnisse des Patienten zu erfüllen bzw. ihn dazu anzuleiten, diese sich selbst erfüllen zu lernen. Dies geschieht durch langfristige Veränderung der Schemata, stets unter Berücksichtigung aktueller Modi (vgl. Kap. 2.4).

2.3.2 Die Definition der einzelnen Schemata

18 Schemata sind von J. Young definiert worden, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die einzelnen Schemadefinitionen nicht trennscharf sind, d. h. es gibt zahlreiche Überlappungen zwischen verschiedenen Schemata. Patienten mit schweren chronischen psychischen Störungen zeigen oft sehr viele, z. T. sogar fast alle der 18 Schemata in starker Ausprägung.