Musiktherapie mit Kindern

von: Christine Plahl, Hedwig Koch-Temming (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2008

ISBN: 9783456945897 , 424 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 32,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Musiktherapie mit Kindern


 

2.2 Geschichte der Musiktherapie (S. 30-31)

Musiktherapie als eigenständige Disziplin in den Gesundheitsberufen ist relativ jung: Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie sich vor allem in Nordamerika und in den westlichen Ländern Europas entwickelt. Ihre Wurzeln allerdings reichen weit in die Menschheitsgeschichte zurück und zeigen, dass Musik in vielen Kulturen und Epochen verwendet wurde, um Menschen zu heilen und gesund zu erhalten. Musik übt seit jeher einen starken Einfluss auf die Menschen aus und die verändernde Wirkung von Musik – gleichermaßen anregend wie beruhigend – wurde schon früh beobachtet und dokumentiert: Die ältesten überlieferten Aufzeichnungen, die die therapeutische Wirkung von Musik auf den Körper und die Psyche des Menschen beschreiben, sind ägyptische Papyrusrollen und chinesische Dokumente, die beide aus der Zeit um 1500 v. Chr. stammen (West, 2000). Das häufig angeführte Beispiel aus dem 1. Buch Samuel des Alten Testaments, in dem David mit seinem Harfenspiel König Saul von dessen Depression heilt, ist etwa um 1050 v. Chr. einzuordnen.

Musik wurde und wird in einigen Kulturen noch immer genutzt, um mit Göttern und Ahnen in Verbindung zu treten oder um die Stimmung und das Verhalten der Menschen gezielt zu beeinflussen. Eine beispielsweise durch Krankheit verloren gegangene Harmonie soll durch die musikalische Kommunikation mit Ahnen und Geistern wieder hergestellt werden. Um den zu heilenden Patienten zu stabilisieren, werden Heilungszeremonien mit Trommeln und Rasseln zu Tänzen und Gesängen durchgeführt. Da die emotionale und soziale Unterstützung der Gruppe ein wesentlicher Faktor für die Genesung ist, werden Familien- und Gemeinschaftsmitglieder in das Ritual mit einbezogen. Entscheidend für die heilende Wirkung ist allerdings, dass die jeweilige Bedeutung der Musik von den beteiligten Menschen verstanden und akzeptiert wird. Es gibt daher keine «Heilmusik », die auf alle Menschen gleichermaßen wirkt (Touma, 1982, Suppan, 1984).

2.2.1 Heilen mit Musik

Musiktherapeutische Praxis war stets eine Verbindung von künstlerischem und medizinisch-magischem Handeln. Entsprechend wurde die heilende Wirkung von Musik im Laufe der Menschheitsentwicklung je nach Stand des wissenschaftlich- zivilisatorischen Fortschritts unterschiedlich erklärt. Bereits in der Antike lassen sich zwei Erklärungsrichtungen erkennen, die auch in der Folge prägend waren. Für die Pythagoreer im 4. Jahrhundert v. Chr. war die Zahl das ordnende Prinzip allen Seins, und Musik war Ausdruck eines geordneten Kosmos. Da nach ihrer Vorstellung Seele und Körper des Menschen von derselben Zahlenordnung bestimmt waren wie die musikalischen Intervalle, erschienen ihnen Mensch und Musik als wesensverwandt. So kam der Musik die Aufgabe zu, mit Hilfe der ihr innewohnenden Harmonie die gestörte psychophysische Ordnung des Menschen wiederherzustellen: Die ordnende Macht der Musik konnte unmittelbar Gedanken, Gefühle und körperliche Gesundheit beeinflussen. Die Harmonie in der Musik erzeugte die Harmonie im Menschen.

Die Pythagoreer pflegten den Brauch, sich morgens nach dem Aufstehen durch Singen und Spielen auf der Lyra wach und präsent für den Tag zu machen. Abends, bevor sie sich schlafen legten, befreiten sie sich auf dieselbe Weise von den Sorgen des Tages, um sich so auf angenehme und prophetische Träume vorzubereiten. Von dem Pythagoreer Kleinias von Tarent wird überliefert, dass er stets die Lyra gespielt habe, wenn er wütend war. Wurde er darauf angesprochen, so antwortete er: «Ich beruhige mich» (West, 2000).

Ein alternativer Erklärungsversuch zur Wirkung von Musik wurde von Aristoteles (384–324 v. Chr.) in seiner Katharsislehre formuliert. Für ihn war neben den ordnenden und harmonisierenden Kräften der Musik vor allem ihr emotional bewegendes Potenzial therapeutisch relevant. Er war davon überzeugt, dass ein durch Musik erzeugter Affekt alle anderen Affekte vertreiben könne, wenn er nur stark genug sei. Durch ekstatische Musik und ekstatischen Tanz soll der krankmachende Affekt gesteigert werden und sich auf dem Höhepunkt als Katharsis lösen und entladen. Der krankhaft überschwängliche Affekt, der häufig in orgiastisch- ekstatischen Kulten entstand, wird durch Musik weiter intensiviert, bis er sich schließlich selbst verzehrt (Möller, 1971).

Aristoteles erklärt die läuternde Wirkung von Musik folgendermaßen: «An den heiligen Melodien aber sehen wir, daß diese Leute, wenn sie Melodien in sich aufnehmen, welche die Seele berauschen (exorgiázein), wieder zu sich gebracht werden, wie wenn sie eine Heilung und Reinigung (kátharsis) erfahren hätten. Auf die nämliche Weise müssen auch die zu Mitleid, Furcht oder zu irgendeinem Affekt geneigten beeinflußt werden und auch jeder andere, soweit von jedem Affekt etwas auf seinen Teil kommt, so daß alle Menschen fähig sind, eine solche Reinigung und lustvolle Erleichterung des Gemüts zu empfinden» (Aristoteles, Politik, VIII, Kapitel 7, 1341b zit. nach Simon, 1975, 136).