Die diskrete Arbeit der Transformation - Soziologische Fallstudien zum Leben psychisch kranker Menschen in Fremdfamilien

von: Christine Schönberger

Hogrefe AG, 2007

ISBN: 9783456943374 , 336 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 26,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die diskrete Arbeit der Transformation - Soziologische Fallstudien zum Leben psychisch kranker Menschen in Fremdfamilien


 

1. Entwicklung der psychiatrischen Familienpflege in Deutschland (S. 25-26)

Bis heute konnte sich im Arbeitsfeld der Familienpflege keine einheitliche Terminologie durchsetzen. Einige Familienpflegeeinrichtungen verzichten mit gutem Grund auf den Zusatz «psychiatrisch», sie sprechen lieber vombetreuten oder begleiteten Leben in Gastfamilien. Das Dilemma zwischen sperriger Präzision (z. B. «JungeMenschen in Gastfamilien» JuMeGa in Ravensburg) und eingängiger Prägnanz begleitet die Familienpflege seit ihrer Wiederbelebung in den 1980er-Jahren. Ob von «zweiter Familie», «Pflegefamilie», «Aufnahmefamilie » oder «Gastfamilie», von Bewohner oder «Gastbewohner» gesprochen wird, hat semantisch und praktisch jedoch sehr unterschiedliche Implikationen. Dabei kommt der Zusatz «Gast» der Realität im Alltag zwar sehr nahe, aber auch er umfasst nicht alle Facetten. Bewohner sind weit mehr und längere Zeit als normale Gäste auf Zuwendung, Solidarität und Fürsorge angewiesen, und die Familien sind bereit, sie lange Zeit und einseitig zu geben. Die zeitliche Befristung des Zusammenlebens findet sich in der Bezeichnung «Gast»16 ebenso wieder wie die mit diesem Status verbundene besondere Aufmerksamkeit. Im Folgenden werden die Begriffe «Gastfamilie» und «(Gast)Bewohner», «psychiatrische Familienpflege» und «Familienpflege» synonymverwendet. Psychiatrische Familienpflege ist eine beschützte Wohn- und Lebensform für psychisch und mehrfach behinderte Menschen, deren Begleitung und Versorgung nichtverwandte Familien gegen Entgelt und gestützt von einem Fachteam leisten. Sie ist das einzige psychiatrische Versorgungsangebot, bei dem die Klienten eine Wahlmöglichkeit der Betreuungspersonen haben. Das Matching von Familien und Bewohnern ist dementsprechend ein komplexer und jeweils hochindividueller Vorgang.

Die psychiatrische Familienpflege nahm ihren Ausgangspunkt in dem belgischen Ort Geel,17 dessen Legende ins 6. Jahrhundert zurückreicht. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war Geel einWallfahrtsort für Geisteskranke, schon 1789 sollen dort mehr als 500 Irre aller Art in Familien gelebt haben. Offiziell gilt das Jahr 1300 als Beginn der dortigen Familienpflege. Mitte des 19. Jahrhunderts ging die Versorgung von der bis dahin kirchlichen in die kommunale Zuständigkeit über. Bis heute hat sich das Zusammenleben18 von psychisch Kranken mit Pflegefamilien erhalten, derzeit sind dies rund 550 Patienten.