Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki - Roman

von: Haruki Murakami

DuMont Buchverlag , 2014

ISBN: 9783832187736 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki - Roman


 

2

Es geschah also in seinem zweiten Studienjahr. In jenem Sommer trat eine radikale Veränderung in Tsukuru Tazakis Leben ein. Wie die Flora vor und hinter einem steilen Bergkamm eine ganz und gar andere sein kann.

Kaum hatten die Ferien begonnen, war er wie immer mit kleinem Gepäck in den Shinkansen gestiegen. In Nagoya angekommen, rief er sofort seine Freunde an, erreichte jedoch keinen von ihnen. Sicher waren sie gemeinsam unterwegs. Er hinterließ bei allen eine Nachricht, schlenderte allein durch die Stadt und schlug die Zeit tot, indem er sich einen Film anschaute, der ihn nicht besonders interessierte. Nachdem er mit seiner Familie zu Abend gegessen hatte, rief er nochmals seine Freunde an. Es war noch keiner von ihnen zurück.

Am Vormittag des folgenden Tages rief er erneut an, aber auch diesmal traf er keinen von den vieren an. Wieder hinterließ er die Nachricht, sie mögen ihn doch bitte zurückrufen. Die jeweiligen Familienmitglieder versprachen, es auszurichten. Doch in ihrem Tonfall schwang etwas mit, das ihn beunruhigte. Am ersten Tag war es ihm nicht so aufgefallen, aber ihre Stimmen klangen anders. Als vermieden sie es, freundlich zu ihm zu sein, oder als könnten sie gar nicht schnell genug auflegen. Besonders Shiros zwei Jahre ältere Schwester verhielt sich viel schroffer als sonst. Tsukuru hatte sich immer gut mit ihr verstanden (sie wirkte gar nicht wie eine ältere Schwester und war sehr hübsch) und häufig die Gelegenheit genutzt, ein bisschen mit ihr zu flirten, wenn er Shiro anrief. Zumindest hatten sie sich immer freundlich begrüßt. Aber jetzt legte sie hastig und geradezu angewidert auf. Nachdem er ein weiteres Mal bei allen angerufen hatte, kam Tsukuru sich vor, als trüge er ein gefährliches Virus in sich.

Ihm wurde klar, dass etwas nicht stimmte. In seiner Abwesenheit musste irgendetwas vorgefallen sein, das die anderen auf Distanz hielt. Etwas Unangenehmes. Aber so sehr er auch grübelte, ihm fiel nicht ein, was es gewesen sein könnte.

Er verspürte einen anhaltenden Druck auf der Brust, als stecke dort etwas fest, das er weder ausspucken noch herunterschlucken konnte. Er ging den ganzen Tag nicht aus dem Haus und wartete, dass das Telefon klingelte. Er versuchte, sich zu beschäftigen, konnte sich aber auf nichts konzentrieren. Er hatte den vieren wiederholt ausrichten lassen, dass er wieder in Nagoya sei. Normalerweise hätten seine Freunde ihn sofort angerufen und mit Neuigkeiten überschüttet. Doch das Telefon schwieg hartnäckig.

Gegen Abend überlegte er, ob er von sich aus noch einmal anrufen sollte. Aber dann ließ er es. In Wirklichkeit waren die anderen bestimmt zu Hause, hatten sich aber verleugnen lassen, weil sie nicht mit ihm sprechen wollten. »Wenn Tsukuru Tazaki anruft, sagt, ich bin nicht da«, hatten sie ihre Familien angewiesen. Deshalb hatten diese auch so unbehaglich geklungen.

Aber warum?

Er konnte sich keinen Grund vorstellen. Das letzte Mal gesehen hatten sie sich während der Feiertage im Mai. Als Tsukuru wieder nach Tokio zurückfuhr, hatten die vier ihn sogar noch zum Bahnhof gebracht und ihm ausgiebig nachgewinkt wie einem Soldaten, der an die Front zog.

Danach hatte Tsukuru mehrere Briefe an Aos Adresse geschrieben. Shiro hatte manchmal Probleme mit dem Computer, daher schrieb er klassische Briefe und verschickte sie per Post. Ao übernahm die Rolle des Vermittlers und leitete Tsukurus Briefe an die anderen Mitglieder der Gruppe weiter. So konnte er es sich sparen, vier ähnliche Briefe zu verfassen. Meist schrieb er über sein Leben in Tokio. Was er gesehen, welche Erfahrungen er gemacht, was er dabei empfunden hatte. Und dass er sich bei allem, was er tat, wünschte, seine Freunde könnten dabei sein, und so empfand er es wirklich. Ansonsten schrieb er nichts von Bedeutung.

Auch die vier hatten immer wieder Briefe an Tsukuru geschrieben, in denen sie nie irgendetwas Negatives erwähnten und nur ausführlich ihre gemeinsamen Unternehmungen in Nagoya schilderten. Offenbar genossen sie das Studentenleben in ihrer Heimatstadt in vollen Zügen. Ao hatte einen gebrauchten Honda Accord gekauft (die Rückbank sehe aus wie eine Hundetoilette, so verschmiert sei sie) und sie hatten einen Ausflug an den Biwa-See gemacht. Fünf Leute passten bequem in den Wagen (solange keiner von ihnen zu fett sei). Schade, dass Tsukuru nicht dabei gewesen sei. Aber sie freuten sich schon auf das Wiedersehen im Sommer. So die letzte Botschaft. Sie war ihm aufrichtig erschienen.

In dieser Nacht konnte er nicht schlafen. Er war viel zu aufgeregt, und zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Das heißt, eigentlich war es nur ein Gedanke, der verschiedene Formen annahm. Wie jemand, der die Orientierung verloren hat, bewegte Tsukuru sich unablässig im Kreis und gelangte immer wieder an seinen Ausgangspunkt. Bald steckte er fest und konnte weder vor noch zurück. Es war wie bei einem Schraubenkopf ohne Schlitz – er wusste nicht mehr, wo er noch ansetzen sollte.

Erst gegen vier Uhr morgens schlief er ein, wachte jedoch schon um kurz nach sechs wieder auf. Essen konnte er nichts. Er trank ein Glas Orangensaft, das einen leichten Brechreiz hervorrief. Seine Familie zeigte sich besorgt über seine plötzliche Appetitlosigkeit, doch er redete sich mit einer milden Magenverstimmung heraus.

Wieder blieb er den ganzen Tag zu Hause. Lag neben dem Telefon und las. Oder besser gesagt, versuchte zu lesen. Kurz nach Mittag rief er wider besseres Wissen noch einmal bei seinen Freunden an. Er ertrug es einfach nicht länger, in dieser Ungewissheit darauf zu warten, dass jemand sich bei ihm meldete.

Das Ergebnis war dasselbe: Man richtete ihm mit teilnahmsloser, bedauernder oder neutraler Stimme aus, der Betreffende sei nicht zu Hause. Tsukuru bedankte sich knapp, aber höflich und legte auf. Diesmal hinterließ er keine Nachrichten. Genau wie er diesen Zustand auf die Dauer nicht ertrug, würden seine Freunde es vielleicht auch nicht ertragen, sich weiter verleugnen zu lassen. Oder zumindest würden ihre Familien, die das Telefon beantworten mussten, bald den Dienst verweigern. Tsukuru rechnete damit, dass irgendwann eine Reaktion eintreten würde, wenn er immer wieder anrief.

Wie erwartet erhielt er gegen acht Uhr abends einen Anruf von Ao.

»Es tut mir leid, aber ich muss dich bitten, nicht mehr anzurufen. Keinen von uns«, sagte Ao übergangslos. Kein »Hallo«, kein »Wie geht’s?«, kein »Lange nicht gesehen«. Die Einleitung war nur eine Floskel.

Tsukuru schluckte, wiederholte den Satz im Kopf und überlegte hastig. Er versuchte, eine Gefühlsregung aus Aos Tonfall herauszuhören. Doch was er sagte, klang nicht anders als eine offizielle Bekanntmachung und bot nicht den geringsten Zugang zu seiner Gefühlslage.

»Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch anrufe, werde ich es natürlich nicht mehr tun«, erwiderte Tsukuru fast automatisch. Er hatte es unbeeindruckt und kühl sagen wollen, aber seine Stimme klang wie die eines Fremden. Die Stimme von jemandem, der irgendwo in einer fernen Stadt lebte und dem er noch nie begegnet war (und auch nie begegnen würde).

»Wir bitten darum«, sagte Ao.

»Ich habe nicht die Absicht, mich aufzudrängen«, sagte Tsukuru.

Ao gab weder einen Seufzer noch einen zustimmenden Laut von sich.

»Ich will nur den Grund wissen.«

»Den wirst du von mir nicht erfahren«, sagte Ao.

»Von wem dann?«

Auf der anderen Seite der Leitung herrschte kurz Schweigen. Ein Schweigen wie eine dicke Mauer. Ein leichtes Schnauben ertönte. Tsukuru wartete, während er Aos flache, fleischige Nase vor sich sah.

»Kannst du dir den Grund nicht selbst denken?«, fragte dieser endlich.

Tsukuru war einen Moment lang sprachlos. Was redete Ao da? Was sollte er sich selbst denken? Was denn noch denken? Er war ja vor lauter Grübeln schon kaum noch er selbst.

»Schade, dass es so gekommen ist«, sagte Ao.

»Sind alle dieser Meinung?«

»Ja, alle finden das schade.«

»Komm schon, sag, was war los?«, fragte Tsukuru.

»Frag dich doch mal selbst«, sagte Ao. Seine Stimme zitterte leicht vor Zorn und Traurigkeit. Aber das dauerte nur einen Moment. Tsukuru legte auf, bevor ihm eine Antwort einfiel.

»Und mehr hat er nicht gesagt?«, fragte Sara.

»Es war ein ganz kurzes Gespräch. Genauer kann ich es nicht widergeben«, sagte Tsukuru.

Sie saßen an einem kleinen Bartisch.

»Konntest du danach noch mal mit ihm oder einem von den anderen sprechen?«, fragte Sara.

Tsukuru schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sara blickte ihm forschend ins Gesicht. Als bemühe sie sich, etwas zu erkunden, das nicht den Gesetzen der Vernunft entsprach.

»Mit gar keinem?«

»Ich habe keinen von ihnen je wiedergesehen.«

»Aber wolltest du denn nicht wissen, warum sie dich so plötzlich aus der Gruppe ausgestoßen haben?«

»Tja, wie soll ich sagen, damals war mir alles ziemlich egal. Sie haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, und ich durfte nicht mehr rein. Den Grund dafür haben sie mir nicht gesagt. Was konnte ich schon tun, wenn sie es alle so wollten?«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Sara, und man sah es ihr an. »Es kann doch ein Missverständnis gewesen sein. Womöglich hättest du es sogar aufklären können. Hast du das nicht bedauert? Deine besten Freunde zu verlieren, vielleicht wegen irgendeiner Lappalie?«

Sie hatte ihren Mojito ausgetrunken. Sie gab dem Bartender ein Zeichen, ließ sich die Weinkarte geben und bestellte einen Cabernet Sauvignon aus dem Napa Valley. Tsukuru hatte seinen Highball erst zur Hälfte geleert. Das Eis war geschmolzen, das Glas beschlagen und der Deckel nass und aufgequollen.

»Zum ersten Mal in meinem Leben...