Das Land der weißen Wolke - Drei Neuseelandromane in einem Band

von: Sarah Lark

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838749921 , 2488 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Das Land der weißen Wolke - Drei Neuseelandromane in einem Band


 

1


Die anglikanische Kirche in Christchurch, Neuseeland, sucht ehrbare, in Haushalt und Kindererziehung bewanderte junge Frauen, die interessiert sind, eine christliche Ehe mit wohl beleumundeten, gut situierten Mitgliedern unserer Gemeinde einzugehen.

Helens Blick blieb kurz an der unscheinbaren Anzeige auf der letzten Seite des Kirchenblättchens haften. Die Lehrerin hatte das Heftchen kurz überflogen, während ihre Schüler sich still mit einer Grammatikübung beschäftigten. Lieber hätte Helen ein Buch gelesen, doch Williams ständige Fragen rissen sie ständig aus der Konzentration. Auch jetzt wieder hob sich der braune Wuschelkopf des Elfjährigen von seiner Arbeit.

»Im dritten Absatz, Miss Davenport, heißt es da das oder dass?«

Helen schob ihre Lektüre seufzend beiseite und erklärte dem Jungen zum x-ten Mal in dieser Woche den Unterschied zwischen Relativ- und Konsekutivsatz. William, der jüngere Sohn ihres Arbeitgebers Robert Greenwood, war ein niedliches Kind, aber nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet. Er brauchte bei jeder Aufgabe Hilfe, vergaß Helens Erklärungen schneller, als diese sie geben konnte, und verstand sich eigentlich nur darauf, rührend hilflos dreinzuschauen und Erwachsene mit süßer Knabensopranstimme zu umgarnen. Lucinda, Williams Mutter, fiel immer wieder darauf herein. Wenn der Junge sich an sie schmiegte und irgendeine kleine gemeinsame Unternehmung vorschlug, strich Lucinda regelmäßig alle Nachhilfestunden, die Helen ansetzte. Deshalb konnte William bis jetzt nicht flüssig lesen, und schon einfachste Rechtschreibübungen überforderten ihn hoffnungslos. Daran, dass der Junge ein College wie Eaton oder Oxford besuchte, wie sein Vater es sich erträumte, war nicht zu denken.

Der sechzehnjährige George, Williams älterer Bruder, machte sich gar nicht erst die Mühe, Verständnis zu heucheln. Er verdrehte vielsagend die Augen und wies auf eine Stelle im Lehrbuch, in der genau der Satz als Beispiel stand, an dem William jetzt schon seit einer halben Stunde herumtüftelte. George, ein schlaksiger, hoch aufgeschossener Junge, war mit seiner Übersetzungsaufgabe aus dem Lateinischen bereits fertig. Er arbeitete stets schnell, wenn auch nicht immer fehlerfrei; die klassischen Fächer langweilten ihn. George konnte es gar nicht erwarten, eines Tages in die Import-Export-Firma seines Vaters einzusteigen. Er träumte von Reisen in ferne Länder und Expeditionen zu den neuen Märkten in den Kolonien, die sich unter der Herrschaft der Königin Viktoria beinahe stündlich erschlossen. George war zweifellos zum Kaufmann geboren. Er bewies schon jetzt Verhandlungsgeschick und wusste seinen beträchtlichen Charme gezielt einzusetzen. Mitunter gelang es ihm, damit sogar Helen einzuwickeln und die Schulstunden zu verkürzen. Einen solchen Versuch machte er auch heute, nachdem William endlich verstanden hatte, worum es ging – oder wenigstens, wo er die Lösung abschreiben konnte. Helen griff daraufhin nach Georges Heft, um seine Arbeit zu kontrollieren, doch der Junge schob es provozierend beiseite.

»Oooch, Miss Davenport, wollen Sie das jetzt wirklich noch mal durchkauen? Der Tag ist doch viel zu schön zum Lernen! Spielen wir lieber eine Runde Krocket … Sie sollten an Ihrer Technik arbeiten. Sonst stehen Sie beim Gartenfest wieder nur herum, und keiner der jungen Herren bemerkt Sie. Dann machen Sie niemals Ihr Glück durch eine Heirat mit einem Grafen und müssen bis ans Ende Ihrer Tage hoffnungslose Fälle wie Willy unterrichten!«

Helen verdrehte die Augen, warf einen Blick aus dem Fenster und runzelte beim Anblick der dunklen Wolken die Stirn.

»Netter Einfall, George, aber es ziehen Regenwolken auf. Bis wir hier aufgeräumt haben und im Garten sind, werden sie sich genau über unseren Köpfen entleeren, und das dürfte mich kaum anziehender für adelige Herren machen. Wie kommst du eigentlich auf den Gedanken, ich hätte diesbezügliche Absichten?«

Helen versuchte, eine betont desinteressierte Miene aufzusetzen. Das konnte sie sehr gut: Wenn man als Gouvernante in Londoner Familien der Oberschicht arbeitete, lernte man als Erstes, das eigene Mienenspiel zu beherrschen. Helens Rolle bei den Greenwoods war weder die eines Familienmitglieds noch einer gewöhnlichen Angestellten. Sie nahm an den gemeinsamen Mahlzeiten und oft auch an der Freizeitgestaltung der Familie teil, hütete sich aber davor, ungefragt eigene Meinungen zu äußern oder sich anderweitig auffällig zu verhalten. Deshalb konnte auch keine Rede davon sein, dass Helen sich bei Gartenfesten unbeschwert unter die jüngeren Gäste mischte. Stattdessen hielt sie sich abseits, plauderte höflich mit den Damen und beaufsichtigte unauffällig ihre Zöglinge. Natürlich streiften ihre Blicke dabei gelegentlich die Gesichter der jüngeren männlichen Gäste, und manchmal gab sie sich einem kurzen, romantischen Tagtraum hin, in dem sie mit einem gut aussehenden Viscount oder Baronet durch den Park seines Herrenhauses spazierte. Aber das konnte George doch unmöglich bemerkt haben!

George zuckte die Schultern. »Na, immerhin lesen Sie Heiratsanzeigen!«, sagte er frech und wies mit versöhnlichem Grinsen auf das Kirchenblättchen. Helen schalt sich selbst, weil sie es offen neben ihrem Pult hatte liegen lassen. Natürlich hatte der gelangweilte George hineingesehen, während sie William auf die Sprünge geholfen hatte.

»Und Sie sind doch sehr hübsch«, schmeichelte George. »Warum sollten Sie keinen Baronet heiraten?«

Helen verdrehte die Augen. Sie wusste, dass sie George tadeln sollte, doch sie war eher belustigt. Wenn der Knabe so weitermachte, würde er es zumindest bei den Damen weit bringen, und auch in der Geschäftswelt würde man seine geschickten Schmeicheleien zu schätzen wissen. Doch ob es ihm in Eaton weiterhalf? Außerdem hielt Helen sich für immun gegen solch plumpe Komplimente. Sie wusste, dass sie nicht im klassischen Sinne schön war. Ihre Züge waren ebenmäßig, aber wenig auffällig; ihr Mund war ein bisschen zu schmal, ihre Nase zu spitz, und ihre ruhigen grauen Augen blickten ein wenig zu skeptisch und entschieden zu gelehrt in die Welt, um das Interesse eines reichen, jungen Lebemanns zu wecken. Helens schönstes Attribut war ihr hüftlanges, glattes und seidiges Haar, dessen sattes Braun leicht ins Rötliche spielte. Vielleicht hätte sie damit Aufsehen erregen können, hätte sie es offen im Wind wehen lassen, wie manche Mädchen es bei den Picknicks und Gartenfesten taten, die Helen im Gefolge der Greenwoods besuchte. Die mutigeren der jungen Ladys erklärten beim Spaziergang mit ihren Bewunderern schon mal, ihnen sei zu heiß, und nahmen den Hut ab, oder sie taten so, als wehte der Wind ihr Hütchen weg, wenn sie sich von einem jungen Mann über den See im Hydepark rudern ließen. Dann schüttelten sie ihr Haar, befreiten es wie zufällig von Bändern und Spangen und ließen die Männer die Pracht ihrer Locken bewundern.

Helen hätte sich nie dazu überwinden können. Als Tochter eines Pfarrers war sie streng erzogen und trug ihr Haar geflochten und aufgesteckt, seit sie ein kleines Mädchen war. Hinzu kam, dass sie früh hatte erwachsen werden müssen: Ihre Mutter war gestorben, als Helen zwölf war, worauf der Vater seine älteste Tochter kurzerhand mit der Führung des Haushalts und der Erziehung der drei jüngeren Geschwister beauftragt hatte. Reverend Davenport interessierte sich nicht für Probleme zwischen Küche und Kinderzimmer, ihm lagen allein die Arbeit für seine Gemeinde und die Übersetzung und Auslegung religiöser Schriften am Herzen. Helen hatte er immer nur dann mit seiner Aufmerksamkeit bedacht, wenn sie ihm dabei Gesellschaft leistete – und nur durch die Flucht in Vaters Studierzimmer unter dem Dach konnte sie dem lautstarken Treiben in der Wohnung der Familie entgehen. So hatte es sich fast von selbst ergeben, dass Helen die Bibel schon auf Griechisch las, als ihre Brüder gerade die erste Fibel durchackerten. In ihrer gestochen schönen Handschrift schrieb sie die Predigten ihres Vaters ab und kopierte seine Artikelentwürfe für das Mitteilungsblatt seiner großen Gemeinde in Liverpool. Viel Zeit für sonstige Zerstreuungen fand sich da nicht. Während Susan, Helens jüngere Schwester, Wohltätigkeitsbasare und Kirchenpicknicks hauptsächlich dazu nutzte, junge Honoratioren der Gemeinde kennen zu lernen, half Helen beim Verkauf der Waren, buk Torten und schenkte Tee aus. Das Ergebnis war vorauszusehen: Susan heiratete gleich mit siebzehn den Sohn eines bekannten Arztes, während Helen nach dem Tod ihres Vaters gezwungen war, eine Stelle als Hauslehrerin anzunehmen. Von ihrem Gehalt unterstützte sie zudem das Jura- und Medizinstudium ihrer zwei Brüder. Das Erbe ihres Vaters reichte nicht aus, den Jungen eine angemessene Ausbildung zu finanzieren, zumal beide sich keine allzu große Mühe gaben, das Studium zu einem raschen Abschluss zu bringen. Mit einem Anflug von Zorn dachte Helen daran, dass ihr Bruder Simon erst letzte Woche wieder durch eine Prüfung gerasselt war.

»Baronets heiraten normalerweise Baronessen«, antwortete sie jetzt ein wenig ungehalten auf Georges Frage. »Und was das hier angeht …«, sie wies auf das Kirchenblatt, »habe ich den Artikel gelesen, nicht die Anzeige.«

George enthielt sich einer Antwort, grinste aber vielsagend. Der Artikel handelte von Wärmeanwendung bei Arthritis. Sicher hochinteressant für die älteren Mitglieder der Gemeinde, aber Miss Davenport litt bestimmt noch nicht unter Gelenkschmerzen.

Immerhin schaute seine Lehrerin jetzt auf die Uhr und kam dabei zu dem Schluss, den Nachmittagsunterricht doch schon zu beenden. In einer knappen Stunde würde das Abendessen aufgetragen. Und wenn George auch höchstens fünf Minuten brauchte, sich fürs...