Herzgrab - Thriller

von: Andreas Gruber

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641118945 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Herzgrab - Thriller


 

Toskana, Samstag, 24. April

Ohne anzuklopfen, betrat Zenobia das Zimmer. Teresa hätte es wissen müssen! Mutter hatte ihre Privatsphäre noch nie respektiert. Warum hätte sich das in den letzten fünfzehn Jahren ändern sollen?

»Draußen warten über hundert Gäste, und du stehst hier seelenruhig herum, hörst Radio und bist noch nicht mal angezogen!« Zenobias kühler Blick sprach Bände.

Teresa konnte es kaum glauben. Nach so langer Zeit waren das die Begrüßungsworte ihrer Mutter! Keine Umarmung, kein Kuss. Aber eigentlich, gestand sie sich ein, hätte sie das auch nicht gewollt.

Sie schlang den Frotteebademantel enger und verknotete den Gürtel. »Hallo, Mama«, sagte sie, während sie ein Handtuch um ihr nasses Haar wickelte.

Zenobia reagierte nicht. Ihr bodenlanges schwarzes Kostüm raschelte, als sie durch den Raum schritt. »Ich habe dich hergebeten, um deine Brüder zu verabschieden, aber du nutzt jede Gelegenheit, um mich vor den Gästen zu blamieren.«

Matteo und Lorenzo konnten ihr gestohlen bleiben. Teresa war aus einem anderen Grund hergekommen. Nachdem der Detektiv, den Monica und sie angeheuert hatten, so kläglich versagt hatte, wollte sie nun selbst etwas über Salvatores Verschwinden erfahren. Dafür gab es keinen besseren Ort als San Michele, wo alles begonnen hatte.

Zenobias Blick fiel auf das Bett, wo Teresas offener Koffer lag. »Es war dir offensichtlich nicht möglich, früher zu kommen?«

Typisch Zenobia! Unterstellungen und spitzfindige Fragen, die eigentlich Anschuldigungen waren. Teresa hätte nie gedacht, dass sie sich mit knapp vierzig Jahren von ihrer Mutter noch wie ein Kind behandeln lassen musste. »Mama, mein Job.«

»Ach was«, unterbrach Zenobia sie. »Hier hättest du eine bessere Arbeit gefunden – oder du hättest geheiratet, dann wäre das gar nicht nötig gewesen. An Interessenten hat es nie gemangelt.«

Teresa wurde übel bei dem Gedanken. Außerdem liebte sie ihren Beruf. »Ich habe in der Klinik nicht früher freibekommen, und mein Auto fährt nicht schneller.«

Zenobia stolzierte durch den Raum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. »Ist Monica deshalb nicht mitgekommen, weil dein Auto dann noch langsamer gefahren wäre?«

Teresa warf im Spiegel einen kurzen Blick auf ihre Mutter. »Sie wollte zu Hause in Wien bleiben.«

»Hier ist ihr Zuhause!«, zischte Zenobia.

Da täuschst du dich, Mama! Die Toskana ist schon lange nicht mehr unsere Heimat.

Äußerlich gelassen trug Teresa Lippenstift auf, doch innerlich fühlte sie sich wie ein Hochdruckkessel kurz vor der Explosion.

»Was ist das überhaupt für eine schreckliche Musik?«

Teresa versuchte, weiterhin ruhig zu bleiben. »Alles ist schrecklich, was nicht aus Italien stammt, nicht wahr?«

»Stell das ab! Ist das zu viel verlangt?«

»Mama, ich komme, sobald ich fertig bin.«

Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Zenobias Kiefer mahlten. Mit den silbergrauen Haaren, dem breitkrempigen Hut, den schmalen Lippen und hohen Wangenknochen sah sie trotz ihres Alters immer noch graziös und erhaben aus. Aber unter der Fassade wirkte sie kalt wie eine Statue. Sie war vor kurzem siebzig geworden, und mittlerweile hatte sich die Verbitterung tief in ihr Gesicht gegraben. Immerhin war sie die Grand Dame der Del Vecchios – und an einem Tag wie diesem erst recht.

»Roberto steht draußen und wird ein Auge auf dich haben. Lass uns nicht zu lange warten.« Zenobia zog den schwarzen Schleier übers Gesicht, machte kehrt und verschwand aus dem Raum.

Teresa warf den Lippenstift auf die Kommode, steckte sich hastig eine Zigarette an und trat auf den Balkon. Eben schritt Zenobia unter der steinernen Brüstung hindurch zur Familienkapelle, die zwischen den Weinstöcken am Rand des Grundstücks lag. Es roch nach Frühling. Die Zypressen, Olivenhaine und blühenden Rapsfelder sahen aus wie immer. Der blecherne Klang der Kirchenglocke im einige Kilometer entfernten San Michele klang vertraut, als hätten die letzten fünfzehn Jahre nicht existiert. Was für ein merkwürdiges Gefühl, nach all den Jahren wieder in der Toskana zu sein.

Teresa stiegen Tränen in die Augen. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Dann nahm sie das Handtuch vom Kopf und schüttelte das feuchte schulterlange Haar aus. Die nach Raps duftende Brise, die von den Hügeln herunterwehte, würde es rasch trocknen lassen. Teresa würde wieder die dichten Locken bekommen, die sie normalerweise mit dem Glätteisen straffte, und so aussehen wie früher.

Wie früher

Sie versuchte, den Gedanken abzustreifen. Doch es ging nicht. Wo fühlte sie sich eigentlich zu Hause? Sie blickte über die Brüstung auf den Vorplatz der Villa, wo die protzigen Autos parkten. War das ihre Heimat? Wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war und zum ersten Mal einen Jungen geküsst hatte? Unweigerlich kam die schmerzhafte Erinnerung an ihren Vater. Maledetto! Diese gottverfluchte Toskana. Sie hatte seit mindestens zehn Jahren nicht mehr auf Italienisch gedacht und nicht einmal in Gedanken italienisch geflucht. Doch kaum war sie eine Stunde hier und hatte ein paar Worte gewechselt, war ihr alles bereits so vertraut wie eh und je. Was hatte sie auch erwartet? Konnte man die Vergangenheit mit einem einfachen Fingerschnippen aus dem Gedächtnis löschen?

Ihr blaues Ford Cabrio mit dem Wiener Kennzeichen parkte zwischen einem Maserati und einem Lamborghini auf den Terrakottasteinen des Vorplatzes und bildete im Moment den einzigen Bezugspunkt zu ihrer Wahlheimat. Ein frecher Spatz setzte sich zwitschernd auf die Oberleiste der Windschutzscheibe, plusterte sich zur doppelten Größe auf und reckte die Schwanzfedern über die Armaturen.

Scheiß mir bloß nicht in den Wagen, verdammter Italiener!

Sie hatte CDs von Gabalier, den Cranberries und ein paar Voice-of-Germany-Sampler mitgenommen, damit sie nach dem Grenzübergang nicht die lokalen Radiosender hören musste. Vergeblich! Der Auftritt ihrer Mutter hatte genügt, um die Vergangenheit binnen Sekunden wieder aufleben zu lassen.

Auf dem Bett lag Teresas geöffneter blauer Samsonite-Koffer. In der Seite steckte ihr Maniküre-Etui, daneben ein gerahmtes Foto ihrer Nichte, das sie auf den Nachttisch stellen wollte. Monica war einundzwanzig und lebte in Teresas Haus am Stadtrand von Wien. Eine weitere Erinnerung an zu Hause. Als Einzige hatten sie es gewagt, Zenobia zu trotzen und der Familie den Rücken zu kehren. Wären Teresas Brüder nicht kürzlich tödlich verunglückt, hätten sie keine zehn Pferde dazu gebracht, in die Toskana zu reisen. Das stille Begräbnis im kleinen Rahmen hatte bereits stattgefunden, und Zenobia hatte verlangt, dass Teresa zumindest bei der heutigen Trauerfeier anwesend war.

Gott, lass mich diesen Tag überstehen und etwas über Salvatores Verschwinden herausfinden.

Sie blickte zur Kapelle, wo bereits an die hundert Trauergäste warteten. Die Frauen mit schwarzen Gesichtsschleiern, die Männer in dunklen Anzügen und Hüten. Teresa besaß nur ein dunkelblaues Kostüm, das viel zu modisch aussah, was ihre Familie gewiss als Provokation empfinden würde. Noch dazu, wenn sie neben Zenobia stand und die Gäste an ihnen vorbeistolzierten, um ihr heuchlerisches Beileidsgelaber loszuwerden. Immerhin bezog es sich auf ihre Brüder. Doch bei deren dubiosen Geschäften und ausschweifendem Lebensstil war klar gewesen, dass sie nicht lange am Leben bleiben würden. Auch ein Grund, weshalb sie mit der Familie gebrochen hatte.

»Teresa?«, drang eine dumpfe Stimme aus dem Raum.

Roberto nervte! Sie drehte sich um, betrat ihr ehemaliges Jugendzimmer und warf das Handtuch aufs Bett. Über dem Kopfkissen drehten sich der Traumfänger und die Holzmobiles, die sie als Mädchen gebastelt hatte.

»Teresa, bist du so weit?«

»Sì, sì.«

Roberto stand mit verschränkten Armen in der geöffneten Tür. Mit Vollbart, Pferdeschwanz, Tattoo am Hals und der Statur eines Rausschmeißers in einem Florentiner Nachtklub.

»Schließ die Tür«, sagte sie.

»Du hast Zenobia gehört. Ich soll dir nicht von der Seite...