Land der Schatten - Seelenträume

von: Ilona Andrews

LYX, 2014

ISBN: 9783802593093 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Land der Schatten - Seelenträume


 

Prolog

»Mylady?«

Charlotte hob den Blick von ihrer Teetasse und sah Laisa an. Das Mädchen trug einen Umschlag aus dickem, festem Papier.

»Das ist für Sie gekommen.«

Als hätte sie etwas Lebendiges durchbohrt, fuhr Charlotte ein plötzlicher Schmerz in die Brust. Sie fror, und ihr wurde schummerig. Das konnte nichts Gutes bedeuten, sonst hätte sich die Wahrsagerin bei ihr gemeldet. Sie hatte das Gefühl, ihr blondes Haar zwischen ihren Fingern drehen und zwirbeln zu müssen. Was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.

»Danke«, zwang sie sich zu sagen.

Die Dienstmagd wartete, Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Kann ich Ihnen etwas bringen, Mylady?«

Charlotte schüttelte den Kopf.

Laisa sah sie lange forschend an, ging dann widerstrebend über den Balkon zur Tür und ins Haus.

Der Umschlag lag vor Charlotte. Sie überwand sich, die Teetasse an die Lippen zu führen. Der Tassenrand bebte. Ihre Finger zitterten.

Sie konzentrierte sich auf die Tasse, besann sich auf die lange Jahre eingeübte Selbstbeherrschung. Ruhe und Sammlung lautete das Mantra der Heilerin. Eine gute Heilerin ist weder hart- noch weichherzig, flüsterte ihr die Erinnerung ein. Sie lässt sich weder von Leidenschaft noch von Verzagtheit überwältigen, und niemals gestattet sie ihren Gefühlen, ihre Gabe zu verdunkeln.

Sie lebte seit zwanzig Jahren nach dieser Überzeugung. Und sie hatte sie niemals im Stich gelassen.

Vor allem Ruhe.

Ruhe.

Charlotte holte tief Luft und zählte jedes Heben und Senken ihrer Brust. Eins, zwei, drei, vier … zehn. Die Tasse lag nun ruhig in ihrer Hand. Charlotte trank daraus, setzte sie ab und riss den Umschlag auf. In den Fingerspitzen spürte sie kein Gefühl mehr. Oben auf dem Papier prangte das Siegel der Medizinischen Akademie von Adrianglia. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen

Charlotte zwang sich, jedes einzelne Wort zu lesen, dann blickte sie über das weiße steinerne Balkongeländer in den Garten. Dort unten führte ein sandfarbener gepflasterter Weg zu den Bäumen weiter hinten. Der Weg war auf beiden Seiten von kurzem, silbrigem Gras gesäumt, an das sich niedrige smaragdgrüne Hecken anschlossen, hinter denen Blumen blühten: Rosen in einem Dutzend Schattierungen, mit perfekten schweren Blüten; Stauden mit Bündeln sternförmiger roter, pinkfarbener und weißer Blumen; gelber Rittersporn, dessen zarte Röschen wie winzige Glocken geformt waren …

Sie würde nicht blühen. Sie würde keine Frucht tragen.

Ihr war die letzte Tür vor der Nase zugefallen. Charlotte schlang ihre Arme um den Leib. Sie war unfruchtbar.

Das Wort lag auf ihr wie ein erdrückendes Gewicht. Sie würde niemals Leben in sich heranwachsen fühlen. Sie würde ihre Gabe niemals weitergeben oder den Widerschein ihrer eigenen Züge im Gesicht eines Babys erkennen. Die Behandlungen und die Magie der besten Heilerinnen von Adrianglia hatten nichts gebracht. Die Ironie lag so deutlich auf der Hand, dass sie lachen musste – es klang bitter, spröde.

Im Land Adrianglia kam es auf zwei Dinge an: auf den Namen, den man trug, und die Magie, über die man verfügte. Ihre Familie war weder alt noch wohlhabend, sie hatte einen Allerweltsnamen, aber ihre Magie stand außer Frage. Bereits mit vier hatte sie ein verletztes Kätzchen geheilt, worauf ihr Leben abrupt eine neue Richtung eingeschlagen hatte.

Medizinische Begabungen waren selten und wurden vom Reich hoch geschätzt, so selten, dass Adrianglia an sie herangetreten war, als das Mädchen das Alter von sieben erreicht hatte. Ihre Eltern erklärten ihr das weitere Geschehen: Charlotte würde sie verlassen und am Garner College of Medical Arts studieren. Adrianglia gab ihr ein Dach über dem Kopf, unterrichtete sie und förderte ihre Magie, wofür Charlotte dem Reich nach der Beendigung ihrer Ausbildung zehn Jahre lang dienen würde. Nach dem Ende dieser Dekade würde sie in den Adelsstand erhoben, zur beneideten Elite gehören und ein kleines Anwesen ihr Eigen nennen. Ihre Eltern wiederum erhielten als Ausgleich für die Trauer über den Verlust eines Kindes eine Pauschale. Obwohl noch so jung, hatte Charlotte begriffen, dass sie verkauft worden war. Drei Monate darauf ging sie aufs College und kehrte nie wieder nach Hause zurück.

Mit zehn war sie ein Wunderkind, mit vierzehn Jahren ein aufgehender Stern und mit siebzehn, als ihre Dienstzeit offiziell begann, das Beste, was das College zu bieten hatte. Man nannte sie die HEILERIN und hütete sie wie einen Schatz. Um sie auf den Erwerb ihres Titels vorzubereiten, war sie von den besten Lehrerinnen unterwiesen worden. Lady Augustine, deren Stammbaum Jahrhunderte, bis zum Alten Kontinent, zurückreichte, hatte ihre Ausbildung persönlich überwacht und dafür gesorgt, dass Charlotte in die Gesellschaft von Adrianglia eintrat, als hätte sie schon seit jeher dazugehört. Ihre Haltung war makellos, ihr Geschmack vom Feinsten, ihr Benehmen beispielhaft. Als sie das College als Charlotte de Ney, Baronesse von Ney und Besitzerin eines überschaubaren Anwesens, verließ, hatte sie bereits Tausende geheilt.

Doch sich selbst konnte sie nicht heilen.

Und auch sonst niemand konnte das. Nachdem sie 18 Monate lang von Experten auf den Kopf gestellt und mit Magie traktiert worden war, hielt sie nun das endgültige Urteil in Händen. Unfruchtbar.

Unfruchtbar. Eine Wüste. Eine Einöde.

Warum sie? Warum konnte sie kein Kind bekommen? Sie hatte zahllose Kinder geheilt, hatte sie dem Tode entrissen und sie ihren Eltern zurückgegeben, doch die Kinderstube, die sie neben ihrem Schlafzimmer eingerichtet hatte, würde leer bleiben. Hatte sie sich das bisschen Glück nicht redlich verdient? Was hatte sie so Furchtbares verbrochen, dass sie kein Kind bekommen konnte?

Ein Schluchzen brach aus Charlotte hervor. Dann riss sie sich zusammen und stand auf. Bloß nicht hysterisch werden! Sie musste Elvei Bescheid sagen. Es würde ihn hart treffen. Kinder bedeuteten ihrem Mann so viel.

Sie nahm die Stufen zu dem Weg, der zur nördlichen Terrasse führte. Das alte Haus lag im Garten wie ein träges weißes Tier, eine zweistöckige, scheinbar zufällige Ansammlung von Zimmern, Terrassen, Balkonen und steinernen Treppen. Die Nordterrasse befand sich auf der anderen Seite des Hauses, und Charlotte brauchte noch ein paar Minuten, um sich zu fassen. Sie würde ihrem Mann eine Stütze sein müssen. Armer Elvei.

Sie hatte sich gerade an ihr neues Leben gewöhnt, als Elvei Leremine sie mit einem Antrag überrascht hatte. Sie war damals achtundzwanzig, hatte das College kaum ein Jahr hinter sich und fühlte sich allein. Das Leben einer Heilerin ließ nicht viel Luft für romantische Neigungen. Da war ihr die Vorstellung, zu heiraten und das Leben mit einer anderen Menschenseele zu teilen, plötzlich sehr verlockend vorgekommen. Baron Leremine war fürsorglich, großzügig und sah gut aus. Er wünschte sich Familie. Sie auch. Aber als ein Jahr vorbei und noch kein Kind in Sicht war, ließ sie sich untersuchen und tat damit den ersten Schritt auf ihrer zermürbenden, achtzehn Monate währenden Reise.

Sie wollte ein Baby. Sie würde ihr Kind mit Liebe und Wärme umgeben, ihr Sohn oder ihre Tochter würde niemals fürchten müssen, ihren Armen entrissen zu werden, denn selbst wenn ihr Baby ihre Gabe erbte, würde es in ihrer Obhut aufs College gehen. Charlotte blieb einen Moment stehen und kniff die Augen zu. Sie würde kein Baby haben. Vor einer Woche hatten sie die Monate der Behandlungen, Tests und des Wartens eingeholt. Sie fühlte sich allein, verzagt und hatte Angst vor der Zukunft, genau wie damals, als sie sieben gewesen und zum ersten Mal durch das wuchtige steinerne Tor des Garner Colleges getreten war. Also war sie zu derselben Person gegangen, die sie damals getröstet hatte, der Frau, die ihre Mutter geworden war, nachdem ihre leiblichen Eltern sie ausgeliefert hatten. Sie war ans Garner College zurückgekehrt, um mit Lady Augustine zu sprechen.

Sie waren zusammen durch die Gärten spaziert, so wie sie es nun tat, waren über die gewundenen Steinpfade geschlendert und hatten die undurchlässigen Mauern des Colleges hinter sich gelassen. Lady Augustine hatte sich nicht sehr verändert. Dunkelhaarig, anmutig, das Gesicht klassisch schön, ging sie nicht, sondern glitt dahin. Sie benahm sich immer noch wie eine Königin, ihre Züge wirkten elegant, und ihre Magie, die den blutrünstigsten Psychopathen in ein Lämmchen verwandeln konnte, wirkte so mächtig wie eh und je.

»Glauben Sie, dass ich für etwas bestraft werde?«, hatte Charlotte gefragt.

Die Lady wölbte die Brauen. »Bestraft? Wofür?«

Charlotte biss die Zähne zusammen.

»Du kannst frei sprechen«, murmelte Lady Augustine. »Schatz, du weißt, dass ich dein Vertrauen nicht missbrauchen werde.«

»Es gibt etwas Dunkles in mir. Etwas Böses. Manchmal kann ich es fast spüren, wie es durch meine Augen aus mir hinausblickt.«

»Du spürst den Drang?«, fragte die ältere Frau.

Charlotte nickte. Der Drang war ein gespenstischer ständiger Begleiter aller Heilerinnen. Sie konnten verheerende Wunden zusammenflicken und Krankheiten heilen, aber auch ebenso leicht Schaden zufügen. Doch die destruktive Seite ihrer Magie anzuwenden war streng verboten. »Du sollst niemandem Leid zufügen«, begann der Eid, den die Heilerinnen leisten mussten. Das waren die ersten Worte der ersten Lektion, die Charlotte gelernt hatte, und mit den Jahren hatte sie sie unzählige Male...