Die Chronik der Unsterblichen - Nekropole

von: Wolfgang Hohlbein

LYX, 2013

ISBN: 9783802593284 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Chronik der Unsterblichen - Nekropole


 

Kapitel 2


Der Mann war zwar erst seit einigen Tagen tot, doch er sah aus, als wären es Jahre, was vermutlich daran lag, dass er einen Gutteil dieser Zeit im Faulwasser der Bilge zugebracht hatte. Seine Kleider waren so mürbe, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zerfielen, als Abu Dun ihn aus dem Wasser zog, und sein Fleisch kaum minder. Weißer Knochen blitzte an vielen Stellen durch sein verrottetes Gesicht, und er war sowohl seiner Haare als auch der meisten Zähne verlustig gegangen. Eines der Augen war zu grauer Blindheit geliert, wo das andere sein sollte, gähnte ein zerfranster Krater voller wimmelnder Maden und Würmer. Der komplette linke Arm fehlte und war ganz eindeutig ausgerissen worden und nicht abgeschnitten, und die rechte Hand war ein aufgedunsener, schwammiger Klumpen mit nur noch drei Fingern … was sie nicht daran hinderte, damit blind nach Andrejs Stiefel zu tasten und eine schlammige Spur aus grünblauer Fäulnis auf dem zerschrammten Leder zu hinterlassen.

Angeekelt wich Andrej zurück, wobei er sich an der niedrigen Decke den Kopf stieß. Abu Dun bereitete dem grässlichen Schauspiel ein Ende, indem er wuchtig mit dem Fuß auf die Hand des Toten stampfte. Angesichts seiner gewaltigen Größe und seines noch viel gewaltigeren Gewichts hätte man das Geräusch von zerbrechenden Knochen erwartet, doch Andrej hörte stattdessen einen widerwärtigen Laut, der an das Zerplatzen einer faulen Frucht erinnerte, und registrierte einen Schwall von so intensivem Verwesungsgeruch, dass sein Magen rebellierte. Offensichtlich nicht nur seiner, denn zwei von Corleanis’ Männern hatten es plötzlich sehr eilig, den Laderaum zu verlassen, und direkt hinter ihm erklang ein Keuchen und dann ein Würgen, doch zu seiner Erleichterung aber nicht mehr. Jetzt, wo der größte Teil der Fracht gelöscht war, erwies sich der Laderaum der Pestmond als überraschend geräumig, aber nun drängten sich außer Ali und seinen Assassinen auch nahezu die gesamte Schmugglermannschaft darin, die in Sizilien an Bord gekommen war. Sich in einem so überfüllten Raum zu übergeben war nicht nur unangenehm, sondern konnte leicht zu einer noch deutlich unangenehmeren Kettenreaktion führen.

»Ich habe dir gesagt, dass es kein schöner Anblick ist«, sagte Abu Dun, der sich keine Mühe gab, sich seine Schadenfreude nicht anmerken zu lassen. »Also tu uns allen einen Gefallen und behalte dein Frühstück wenigstens noch so lange bei dir, bis du wieder an Deck bist.«

Die Worte galten Corleanis, der es irgendwie geschafft hatte, noch vor Andrej und ihm hier herunterzukommen, nun aber in zwei Schritten Abstand stehengeblieben war und hörbar nach Luft rang.

»Was tust du da, du … du widerwärtiger Barbar?«, stammelte Corleanis. »Das ist …«

»Genug jetzt«, mischte sich Ali ein. »Alle raus hier, die hier nichts verloren haben. Du bleibst.« Zugleich legte er Corleanis die Hand auf die Schulter und wies mit der anderen auf den Mann direkt neben dem Schmuggler. »Und du auch.«

Den meisten Männern musste man nicht zweimal befehlen, den Laderaum zu verlassen, denn auch wenn nur wenige nahe genug gekommen waren, um tatsächlich einen Blick auf den Toten zu werfen, war doch allein der Gestank und das Wissen um seine Anwesenheit schon fast mehr, als selbst die Schlimmes gewöhnten Seeleute ertrugen. Für einen Moment entstand an der steilen Treppe Unruhe und Gerangel, und Abu Dun nutzte die Gelegenheit, um den Fuß von der Hand des Toten zu nehmen, was einen neuerlichen Schwall von Fäulnisgeruchs zur Folge hatte. Don Corleanis japste qualvoll. Abu Dun ließ sich neben der immer noch halb im Wasser liegenden Leiche in die Hocke sinken und drehte den Toten um. Sie mit seinen breiten Schultern vor neugierigen Blicken abschirmend, nutzte er den Moment, ihr unbemerkt von Corleanis und den anderen das Genick zu brechen. Andrej sah, wie die Füße im schlammigen Wasser der Bilge noch ein letztes Mal zuckten. Am Grunde der leeren Augenhöhlen wimmelten die Würmer. Er war sicher, sich gut genug in der Gewalt zu haben, um keinerlei Reaktion auf seinem Gesicht zuzulassen, beglückwünschte sich zugleich aber auch selbst dazu, an diesem Morgen nichts gegessen zu haben. Sein Magen hob sich, und er spürte ein eisiges Entsetzen.

Es war nicht einmal so sehr der grauenhafte Zustand des Toten. In den ungezählten Jahren, in denen sie nun über die Schlachtfelder und Mordgruben der Welt zogen, hatte er schon weit Schlimmeres gesehen und sich schon vor Jahrhunderten von der Illusion verabschiedet, sich alles vorstellen zu können, was Menschen einander antun. Dennoch wünschte er sich, er müsste nicht sehen, was diesem bedauernswerten Mann angetan worden war.

Der Körper war schon seit Tagen tot, nur noch faulendes Fleisch, das mit unnatürlicher Schnelligkeit immer weiter verfiel, und dennoch – tief in diesem grässlichen Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war, regte sich immer noch ein gepeinigter Schatten des früheren Lebens. Jetzt, wo Abu Dun ihm das Genick gebrochen hatte, war der Körper endgültig zur Reglosigkeit verdammt, doch Andrej würde nie vergessen, wie ihm der abgeschlagene Schädel eines anderen untoten Kriegers verzweifelte Blicke zugeworfen hatte, und das kalte Grauen, als er begriff, dass da noch immer etwas in diesem wandelnden Leichnam war – etwas, das litt und lautlos gellend nach einer Erlösung schrie, die vielleicht niemals kommen würde.

Abu Dun sagte etwas, das er nicht verstand, doch Andrej klammerte sich beinahe verzweifelt an den reinen Klang der Worte, nur, um diesen letzten, entsetzlichen Gedanken nicht zu Ende denken und sich vielleicht etwas eingestehen zu müssen, das er tief in sich schon längst wusste und nur nicht wahrhaben wollte.

»Andrej?«, fragte Abu Dun noch einmal, und jetzt bemerkte Andrej auch die Furcht, die sich hinter Abu Duns vermeintlicher Gelassenheit verbarg. »Ist alles in Ordnung?«

Nichts war in Ordnung, seit sie dieses verfluchte Schiff betreten und erfahren hatten, wer sein Kapitän wirklich war, das wusste Abu Dun genauso gut wie er. Trotzdem nickte Andrej, doch er kam nicht dazu, zu antworten, denn Don Corleanis, der seine Fassung offenbar zurückerlangt hatte, polterte: »Was soll daran in Ordnung sein, wenn du anständige Menschen zwingst, sich so etwas anzusehen, du Barbar?«

»Kennst du diesen Mann?«, fragte Abu Dun ungerührt, indem er sich in der Hocke umdrehte und den vermeintlichen Toten noch ein Stück weiter aus seinem nassen Grab zog. Die morschen Bretter knirschten bedrohlich unter dem Gewicht des Nubiers, und der Kopf des Toten rollte haltlos hin und her, als wollte er sich über die grobe Behandlung beschweren. Andrej hörte, wie der fette Schmuggler in seinem Rücken erneut darum kämpfen musste, seine letzte Mahlzeit bei sich zu behalten.

»Kennen?«, würgte Corleanis, kam aber trotzdem noch ein Stück näher und beugte sich widerstrebend vor. Trotz des schlechten Lichtes sah Andrej, wie blass er geworden war. »Bist du von Sinnen, du gefühlloser Heidenhund? Diesen armen Kerl würde nicht einmal mehr seine eigene Mutter wiedererkennen!«

Was vermutlich auch für Corleanis’ Mutter galt, dachte Andrej, und auch ohne, dass man ihn vorher ein paar Tage unter Wasser drückte. Laut sagte er: »Sieh genau hin. Es ist wichtig.«

Don Corleanis schenkte ihm zwar noch einen giftigen Blick, sparte sich aber jeden Protest und raffte all seinen Mut zusammen, um den Toten genauer anzusehen. »Das ist …« Er schluckte, rang hörbar nach Luft, und seine Augen weiteten sich. »Heilige Jungfrau Maria, das ist Stefano!«

»Du kennst ihn«, vergewisserte sich Abu Dun.

»Sehr gut sogar«, antwortete Corleanis. »Aber was … wie ist denn das möglich? Ich habe noch vor drei Tagen mit ihm gesprochen, und da war er … das … das ist Hexerei! Der Teufel selbst hat seine Hand im Spiel!«

Bei den letzten Worten drehte er sich halb zu Hasan um und warf ihm einen Beistand heischenden Blick zu, den dieser aber geflissentlich ignorierte.

»Ich wünschte, es wäre so einfach«, seufzte Andrej, vorsichtshalber wieder in einer Sprache, von der er ziemlich sicher war, dass Corleanis sie nicht verstand. Wieder ins Italienische zurückfallend, fügte er hinzu. »Und du bist ganz sicher?«

Corleanis warf Hasan einen weiteren, fast flehenden Blick zu und wandte sich dann aufgebracht wieder an Andrej, als er endlich einsah, dass er keinerlei Hilfe zu erwarten hatte. »Warum zwingst du mich, diesen schrecklichen Anblick zu ertragen, wenn du die Antwort nicht hören willst? Das ist Stefano, ich bin ganz sicher! Und du wirst mir jetzt sagen, was für ein Teufelswerk das ist!«

»Das werde ich«, versicherte Andrej, »sobald ich es selbst weiß.«

»Lüg mich nicht an!«, fauchte Corleanis. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Das ist Hexerei!« Er bekreuzigte sich. Hasans einzige Reaktion bestand darin, Ayla die Hand auf die Schulter zu legen.

»Hexerei«, wiederholte Abu Dun nachdenklich und deutete mit dem Kopf auf Andrej. »Genau aus diesem Grund nenne ich ihn auch immer Hexenmeister, weißt du? Nicht nur, um ihn zu ärgern, auch wenn ich zugeben muss, dass es Spaß macht.« Kopfschüttelnd hob er seine künstliche Hand. Etwas Widerliches und Zähes tropfte von den missgestalteten Eisenfingern. »Aber ich fürchte, es ist nicht ganz so einfach.«

»Einfach!«, ächzte Corleanis.

»Einfach«, bestätigte Abu Dun. »Wenn es um Hexerei geht, dann verbrennt man die Hexe, und es ist gut. Oder man sieht ein, dass es so etwas wie Hexerei nicht gibt, und die Erklärung vielleicht viel schlimmer ist.«

Don Corleanis sah noch einen halben Herzschlag...