Küstenmorde - Nordsee-Krimi

von: Nina Ohlandt

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838746111 , 511 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Küstenmorde - Nordsee-Krimi


 

Kapitel 1


Der Mann am Quermarkenfeuer war verzweifelt, am Ende seiner Kräfte; sein nackter Körper ein einziger Schrei. Obwohl er wusste, dass niemand ihn in diesem Sturm, in dieser Leere hören würde – ringsum nur Dünen, eine endlose Strandwüste und davor die tobende See –, konnte er nicht anders als beten, schreien, fluchen, heulen, auch wenn es bedeutete, dass ihm die Luft noch schneller ausgehen würde als geplant. Denn in der Plastiktüte, in der sein Kopf steckte, gab es nur wenige Löcher, und sie ließen kaum Sauerstoff durch.

Er blinzelte, er wimmerte. Er verschluckte sich an seiner Spucke, schnappte nach Luft, spürte sein Herz in der Kehle flattern wie ein sterbender Vogel. Ab und zu sah er durch die milchige Transparenz der Plastiktüte den Mond hinter aufgetürmten Wolken hervorblitzen. Dann lag die Nacht wieder auf ihm wie eine alles erstickende Decke.

Hoffnung? Rettung? Er glaubte längst nicht mehr daran. Hier in dieser gottverlassenen Gegend, auf dieser Insel, in diesem Gewirr von Dünen, inmitten des Sturms und der rasenden See war er so allein, wie ein Mensch es nur sein konnte, kilometerweit entfernt vom nächsten Ort. Auf dem Hinweg durch die unruhige Nacht, im Wald, an der Vogelkoje und auf dem Bohlenweg über die Dünen war ihnen keine Menschenseele begegnet. Wer hatte hier schon etwas verloren, im Sturm, um Mitternacht?

Und dann diese Schmerzen! Überall lauerten sie, an den Fußgelenken, in die das Nylonseil schnitt, im Genick; sie klopften an die Stirn, zerrten an der Kopfhaut, schienen die Augäpfel aus ihren Höhlen zu stoßen. Auch die Möwen waren zugange und fielen über ihn her. Sie hatten sich, zeternd und kreischend, über ihm versammelt, mit hartem Flügelschlag. Oder besser gesagt, sie hatten sich zu seinen Füßen versammelt, denn er hing ja kopfüber an der verdammten Plattform des Quermarkenfeuers wie ein sauber verschnürtes Suppenhuhn, ein Spielball des Windes. Wenn er nicht erstickte in dieser Plastiktüte, wenn sein Kopf nicht in absehbarer Zeit durch den Blutandrang platzte, wenn er nicht an den Schmerzen krepierte, die seinen aufgehängten Körper quälten, wenn er nicht erfror in dieser Nacht … dann starb er wahrscheinlich an den Knochen- und Schädelbrüchen, die der Sturm verursachte, indem er ihn immer wieder gegen den eisernen Korpus des kleinen Leuchtturms schleuderte. Verhindern konnte er es nicht, denn die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden. Er musste all seine Muskelkraft aufbringen, um die Arme nicht hängen zu lassen, die Schmerzen wären sonst unerträglich. Egal was er tat, er war am Ende. Aus dieser teuflischen Falle würde selbst sein wendiger Verstand keinen Ausweg mehr finden.

Sein Hals wurde eng, er schnappte nach Sauerstoff. Sein Herz hämmerte in der Kehle. Wie lange hing er bereits an diesem Turm? Zwanzig Minuten? Fünf Stunden? Er wusste es nicht, jedes Zeitgefühl war ihm abhandengekommen.

Eine Möwe hackte nach der Plastiktüte und verletzte ihn an der Augenbraue. Für einen Augenblick schöpfte er eine absurde Hoffnung. Würden die Vögel die Tüte zerreißen? Würde er Luft bekommen? Wieder schrie er, was seine Lungen hergaben, schrie an gegen den Sturm, das Gezeter der Vögel, das brausende Meer in seinem Kopf – vergeblich. Sein Körper fror, doch sein Schädel wurde immer heißer, als steckte er in einem Backofen, der sich langsam erhitzte und seine Gedanken zum Kochen brachte. Wilde, quälende, brennende Gedanken …

Irmi … wie es ihr wohl ergangen war? Ob sie noch lebte? Und wer war der Schatten dort hinten, seine Mutter etwa, das Röslein? Aber wieso trug sie einen schwarzen Mundschutz? Wie lächerlich! Darüber blitzten böse die Augen; rund und am Stiel hängend wie die Hagebutten der Dünenrosen fielen sie ihr fast aus dem Kopf. Hinter ihr lief eine Schar toter Gänse, tapp tapp, tapp tapp, tapp tapp.

»Ich bin sooo müde, Euer Ehren!«

»Klappe halten. Du hängst in der Warteschleife.«

Die See würde ihn holen, die See, die alle Sünder holt. Niemals hätte er auf diese Insel kommen dürfen, niemals. »Die Wandergans mit hartem Schrei nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, am Strande weht das Gras.«

Gänse? Wandergänse? Aber hier ging es nicht um Gänse, hier waren Möwen zugange, mörderische Möwen … Wieder ein Biss, ein Schnabelhieb. Herrgott! Würden sie ihn an diesem gottverdammten Ort bei lebendigem Leibe zerreißen? Würde er hier verrecken, ein Opfer von Seevögeln? Seine Adern pochten, als würden sie platzen. Sie pochten längst vergessene Namen …

»Die Wandergans mit hartem Schrei …«

Ruhe!

»… am Strande weht das Gras.«

In der Wüste weht kein Gras. Und doch ist die Wüste schön, so schön. Aber voller Gräber. Klein. Geradezu winzig. Kaum auszumachen. Kleine Gänse brauchen keine großen Gräber. »Vernehmlich werden die Stimmen …«

Ruhe, verdammt! Auch hier draußen tobt eine Wüste. Sand, so weit man blickt. Unsinn, Sand tobt nicht, er schneidet die Haut wie mit Messerklingen. Was dort draußen tobt, ist das Meer. Es frisst Land, Schiffe und Menschen. Horus, Fenelon, Hermina, das »Totenschiff«, alle gesunken vor Amrums Westküste; die Opfer, eingekerkert in ihrem Schiffsrumpf, erstickt, ertrunken, verdurstet, verfault. Auch das Meer ist, wie die Wüste, ein Grab. Es liebt seine Toten: Zärtlich säubert es ihre Gebeine und füllt die leeren Augen mit Seetang. Doch in Nächten wie dieser gibt es sie frei; sie treiben an Land, setzen auf Stränden und Sandbänken auf, weißbäuchig wie gestrandete Fische. Mit einem Wort: Sie machen Ärger!

Ha!

Wer lacht da? Diese Gestalt dort – doch nicht schon wieder seine Mutter? Aber wieso trägt sie schwarze, hochhackige Stiefel? So ein Quatsch! Seine Mutter hatte nie Stiefel getragen. »Solides Schuhwerk, mein Junge«, hatte sie immer gesagt. Solides Schuhwerk garantierte Wohlstand, Gesundheit, eine gute Ausbildung, Anerkennung, Liebe … Nein, Liebe gab es nicht, nicht in diesem Leben, vielleicht in einem anderen … Keine Widerrede, Junge, Kinder haben den Mund zu halten! Hart konnte sie sein, seine gestrenge Mutter, doch in den Nächten waren ihre Hände so weich … Ach, nun schrumpfte es, das Röslein, der Rumpf fuhr Paternoster nach unten, und der Kopf mit dem Mundschutz schaute alsbald halslos grinsend über den Rand der Stiefel.

Ein Schnabelhieb traf seine Schläfe und riss ein Loch in die Plastiktüte. Er atmete tief und inhalierte eine Ladung Sand. Immerhin, mit dem linken Auge konnte er jetzt ein wenig sehen; den wehenden Strandhafer und den rot-weißen Turm, seinen Feind.

In einem unerwartet klaren Augenblick bemerkte er, dass der Sturm nachließ. Nur heiß war ihm, so heiß, die Stirn brannte, und der Maschinist dahinter schien ein Feuerchen in Gang zu halten, damit der Zunder für den Zug nicht ausging … Und da sah er sie auch schon kommen, die kleine Amrumer Inselbahn, quer über die Dünen ruckelte sie, zwei flackernde Irrlichter, in der Dunkelheit tanzend. Doch die Inselbahn gab es schon lange nicht mehr.

Er verdrängte die Schmerzen, die Übelkeit. Versuchte, so gut es ging, seinen Oberkörper anzuheben. Er schrie, doch es kam nur ein Krächzen. Sein Mund war trocken und voller Blut, die Lippen zerfurcht, zerbissen. Die Zunge hing ihm am Gaumen fest, die Plastiktüte klebte auf seinem Gesicht. Er versuchte, sie einzuatmen und ein Teil des Materials zu zerbeißen. Er hustete und heulte, verschluckte sich, doch dann, endlich, war ein kleiner Riss entstanden. In seine Lungen strömte reine Seeluft. Er räusperte sich, ächzte, schrie. Er musste die Windböen, die Möwen und die See überschreien, er musste gefunden werden, er wusste, dies war die letzte Chance, die er in diesem Leben hatte.

Das Licht kam näher.

»Deine Sessel sind immer noch da, mein Junge«, sagte Benthien senior. Vierzig Kilometer nördlich vom Amrumer Quermarkenfeuer saß er am Schreibtisch seines Sohnes und kroch beinahe in das Notebook hinein. Seine blauen Augen strahlten. »Sie haben sie wieder eingestellt. Aber jetzt kosten sie nur noch 720 Euro pro Stück.« Er drehte sich um. »Willst du es dir nicht doch noch mal überlegen?«

John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, der derzeit auf seinem alten, abgeschabten, aber butterweichen Ledersofa lag und in einen Krimi versunken war, den er noch in dieser Nacht auslesen wollte, seufzte leise. Dass sein Vater, genau wie er, ein Nachtmensch war, dagegen war ja nichts einzuwenden. Auch dass er mit Begeisterung auf den eBay-Seiten surfte und dort vom Schnürsenkel über Bücher und Sushi-Messer bis hin zu Türstoppern, Jugendstil-Fensterriegeln und Angelködern auf fast alles bot, und es meistens auch bekam, war im Prinzip okay. Ungemütlich wurde es nur, wenn er für seinen Sohn einkaufen wollte. John brauchte neue Thermosocken? Einen Kuhfuß, asiatische Gewürze, ein Schweizer Armeemesser gar? Oder ein Ferienhaus in Kanada? Kein Problem, Benthien senior loggte sich trotz seiner achtundsiebzig Jahre mit jugendlichem Elan bei eBay ein und beschaffte das Gewünschte, wobei er vorzugsweise auf exotischen eBay-Seiten surfte. Kürzlich hatte er sich in zwei Art-déco-Sessel verliebt, deren erfolglose eBay-Karriere er seit Wochen verfolgte.

»180 Euro pro Sessel sind sie schon runtergegangen, ein richtiges Schnäppchen«, sagte Benjamin Benthien und scrollte eifrig, »da solltest du zulangen. Denk dran, wie alt die Dinger sind. Dazu in gutem Originalzustand und aus echtem Leder!«

»Vater, 720 Euro für einen Sessel, den ich nicht haben will, ist kein Schnäppchen! Außerdem brauche ich keine Sessel.« Er fügte...