Der Rote Krieger - Roman

von: Miles Cameron

Heyne, 2013

ISBN: 9783641100889 , 1168 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Der Rote Krieger - Roman


 

2

Der Palast von Harndon · Die Königin

Desiderata lag auf dem Sofa in ihrem Privatgemach, aß frische Kirschen und genoss die Veränderung in der Luft. Endlich war der Frühling gekommen. Es war ihre bevorzugte Jahreszeit. Nach der Fastenzeit kam zuerst Ostern und dann der Pfingstsonntag und danach die Zeit der Picknicks, der frohen Zusammenkünfte am Fluss, der frischen Früchte, der Blumen, des Barfußlaufens …

… und der Turniere.

Sie seufzte bei dem Gedanken an die Turniere. Hinter ihr zog Diota, ihre Zofe, eine Schnute. Sie konnte die Missbilligung der alten Frau im Spiegel sehen.

»Was ist los? Warum runzelst du die Stirn, wenn ich seufze?«, fragte sie.

Diota richtete den Oberkörper auf und legte die Hand auf den Bauch, als sei sie eine schwangere Frau. Mit der anderen Hand betastete sie den kostbaren Rosenkranz um ihren Hals. »Ihr klingt wie eine Hure, die einen Kunden zufrieden stellt, Herrin, wenn Ihr mir diese Grobheit einer alten Frau entschuldigt …«

»… die Euch schon all die Jahre hindurch kennt«, beendete die Königin den Satz. Tatsächlich war Diota schon bei ihr, seit sie abgestillt worden war. »Wirklich? Was weißt du denn schon über jene Geräusche, die die Huren machen, Zofe?«

»Also bitte, Mylady!«, tadelte Diota und wackelte mit dem Finger. Sie umrundete den Wandschirm und blieb plötzlich stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Barriere geprallt. »Oh! Beim süßen Jesu! Zieht Euch was an, Kind! Ihr werdet Euch noch den Tod holen! Ist doch noch nicht mal Frühling, Zuckerstückchen!«

Die Königin lachte. Nackt saß sie im jungen Sonnenlicht; ihre Haut war von den Flecken auf der Scheibe ihres Privatgemachs gesprenkelt, und ihr volles, blassbraunes Haar schimmerte im Schein, der von draußen kam. Sie sog etwas von dem Sonnenlicht in sich auf, das ihre Haut bestrich – etwas, das ihr ein inneres Leuchten schenkte.

Desiderata stand auf und stellte sich vor den Spiegel – den größten Spiegel im Reich, der nur für sie hergestellt worden war, damit sie sich vom Spann ihrer Füße über die langen Beine, die Schenkel und Hüften, die deutliche Einbuchtung ihres Nabels, die Brüste, die geraden Schultern, den langen und kegelförmigen Hals, das Kinn mit dem tiefen Grübchen, den wie zum Küssen geschaffenen Mund und die lange Nase bis zu den großen grauen Augen betrachten konnte, deren Wimpern so lang waren, dass sie sie manchmal mit der Zunge ablecken konnte.

Sie runzelte die Stirn. »Hast du schon die neue Hofdame Emmota gesehen?«, fragte sie.

Ihre Zofe kicherte. »Sie ist noch ein Kind.«

»Aber sie hat eine feine Figur. Ihre Hüfte ist so dünn wie eine Gerte.« Die Königin betrachtete sich eingehend.

Diota gab ein schmatzendes Geräusch von sich. »Zieht Euch an, Gör. Sie ist nichts für Euch. Ein Kind. Ohne Brüste.« Sie lachte. »Jeder Mann sagt, Ihr wäret die Schönste auf der ganzen Welt«, fügte sie hinzu.

Die Königin blickte weiterhin in den Spiegel. »Das bin ich auch. Aber wie lange noch?« Sie hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt und drückte den Rücken so durch, dass sich ihre Brüste hoben.

Ihre Zofe versetzte ihr einen spielerischen Klaps. »Wollt Ihr, dass der König Euch so sieht?«

Desiderata lächelte ihre Zofe an. »Warum nicht?«, meinte sie. Dann fügte sie mit einer Stimme hinzu, die von der Macht gefärbt war: »Ich könnte durchaus sagen, dass ich nackt ebenso Königin bin wie angezogen.«

Ihre Zofe trat einen Schritt von ihr zurück.

»Aber das sage ich nicht. Bring mir was Schönes. Den braunen Wollumhang, der so gut zu meinen Haaren passt. Und meinen goldenen Gürtel.«

»Ja, Mylady.« Diota nickte und runzelte die Stirn. »Soll ich einige der Damen holen lassen, damit sie Euch ankleiden?«

Die Königin lächelte und streckte sich, während ihr Blick noch immer auf den Spiegel gerichtet war. »Schick mir meine Damen«, sagte sie und ließ sich wieder auf dem Sofa ihres Gemaches nieder.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Auf Ser Hugos Beharren hatten die Bogenschützen Zielscheiben auf den Feldern entlang des Flusses errichtet.

Die Männer grummelten, denn es war ihnen befohlen worden, ihre Pferde zu striegeln, bevor sie schlafen gehen konnten, und davor mussten sie noch ihre Schießübungen machen. Sie waren viele Tage lang hart geritten, und es gab niemanden, der nicht dunkle Ringe unter den Augen gehabt hätte.

Bent, der Älteste, der aus dem Osten kam, und Mutwill Mordling, der zusammen mit dem Jagdmeister erfolglos nach Spuren des Nonnenmörders Ausschau gehalten hatte, befahlen den jüngeren Männern, die Zielscheiben, die mit altem Stoff gefüttert oder aus Stroh geflochten waren, aus den Wagen zu laden.

»Ich bin doch gar nicht dran«, jammerte Kanny. »Warum hackst du immer auf uns rum?« Seine Worte hätten tapferer geklungen, wenn er mit ihnen nicht gewartet hätte, bis Bent weit genug weg war.

Geslin war der jüngste Mann in der Truppe, gerade erst vierzehn Jahre alt, und hatte einen dürren Körper, der darauf schließen ließ, dass er als Kind nie genug zu essen bekommen hatte. Er kletterte auf einen der großen Wagen, nahm still eine Zielscheibe und warf sie zu Gadgee herunter, einem seltsam aussehenden Mann mit gebräuntem Gesicht und fremdartigen Zügen.

Gadgee fing die Scheibe unter Grunzen auf und ging auf das ferne Feld zu. »Halt’s Maul und tu was«, sagte er.

Kanny spuckte aus und bewegte sich sehr langsam auf einen Wagen zu, in dem sich keine Zielscheiben befanden. »Ich seh mal nach, ob …«

Cuddy, der Bogenschütze von Tom Schlimm, erschien wie aus dem Nichts und schob ihn auf den Wagen zu, in dem Geslin eine zweite Zielscheibe hervorgeholt hatte. »Halt’s Maul und tu was«, sagte er ebenfalls.

Er war so langsam, dass alle anderen neun Zielscheiben bereits aufgestellt waren, als er mit der seinen endlich fertig war. Vierzig Bogenschützen standen jeweils hundert Schritt entfernt, überprüften ihre Reservesehnen und murmelten etwas von Feuchtigkeit.

Cuddy legte die Sehne mit sparsamen Bewegungen, die von einer langen Übung zeugten, in den Bogen. Dann zog er die Schnur auf, mit der die Pfeile in seinem Köcher zusammengehalten wurden.

»Soll ich den Tanz eröffnen?«, fragte er.

Er legte einen Pfeil ein und schoss ihn ab.

Einige Schritte zu seiner Rechten spannte Mutwill Mordling, der sich für einen der besten Schützen hielt, seinen Bogen und schoss bereits eine Sekunde später. Beim Spannen des großen Kriegsbogens hatte sich sein Körper stark verzerrt.

Bent setzte sein Horn an die Lippen und blies hinein. »Aufhören!«, brüllte er und wandte sich an Cuddy. »Kanny ist noch bei den Zielscheiben!«, schrie er den Meisterschützen an.

Cuddy grinste. »Ich weiß, wo er ist. Genauso wie Mutwill.«

Die beiden Männer kicherten, als Kanny hinter der Scheibe in der Mitte hervorkam und so schnell lief, wie es seine langen, dürren Beine erlaubten.

Die Schützen brüllten vor Lachen.

Kanny tobte vor Wut und Angst. »Du Bastard!«, schrie er Cuddy an.

»Ich hatte dir doch gesagt, du solltest schneller arbeiten«, meinte Cuddy milde.

»Das werde ich dem Hauptmann berichten!«, drohte Kanny.

Bent nickte. »Das solltest du tun.« Er winkte ihn fort. »Geh.«

Kanny wurde blass.

Hinter ihm stellten sich die übrigen Bogenschützen auf und begannen mit ihren Schießübungen.

Der Hauptmann kam zu spät zu den Übungen. Er wirkte müde und bewegte sich langsam. Dann lehnte er sich gegen die hohe Steinmauer, die den Schafspferch umgab, den Ser Hugh zu einem Übungshof umgewandelt hatte, und beobachtete die Kämpfe der bewaffneten Männer.

Trotz der Müdigkeit und des Gewichts seiner Rüstung bewegte sich Ser George Brewes leichtfüßig von einer Kampfposition zur nächsten. Ihm gegenüber befand sich sein »Kamerad«, wie es in der Sprache des Übungshofes hieß. Dabei handelte es sich um den liebenswürdigen Robert Lyliard, dessen vorsichtiger Kampfstil in einem starken Gegensatz zu seiner prunkvollen und prahlerischen Bewaffnung und Kleidung stand.

Brewes pirschte sich wie ein tänzelnder Panther an Lyliard heran; sein Arm mit der Stange bewegte sich durch alle Positionen – niedrig, mit vorgestrecktem rechtem Bein, dann die Stellung des Eberzahns, in einer heftigen Aufwärtsbewegung, bis die Stange wie die Axt eines Holzfällers auf seiner rechten Schulter ruhte.

Daneben stand der dickbäuchige und vorsichtige Francis Atcourt Tomas Durrem gegenüber. Beide waren alte Soldaten, die schon seit Jahrzehnten den Harnisch trugen, aber nie zum Ritter geschlagen worden waren. Sie umkreisten sich unablässig, griffen jedoch nicht an. Der Hauptmann befürchtete schon einzuschlafen, während er ihnen zusah.

Tom Schlimm kam herbei und lehnte sich gegen dieselbe Mauer....