Der Selfness Trend - Was kommt nach Wellness?

Der Selfness Trend - Was kommt nach Wellness?

von: Matthias Horx

Zukunftsinstitut GmbH, 2005

ISBN: 9783938284087 , 86 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 40,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Selfness Trend - Was kommt nach Wellness?


 

Erstes Kapitel

Der MEGATREND INDIVIDUALISIERUNG oder die historische Suche nach dem Ich (S. 13-14)

Die Vision des modernen Individuums entstand in seiner modernen Form zum ersten Mal in der Renaissance, in der städtischen, auf Handel und Mäzenatentum gegründeten Welt der frühen Aufklärung des 14. und 15. Jahrhunderts, die ihren Ausgangspunkt in Norditalien nahm. Plötzlich traten die Menschen plastisch aus den (bis dahin streng religiösen) Bildern heraus und wurden zu – SICH SELBST. Francesco Petrarca, der einsame Bergsteiger und Philosoph, formulierte vor 650 Jahren in seinen „Familiares" einen ersten individualistischen Kanon:

Kehre bei dir selbst ein, wache bei dir; sprich mit dir, schweige mit dir; zögere nicht, mit dir allein zu sein. Denn bist du nicht bei dir, dann wirst du auch unter Menschen allein sein.

In der ersten Welle individueller Kultur erscheint dieses Wollen noch religiös gefärbt. Es ist später das BUCH, also eine mediale Technik, das als Symbol für Bildung und Ich-Findung dient. Der Lesende schafft seine EIGENZEIT, seinen eigenen individuellen Raum gegen die vergesellschaftete Umwelt. Der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts thematisiert diese Innenwendung. Er beleuchtet das INNENLEBEN der handelnden Figuren wie in einem Brennglas. Die Elegien der inneren Differenzierung, die Balzac, Dostojewski, Theodor Fontane beschrieben, waren nichts als Entwicklungsanatomien des Selbst.

Individualität im bürgerlichen Kontext wird durch Literatur, Theater und Film langsam zu dem geformt, was sie bis heute in vielen Bedeutungszusammenhängen ist: Die selbst-bewusste Akzeptanz gesellschaftlicher Verantwortungsrollen. Im bürgerlichen Entwicklungsroman, der das „Skript" für diese Vorstellung transportiert, werden Menschen durch Schicksalsschläge und Zweifel solange „gereift", bis sie sich in ihre vorbestimmte Rolle – als Eltern oder in die Geschlechterrolle „ergeben".

Von Bohemia zur „kreativen Klasse"

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts tauchte zum ersten Mal ein Menschenschlag auf, der die Idee der Individualität auf neue Weise radikalisiert. Diese Menschen kümmerten sich allen Anschein nach nicht um den Erwerb oder die Vermehrung des Geldes, legten aber großen Wert auf Kategorien, die auch in der bürgerlichen Welt einen hohen Stellenwert einnahmen: Kunst, Musik, Gefühle, ja sogar Stil und Genuss. Sie lasen Unmengen Bücher in einer Zeit, in der das Lesen den Privilegierten vorbehalten war. Einige von ihnen sprengten sexuelle oder Kleidernormen, so hatten etwa Frauen kurz geschnittene Haare oder Männer lange.

„Bohemiens" rebellierten gegen das rationale Prinzip, das im beginnenden Industrialismus das Menschenverhältnis mehr und mehr zu durchdringen schien. Sie verherrlichten die Kreativität, den Geist, die „Selbstverwirklichung", und zogen all dies dem „Fabrikprinzip" vor, das die Welt umzugestalten begann. Das Wort „Boheme" stammt ursprünglich aus einer Bezeichnung für böhmische Zigeuner, kam aber schnell für jene in Gebrauch, die sich als soziale Nomaden zwischen den Klassen der frühen industriellen Welt fühlten. In Henry Murgers „Scènes de la vie de bohème" (1851) wurde der Müßiggänger zum ersten Mal mit dem Leben in städtischen Cafés in Verbindung gebracht. Arthur Ransome schrieb 1907 in „Bohemia in London":

Bohemien kann überall sein: es ist kein Ort, sondern eine Geisteshaltung.

Die „Boheme" sollte sich bisweilen durchaus aus ihrem apolitischen, randständigen Milieu lösen. Lenin etwa, ein notorischer Nutzer europäischer Kaffeehäuser, wurde nach seinem Transport im Güterwaggon nach Russland zum Charismatiker einer Jahrhundertdiktatur. In der „Bier-Revolution" 1918 in München spielten Bohemiens ebenso eine Rolle wie in der Mai-Revolte von 1968. Nicht immer war das harmlos, man denke an den Steinzeitkommunismus Kambodschas, wo französische Intellektuelle, die an der Pariser Sorbonne marxistische Dritte-Welt-Theorie gelernt hatten, die geistige Grundlage für Massenmord lieferten. „Viele Bohemiens waren bereit, für ihre Überzeugungen zu leiden oder auch zu hungern", schreibt Alain de Botton in seinem Buch „Status Anxiety". Und sie waren stilbildend. Erotik, Hedonismus, Kunst, Kreativität, Individualismus – all diese Themen machten sich aus den Gettos der Minderheit auf den langen Marsch zum Mainstream, wo sie in den siebziger und achtziger Jahren mehr und mehr ankamen.