Der Ruf der Wellen - Roman

von: Nora Roberts

Heyne, 2013

ISBN: 9783641111687 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Ruf der Wellen - Roman


 

Prolog


James Lassiter war vierzig Jahre alt, athletisch gebaut, attraktiv, stand in der Blüte seiner Jahre und erfreute sich bester Gesundheit.

Eine Stunde später sollte er tot sein.

Vom Deck des Bootes aus sah er nichts als klare, blaue Wellen und die leuchtenden Grün- und tiefen Brauntöne des großen Riffs, das unter der Oberfläche des Korallenmeeres wie Inseln schimmerte. Weiter im Westen hoben und senkten sich perlende Schaumkronen in der Brandung und brachen sich an den vorgelagerten Korallenbänken.

Von seiner Position auf der Backbordseite aus beobachtete Lassiter die Formen und Schatten der Fische, die sich wie lebendige Pfeile durch jene Welt bewegten, für die er genauso geboren war wie sie. Die Küste Australiens konnte er in der Ferne nur ahnen, um ihn herum gab es nichts als die Weite des Ozeans.

Es war ein wunderschöner Tag, das glasklare Wasser schimmerte, hin und wieder durchbrochen von hellen, golden glänzenden Lichtstrahlen, der Wind wehte sanft, und am Himmel war nicht eine einzige dunkle Wolke zu sehen.

Unter Lassiters Füßen schwankte das Deck sanft auf der ruhigen See. Kleine Wellen schlugen rhythmisch gegen den Schiffskörper. Und unten, sehr tief unten, lag ein Schatz, der nur darauf wartete, entdeckt zu werden.

Zurzeit arbeiteten sie am Wrack der Sea Star, einem britischen Handelsschiff, das zwei Jahrhunderte zuvor am Great Barrier Reef gesunken war. Seit über einem Jahr schufteten sie nun, nicht selten bis zur Erschöpfung und nur von Schlechtwetterpausen, Geräteausfall und ähnlichen Widrigkeiten unterbrochen, um die Schätze ans Tageslicht zu bringen, die ihnen die Star hinterlassen hatte.

Dabei war James durchaus klar, dass es noch andere Schätze gab. Seine Gedanken verließen die Sea Star und das atemberaubende und zugleich gefährliche Riff und schweiften weiter nach Norden zu den sanften Gewässern der Westindischen Inseln. Zu einem anderen Wrack, einem anderen Schatz.

Zum Fluch der Angelique.

James fragte sich, ob es tatsächlich das mit Juwelen besetzte Amulett war, auf dem der Fluch lag, oder nicht vielmehr die Frau, die Hexe Angelique, deren Macht – so hieß es – immer noch an den Rubinen, den Diamanten und dem Gold haftete. Die Legende besagte, dass sie dieses Geschenk ihres Ehemannes, den sie angeblich ermordet hatte, an dem Tag getragen hatte, als sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Die geheimnisvolle Geschichte um die Frau und das Schmuckstück faszinierte ihn. Die Suche nach dem Amulett, die in Kürze beginnen sollte, hatte für ihn eine persönliche Bedeutung. Es ging ihm dabei nicht allein um Reichtum und Ruhm, sondern vielmehr um den Fluch der Angelique und die damit verbundene Legende.

James Lassiter war mit der Schatzsuche, den Geschichten über gesunkene Schiffe und der Beute, die das Meer versteckt hielt, groß geworden. Sein ganzes Leben lang war er getaucht, und schon immer hatten sich seine Träume um diese Themen gedreht. Sie hatten ihm seine Frau genommen und ihm einen Sohn geschenkt.

Er wandte sich von der Reling ab, um Matthew zu betrachten. Der Junge war inzwischen fast sechzehn und sehr groß, aber sein Körper würde sicher noch kräftiger werden. In der schmalen, sehnigen Gestalt erkannte James vielversprechende Anlagen. Matthew hatte das gleiche eigenwillige Haar wie sein Vater, allerdings weigerte sich der Junge standhaft, es kurz schneiden zu lassen, sodass einige Strähnen jetzt, während Matthew die Tauchausrüstung überprüfte, wie ein Vorhang vor sein Gesicht fielen.

Er hatte in den letzten ein oder zwei Jahren seine kindliche Rundlichkeit verloren und mehr Konturen bekommen. Ein Engelsgesicht, hatte eine Kellnerin früher einmal gesagt und den Jungen damit dermaßen in Verlegenheit gebracht, dass er rot anlief und eine Grimasse schnitt.

Inzwischen wirkte er recht verwegen, und die blauen Augen, die er von James geerbt hatte, blickten häufiger wütend als gelassen drein. Das Temperament der Lassiters und das fast schon sprichwörtliche Pech der Lassiters, dachte James mit einem Kopfschütteln. Kein leichtes Erbe für einen heranwachsenden Jungen.

Eines Tages, überlegte er, vielleicht schon sehr bald, würde er endlich dazu in der Lage sein, seinem Sohn all das zu geben, wovon sein eigener Vater geträumt hatte. Und der Schlüssel dazu wartete geduldig in den tropischen Meeren der Westindischen Inseln.

Eine unbezahlbare Halskette aus Rubinen und Diamanten, mit einer Geschichte behaftet, mit einer Legende belastet und mit Blut befleckt.

Den Fluch der Angelique.

James’ Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. Sobald er das Amulett in seinen Besitz gebracht hatte, würde das Pech, das die Lassiters so lange verfolgt hatte, enden. Er brauchte lediglich ein wenig Geduld.

»Beeil dich mit den Sauerstoffflaschen, Matthew. Es wird langsam spät.«

Matthew blickte auf und strich sich die Ponyfransen aus den Augen. Hinter dem Rücken seines Vaters stieg gerade die Sonne auf. Mit diesen Strahlen im Hintergrund sieht er aus wie ein König, der sich für die Schlacht bereitmacht, dachte Matthew. Wie immer überwältigten ihn Liebe und Bewunderung und erschreckten ihn in ihrer Intensität.

»Ich habe deinen Druckmesser ausgewechselt. Den alten will ich mir mal genauer ansehen.«

»Du passt wirklich gut auf deinen Alten Herrn auf.« James legte Matthew einen Arm um den Hals und deutete spielerisch einen Ringkampf an. »Heute hole ich dir ein Vermögen nach oben.«

»Lass mich mit dir tauchen! Ich möchte heute an VanDykes Stelle die Morgenschicht übernehmen.«

James unterdrückte einen Seufzer. Matthew war noch nicht imstande, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Ganz besonders nicht, wenn es sich um Aversionen handelte. »Du weißt doch, in welchen Teams wir zusammenarbeiten. Du und Buck, ihr taucht heute Nachmittag, VanDyke und ich machen die Morgenschicht.«

»Ich will nicht, dass du mit ihm runtergehst.« Matthew schüttelte den Arm seines Vaters ab. »Ich habe mitbekommen, wie ihr beide euch gestern Abend gestritten habt. Er hasst dich, das habe ich an seiner Stimme gehört.«

Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, dachte James, aber er zwinkerte seinem Sohn zu. »Missverständnisse kommen zwischen Partnern nun einmal vor. Das Entscheidende ist, dass VanDyke den Großteil des Geldes bereitstellt. Soll er doch seinen Spaß haben, Matthew. Für ihn ist diese Schatzsuche nicht mehr als der Zeitvertreib eines gelangweilten, reichen Geschäftsmannes.«

»Er kann ums Verrecken nicht tauchen.« In Matthews Augen war dies ein Kriterium, an dem die Qualitäten eines Mannes gemessen wurden.

»Er ist gut genug, nur mangelt es ihm in vierzig Fuß Tiefe ein wenig an Stil.« James hatte keine Lust, die Auseinandersetzung fortzusetzen, und zog seinen Neoprenanzug an. »Hat Buck sich den Kompressor angesehen?«

»Ja, er hat den Fehler repariert. Dad –«

»Lass gut sein, Matthew.«

»Nur dieses eine Mal.« Sein Sohn blieb hartnäckig. »Ich traue diesem verweichlichten Idioten nicht.«

»Deine Ausdrucksweise lässt immer mehr zu wünschen übrig.« Silas VanDyke, trotz der heißen Sonne gepflegt und blass wie stets, kam lächelnd hinter Matthews Rücken aus der Kabine. Es amüsierte und ärgerte ihn gleichzeitig, dass der Junge höhnisch zurückgrinste. »Dein Onkel braucht dich unter Deck, Kleiner.«

»Heute will ich mit meinem Vater tauchen.«

»Tut mir Leid, das passt mir gar nicht. Wie du siehst, habe ich meinen Taucheranzug bereits an.«

»Matthew!« In James’ Stimme schwang ein ungeduldiger Befehlston mit. »Sieh nach, was Buck von dir will.«

»Jawohl, Sir.« Mit trotzigem Blick verschwand Matthew unter Deck.

»Der Junge hat die falsche Einstellung und unmögliche Manieren, Lassiter.«

»Der Junge kann Sie auf den Tod nicht ausstehen«, erwiderte James belustigt. »Ich würde sagen, damit beweist er einen gesunden Instinkt.«

»Diese Expedition neigt sich ihrem Ende zu«, konterte VanDyke, »genau wie meine Geduld und meine Großzügigkeit. Ohne mich wären Sie innerhalb einer Woche pleite.«

»Vielleicht.« James zog den Reißverschluss seines Anzugs hoch. »Vielleicht aber auch nicht.«

»Ich will das Amulett, Lassiter. Sie wissen, dass es da unten liegt, und ich bin davon überzeugt, Sie wissen genau, wo. Ich will es! Ich habe dafür bezahlt, und ich habe für Sie bezahlt.«

»Sie haben für meine Zeit und für mein Können bezahlt, nicht für mich. Die Regeln bei einer Bergung sind eindeutig, VanDyke. Wer den Fluch der Angelique findet, ist sein rechtmäßiger Besitzer.« Und ganz bestimmt würde er nicht auf der Sea Star gefunden werden, so viel stand fest. Er stieß VanDyke leicht mit der Hand vor die Brust. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«

Jene Beherrschung, die er auch in Vorstandssitzungen an den Tag legte, hielt VanDyke davon ab zuzuschlagen. Er gewann seine Machtkämpfe grundsätzlich mit Geduld, Geld und Überlegenheit. Geschäftlicher Erfolg, das wusste er, war ganz einfach eine Frage der Beherrschung.

»Wenn Sie mich zu hintergehen versuchen, werden Sie es bereuen.« Sein Tonfall klang jetzt sanft, und der schwache Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Das verspreche ich Ihnen.«

»Zur Hölle, Silas, wie ich diese Situation genieße!« Leise lachend, betrat James die Kabine. »Lest ihr Jungs dort unten Schundhefte, oder was? Lasst uns loslegen.«

Mit ein paar schnellen Bewegungen prüfte VanDyke oben die Sauerstoffflaschen. Das Ganze war schließlich nur ein Geschäft. Als die Lassiters an Deck kamen, legte er gerade seine eigene Ausrüstung an.

Die drei...