Glück, ich sehe dich anders - Mit behinderten Kindern leben

von: Melanie Ahrens

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838746609 , 284 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Glück, ich sehe dich anders - Mit behinderten Kindern leben


 

GESUNDER LEBENSBEGLEITER


Unsere Pläne, ein Haus ganz nach unserem Geschmack zu bauen, hatten in der Zwischenzeit Gestalt angenommen, und der erste Spatenstich war längst getan. Rolf und sein Vater arbeiteten jede freie Minute an unserem Traum, unterstützt von Rolfs Schwester Silke und anderen fleißigen Helfern. Ich übernahm lediglich ein wenig die Regie, denn ich wollte mich schonen. Ich hatte zu dieser Zeit andere Sorgen: Ich war erneut schwanger – und die Angst groß, dass mit dem Fötus etwas nicht in Ordnung sein könnte.

Nach einer Vorsorge-Untersuchung bei meinem Frauenarzt bestätigte mir dieser dann meine Befürchtungen. Er riet mir zu einem Abbruch, weil der Fötus nicht richtig wachsen würde. Ich war sehr enttäuscht, entschied aber, dass das Baby in meinem Bauch dann eben wegmusste. Und danach würde ich auch kein weiteres Kind mehr bekommen. Ohne irgendeine Hoffnung begab ich mich zur Untersuchung ins Krankenhaus, in dem ich auch bereits Louise entbunden hatte. Dort würde eine Fruchtwasser-Untersuchung noch einmal bestätigen, dass mit dem Fötus etwas nicht stimmte, dachte ich. Doch die Ärzte teilten mir mit, das Baby – ein Mädchen – sei gesund. Gesund? Im ersten Moment konnte ich mich nicht einmal freuen, weil ich so durcheinander war. Ich hatte mich doch bereits mit dem Gedanken abgefunden, dass ein Schwangerschaftsabbruch gemacht werden musste. Ich konnte das Ergebnis nicht fassen.

Die Freude über die neue Schwangerschaft stellte sich dann aber nach und nach ein, und so erwarteten wir einen »gesunden Lebensbegleiter« für Louise, die im Juli 1999, zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin, ihren ersten Geburtstag feierte.

Im September 1999 kam dann Loreen, unsere zweite Tochter, per Kaiserschnitt auf die Welt.

Ich musste noch eine Woche lang mit Loreen im Krankenhaus bleiben, und Rolf kam jeden Tag in die Klinik, um nach uns zu sehen. Louise durfte zweimal mit. Als Rolf und Louise weggingen, brach ich in Tränen aus. Ich vermisste Louise sehr und machte mir Gedanken, dass sie sich vernachlässigt fühlen könnte. Ich dachte, sie hätte nun gesehen, dass ihre Mama sich mit einem anderen Kind abgibt und sich nicht mehr um sie kümmert. Ich war froh, als Loreen und ich endlich nach Hause durften.

Louise freute sich sehr, eine kleine Schwester bekommen zu haben. Sie krabbelte sofort zu Loreen hin und bot ihr ihren Schnuller an. Louise holte alle ihre Teddys, Rasseln und Spieluhren, brachte sie Loreen und legte sich zu ihr auf die Kuscheldecke am Boden. Meine Angst, Louise könne auf die neue Mitbewohnerin eifersüchtig sein, war völlig unbegründet. Im Gegenteil, Louise hieß Loreen willkommen und hatte sie sofort akzeptiert.

Loreen war von Beginn an ein sehr schwieriges Kind. Sie schrie viel und zappelte ständig herum. Sie schlief auch sehr schlecht. Nachts war sie oft von ein Uhr bis sechs Uhr wach und weinte. Richtig panikartig schreckte sie sonst beinahe stündlich hoch und schrie dann für dreißig Minuten. Von allein beruhigte sie sich nie. Sie weinte, strampelte heftig und robbte so in ihrem Bett umher, dass sie mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe stieß. Wir mussten sie abwechselnd durch das Zimmer tragen, an den Beinen massieren und mit viel Händedruck am Rücken reiben, damit sie sich etwas beruhigte. Einschlafen tat sie nur, wenn wir sie in ihre Babyautositzschale setzten und sie anschubsten und schaukelten. Es war eine unerträgliche Situation, da auch wir seit Loreens Geburt keinen erholsamen Schlaf mehr fanden. Zusätzlich mussten wir uns immer sehr leise verhalten, da Loreen schon bei alltäglichen und unvermeidbaren Geräuschen – wie beispielsweise beim Drücken eines Lichtschalters – hochschreckte und schrie.

Irgendwann waren wir fix und fertig mit den Nerven. Wir waren stets unausgeschlafen und hatten ständig schlechte Laune. Außerdem hatte ich große Sorge, dass Louise durch die Unruhe ihrer Schwester – besonders in der Nacht – gestört würde. Aber Louise saß bei den allnächtlichen Schreiattacken ihrer Schwester jedes Mal still in ihrem Bettchen, sie weinte oder meckerte überhaupt nicht. Sie wartete artig, bis wieder Ruhe einkehrte.

Ich hob sie einmal aus dem Bett und setzte sie auf den Wickeltisch. Da sah sie mich mit ihren treuen Augen an und brabbelte: »Mama, Mama, do do dita!« Sie meinte damit ganz bestimmt: »Das wird schon wieder!« Es konnte mich niemand so gut trösten wie Louise.

Louise hatte von klein auf diese ganz besondere Art, mir Wärme, Geborgenheit und Trost zu schenken. Ich fühlte mich in Louises Nähe unendlich wohl. Manchmal konnte ich es gar nicht fassen, Louise war zufrieden und fröhlich, Loreen aber, unser »gesundes« Kind, schrie ständig und zerrte an unseren Nerven. Es wurde mir erst jetzt klar, wie wertvoll mir mein behindertes Kind war.

Da Rolf und ich gern ausgiebig spazieren gingen, kauften wir für die Mädchen einen Zwillingswagen. Die Sitze befanden sich hintereinander, sodass ich den Kinderwagen ohne Probleme durch die Gänge an den Supermarktkassen vorbeischieben konnte. Bei unserem ersten Einkauf mit dem neuen Gefährt meckerte Louise unaufhörlich und gestikulierte zu ihrem Gebrabbel. Es schien ihr nicht zu passen, dass sie Loreen nicht sehen konnte, weil sich die Sitze hintereinander befanden. Also bauten wir den Wagen so um, dass die Kinder sich gegenübersaßen und Louise ihr Schwesterchen während der Fahrt anschauen konnte. Jetzt war Louise zufrieden. Sie ließ ihre geliebte Loreen nicht aus den Augen, und so rissen wir viele Kilometer mit dem tollen Gefährt ab.

Vier Wochen nach Loreens Geburt feierten wir bereits das Richtfest für unser Haus. Oma Hannelore und Opa Wolfgang, die beide Vollzeit arbeiteten, hatten sich an diesem Tag freigenommen, um auf die Mädchen aufzupassen, sodass ich alle nötigen Vorbereitungen für das Fest treffen und zum Richtspruch und Empfang der achtzig Gäste anwesend sein konnte.

Vier Monate später zogen wir dann in unser Eigenheim mitten auf dem Land. Es war alles sehr schön geworden – ein selbst geschaffenes Paradies zum Wohlfühlen: Unser Bauernhaus mit einhundertvierzig Quadratmetern Wohnfläche war rustikal, aus roten dänischen Ziegeln gebaut, mit zweiflügeligen braunen Fenstern auf einem Grundstück von fast tausend Quadratmetern. Die Mädchen hatten beide ein eigenes Zimmer, Loreens mit hellgrünen Tapeten, beige-grün karierten Vorhängen und mit Kiefernholzmöbeln ausgestattet. Louises Zimmer doppelt so groß, die Tapeten orange-gelb, dazu passende orange-gelb karierte Vorhänge, ebenso mit Kiefernholzmöbeln ausgestattet. Morgens krähten die Hühner in der Ferne, und die Kühe muhten auf der gegenüberliegenden Koppel.

Unser Glück wurde allerdings getrübt, da Louise immer häufiger Nahrung erbrach und es ihr nicht gut zu gehen schien. Gelegentliches Erbrechen, Spucken sowieso, waren wir gewohnt. Wir ließen sie immer wieder untersuchen, wurden jedoch jedes Mal ohne Befund nach Hause geschickt. Manchmal erbrach sich Louise jetzt bis zu fünfzehn Mal am Tag. Ich musste sie entsprechend oft umziehen, und als der Schrank einmal leer war, setzte ich sie nackt in die Badewanne. Sie erbrach sich bis zur Erschöpfung. Schließlich brachte ich sie in ihr Bettchen, und sie schlief den Rest des Tages bis zum nächsten Morgen.

Obwohl diese heftigen Attacken anhielten, sah Louise immer noch gut genährt und robust aus. In vier von uns selbst aufgesuchten Kliniken war sie inzwischen untersucht worden. Aber eine organische Ursache wurde nicht gefunden, und die Ärzte redeten uns ein, Louise würde aus »Blödsinn« erbrechen. Man meinte, sie wäre wohl etwas gestört. Und außerdem bekamen wir ständig zu hören: »Das ist bei den Kindern eben nun mal so!«

Louise tat mir sehr Leid. Ihre Mundwinkel waren von der Magensäure, die durch das Erbrechen aufstieg, ganz wund und eingerissen. Ich hätte ihr so gern geholfen und ihre Beschwerden gelindert.

Ich ärgerte mich auch erneut über die Pflegegeldkasse, bei der wir aufgrund des vermehrten Pflegebedarfs durch das Erbrechen bereits während des ersten Lebensjahres einen Antrag auf Pflegegeld gestellt hatten. Der Gutachterin konnten wir das Erbrechen damals jedoch nicht glaubhaft machen. Ich hatte den Eindruck, sie wollte Louises Qual runterspielen. Ihr Blick hatte mir gesagt: Andere Kinder spucken auch, was stellen Sie sich so an, Frau Ahrens!

Eine Zahlung von Pflegegeld war abgelehnt worden.

Könnte die Gutachterin Louise jetzt nur einmal sehen …

Als bei einer von Loreens Vorsorgeuntersuchungen durch unseren Kinderarzt ein Herzgeräusch festgestellt wurde, wollte ich meinen Ohren zuerst nicht trauen. Ich hatte doch schon genug Sorgen mit Louise. Wir wurden in eine Kinderklinik für Herzkrankheiten überwiesen, in der wir auch bereits mit Louise zur Abklärung ihres Herzfehlers – dem kleinen Loch -gewesen waren.

Rolf und ich hofften auf den gleichen Defekt wie bei Louise, der sich dann ganz bestimmt von selbst zurückbilden würde.

Ich fuhr mit Loreen allein zur Klinik.

Rolf konnte uns nicht begleiten, da er arbeiten musste. Seinem Chef war es nicht verständlich zu machen, dass die Anwesenheit von Rolf wichtig war. Nur die Firma zählte, Rolfs Privatleben musste nebenherlaufen, auch wenn man ein behindertes und ein krankes Kind hatte.

In der Klinik wurde bei Loreen ein anderer Herzfehler diagnostiziert als bei ihrer Schwester, eine Verengung an der Lungenschlagader – eine so genannte periphere Pulmonalstenose. Mir war sehr mulmig zumute, als die Ärzte Loreen so ausgiebig betrachteten und sie so lange untersuchten und sich viel sagende Blicke zuwarfen.

Einer der Ärzte hatte einen Bogen in der Hand, auf dem er immer wieder etwas abhakte, wenn die Ärztin bei...