Gilde der Jäger - Engelsdunkel

von: Nalini Singh

LYX, 2013

ISBN: 9783802592058 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Gilde der Jäger - Engelsdunkel


 

1

Auf dem samtig grünen Gras, in dem noch der Tau glitzerte, beobachtete Jason, wie Dmitri das Gesicht der Jägerin umfing, die er gerade zur Frau genommen hatte. Das Licht der aufgehenden Sonne küsste ihre Haut und ließ ihre Augen erstrahlen, die nichts sahen als den Mann, der vor ihr stand.

Das Grundstück, auf dem das Haus des Erzengels Raphael stand, hatte Jahrhunderte vorüberziehen sehen, dachte Jason; jenseits der Klippen rauschte der Hudson vorüber, und Unmengen duftender Rosen kletterten in voller Blüte an den Wänden des Hauses empor. Aber eine Szene wie diese hatte das Anwesen noch nie erlebt und würde es vielleicht auch nicht noch einmal tun: Einer der mächtigsten Vampire der Welt nahm eine Gildenjägerin zur Frau.

Dass Honor Dmitri liebte, stand außer Zweifel. Man musste kein Meisterspion sein, um die hell leuchtende Freude zu sehen, die ihre Haut bei jedem Atemzug erstrahlen ließ. Was Jason verblüffte, waren die starken Emotionen in den Augen des Vampirs, der in all den Jahrhunderten, die Jason ihn kannte, ein erbarmungsloser Krieger gewesen war.

Brutale Strafen gingen Dmitri leicht von der Hand, in letzter Zeit vielleicht zu leicht. Der Vampir war annähernd tausend Jahre alt und von der Zeit abgestumpft. Blut und Tod konnten ihn nicht schrecken, ließen ihn nicht einmal innehalten. Auf dem Schlachtfeld hatte Jason gesehen, wie Dmitri seinen Angreifern mit dem Krummsäbel den Kopf abgeschlagen und das Spritzen des Blutes in ihrem Todeskampf genossen hatte. Und er hatte gesehen, wie Dmitri mit sinnlicher Eleganz und ungerührtem Herzen nur zu seinem Vergnügen Frauen verführt hatte.

Aber in dem Mann, der in diesem Moment Honors Gesicht umfasste und ihre Lippen mit einem besitzergreifenden Kuss eroberte, wohnte eine Zärtlichkeit, die ebenso bedrohlich wie sanft war. Jason erkannte, dass Dmitri ein brutaler Gegner für jeden werden würde, der es wagen sollte, seiner Frau etwas zuleide zu tun. Die Dunkelheit in ihm war nicht bezähmt, nur an die Leine gelegt.

»Angeleint kann er es mit dem Kader nicht aufnehmen«, sagte er zu der Frau, die neben ihm stand, einer Jägerin mit Flügeln in den Farben von Mitternacht und Morgengrauen. Das Tiefschwarz ihrer Federn an den inneren Flügelwölbungen wich einem tiefen, seidigen Blau, um dann in ein weicheres Indigo überzugehen; die Handschwingen schließlich leuchteten in strahlendem Weißgold.

Elena war Raphaels Gemahlin, und Raphael war Jasons Lehnsherr. Vielleicht fühlte er sich in ihrer Gegenwart deshalb so unerwartet entspannt. Oder lag es daran, dass sie, ebenso wie er vor langer Zeit, eine Fremde im Reich der Unsterblichen war und noch nach einem Weg suchte, der sie durch die vor ihr liegenden Jahrhunderte führen würde? Vielleicht lag es aber auch an der viel düstereren Verbindung zwischen ihnen, von der Elena nichts wusste – einer Verbindung, die mit Müttern und Blut zu tun hatte.

Nach Eisen riechende Flüssigkeit verfilzte seine Haare, durchtränkte seine Tunika und klebte zäh an seinen Armen.

Elena sah auf und schüttelte den Kopf. Ihre erstaunlichen, fast weißen Haare hatte sie zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, und das einfache, knöchellange Gewand, das sie trug, war so blau wie ein klarer See, hoch oben in den Bergen. Ihr einziger Schmuck waren die schmalen Bernsteinreifen, die sie immer trug, ein für jeden sichtbares Symbol ihrer Verbindung zu Raphael. »Siehst du es denn nicht, Jason?«, fragte sie, als das Brautpaar sich aus dem langen Kuss löste, bei dem mehr als nur ein Seufzer durch die frische Morgenluft gestrichen war. »Dieser Dmitri ist er nur für Honor.« Sie fiel in das Klatschen und Jubeln ein, als die Frischvermählten sich zu den versammelten Gästen umdrehten und die Gratulanten vortraten, um ihre Glückwünsche auszusprechen.

Jason, der vor der Zeremonie mit Dmitri gesprochen hatte, wartete ab, bis sich die Menge lichtete. Auch Elena blieb stehen und ließ erst die anderen mit dem frisch verheirateten Paar sprechen. So wie Jason vor der Zeremonie bei Dmitri gewesen war – zusammen mit Raphael, Illium und Venom –, war Elena bei Honor gewesen; der Erzengel und seine Gemahlin hatten den Gästen der Braut eine Suite in ihrem Haus zur Verfügung gestellt. Diese Gäste waren allesamt Jäger, und unter den glänzenden, eleganten Kleidern, die sie anlässlich dieser Hochzeit angezogen hatten, trug mit Sicherheit jeder von ihnen die eine oder andere Waffe.

Am Rand seines Blickfeldes flackerte etwas Blaues, und als er sich umdrehte, sah Jason, wie Illium seine Flügel für einen Jäger ausbreitete, der ihn darum gebeten hatte. Der Engel war ebenso in feierliches Schwarz gekleidet wie der Bräutigam, Raphael und die Übrigen der Sieben, die heute anwesend waren, aber auf seinem Gesicht lag ein kokettes Lächeln. Das Lächeln war echt, soweit es reichte; aber es reichte nicht weit. Illium hatte geliebt, bis sein Herz gebrochen war, und er hatte getrauert, bis alles Licht in seinen Augen aus geschmolzenem Gold erloschen war.

»Verstehe«, sagte Jason zu Elena, als sie ihn wieder ansah. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass andere zu unzähligen Nuancen von Gefühlen fähig waren. Über Jahrhunderte hinweg hatte Jason Sterbliche wie Unsterbliche beobachtet und konnte selbst die feinsten Veränderungen in ihrem emotionalen Gleichgewicht erkennen, denn ohne diese Fähigkeit konnte man kein Meisterspion sein. Doch er selbst hatte in all dieser Zeit nie so empfinden können wie sie. Es war, als kratze das Leben nur über seine Oberfläche und ließe sein Herz und seine Seele unangetastet.

»Du bist der perfekte Meisterspion. Ein intelligentes, begabtes Phantom, das von allem, was es sieht, unberührt bleibt.«

Diese Worte hatte vor vierhundert Jahren Lijuan zu ihm gesagt. Außerdem hatte ihm die Älteste unter den Erzengeln ein Angebot gemacht: Reichtum und Frauen, versiert in den sinnlichen Künsten – oder auch Männer, falls er das wünschte –, wenn er die Seiten wechselte und sich in ihre Dienste stellte. Aber Jason hatte bereits genug Wohlstand für hundert unsterbliche Leben verdient und angehäuft. Und was den anderen Punkt anging – wenn Jason eine Frau wollte, bekam er eine. Er brauchte niemanden, der für ihn den Zuhälter spielte.

Sacht strich Elenas Flügel über seinen, als sie sich ein wenig streckte, und Jason wich nicht zurück, um die flüchtige Berührung zu verhindern. In vielerlei Hinsicht war er das Gegenteil von Aodhan, dem Engel, der so zerstört war, dass er nicht die leiseste Berührung ertragen konnte. Jason nämlich fühlte sich manchmal nur dann real und nicht wie das Phantom, als das Lijuan ihn bezeichnet hatte, wenn er den Widerstand von fremder Haut und fremden Flügeln auf seinem Körper spürte. Es war, als hätten all die Jahre, oder vielmehr Jahrzehnte, ohne Berührungen anderer fühlender Wesen einen Durst in ihm geweckt, der niemals gestillt werden konnte.

Aus ihm hätte ein Genusssüchtiger werden können, der sich an Empfindungen berauschte, hätten nicht diese Jahre der quälenden, endlosen Einsamkeit ihre Narben in ihm hinterlassen. Dieser Narben wegen hatte er sich schließlich mit den Schatten verbündet, die er als Kind so gehasst hatte, und diese Narben bedeuteten auch, dass er sein Vertrauen nur sehr zögernd verschenkte. Und so kam es, dass Jason es trotz dieses Bedürfnisses außerhalb des Schlafzimmers nur wenigen gestattete, ihn zu berühren; die Berührung eines Freundes nämlich war etwas ganz anderes als die Zärtlichkeiten einer Geliebten, die man in der Dunkelheit der Nacht genoss und bei Tagesanbruch hinter sich ließ.

»Eine schöne Hochzeit, nicht wahr?«, sagte Elena. Ihr Blick war weich, wie er es bei Frauen zu solchen Anlässen häufig war.

»Wünschst du dir auch eine?« Hochzeiten waren eher etwas für Sterbliche, aber wie der heutige Tag gezeigt hatte, hielten auch einige Unsterbliche daran fest – es war Dmitri gewesen, der am stärksten auf dieser Zeremonie bestanden hatte.

Überraschtes Lachen von Elena. »Raphael und ich haben über den Trümmern von New York geheiratet, als er mit mir in seinen Armen gefallen ist.«

Auch Raphael war bei seiner Gemahlin ein anderer, dachte Jason. Eine Sterbliche, die zum Engel geworden war. Was ihre Macht anging, war sie ein sehr schwacher Engel, ihre Unsterblichkeit glich einer flackernden Flamme, und doch trug sie eine Stärke in sich, die dem Überlebenswillen in ihm gefiel. Deshalb hatte er sie gelehrt, wie sie am Himmel unentdeckt bleiben konnte, und mitangesehen, wie sie ihren Körper gnadenlos bis zum Äußersten strapaziert hatte, um schon bald nach ihrer Erschaffung einen Senkrechtstart zu meistern. Und deshalb hatte er sich auch nach allem umgehört, was eine Gefahr für ihr Leben bedeuten könnte.

Denn Elena war Raphaels größte Schwäche.

Ein leises Kichern war zu hören, und ein kleines Mädchen mit verschmitztem Blick rannte Elena auf wackeligen Beinen entgegen. Ihre schwarzen Locken mit den bronzefarbenen Strähnen wurden an den Seiten von Bändern in sommerlichem Orange zusammengehalten. Mit einem Lächeln voll unverhohlener Freude bückte sich Elena, um das Kind aufzufangen und auf den Arm zu nehmen. »Hallo Zoe, du angehende Kriegergöttin.« Sie drückte einen Kuss auf Zoes rosiges Pausbäckchen, das Blumenmädchenkleid aus zuckersüßer Spitze strich über Elenas Arm. »Bist du deiner Mami entwischt?«

Jason fing den offenen Blick des Kindes auf, als dieses nickte, und sah die silberumrandete Feder in unverkennbarem Blau, die es vorsichtig in seiner Faust hielt. Die Tochter der Gildedirektorin starrte einen Augenblick lang auf seine Flügel, bevor sie Elena etwas ins...