Die Chronik der Unsterblichen - Pestmond

von: Wolfgang Hohlbein

LYX, 2013

ISBN: 9783802590283 , 500 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Die Chronik der Unsterblichen - Pestmond


 

Kapitel 1

Abu Dun starb bei Sonnenaufgang. Es war ein Wunder, dass er nicht schon früher gestorben war. Doch selbst für ein Wesen ihrer Art und einen der stärksten Männer auf dieser Welt waren die Wunden am Ende zu tief gewesen und das Wüten des Kat in seinen Adern zu grausam. Diesen letzten Kampf hatte er verloren. Doch wie alles, was der nubische Riese zeit seines Lebens getan hatte, war auch sein Sterben ein Akt beinahe mythischer Dimension gewesen, wie das Ringen zweier leibhaftiger Naturgewalten, das der grimmige Schnitter am Ende zwar genauso gewann, wie er alle seine Schlachten von Anbeginn der Zeiten an gewonnen hatte, an das er sich aber auch bis ans Ende aller Zeiten zurückerinnern würde.

Aber vielleicht war es auch nur das, was Andrej glauben wollte.

Die Sonne war aufgegangen – vor einer Stunde, vor zwei oder drei? Welche Bedeutung hatte Zeit jetzt schon noch? Er saß noch immer neben seinem toten Freund, hielt dessen gewaltige Pranke in beiden Händen und sah in seine leeren Augen. Obwohl er nicht nur gesehen, sondern auch deutlich gespürt hatte, wie es geschah, weigerte er sich immer noch, die Wahrheit zu akzeptieren. Dabei war sie so einfach wie grausam. Abu Dun war tot.

Das an sich war nichts Außergewöhnliches. In all den Jahrhunderten, die sie sich jetzt kannten, war er unzählige Male gestorben und genauso oft wieder aus der Dunkelheit zurückgekehrt. Aber diesmal war es anders. Vielleicht war er den Weg dieses Mal zu weit gegangen. Vielleicht blieb das allerletzte Geheimnis auch für sie unergründlich, wartete doch hinter der Tür, die sie als Einzige in beide Richtungen durchschreiten zu können glaubten, nur noch eine weitere Tür, hinter der es auch für sie keine Umkehr mehr gab.

Dabei gehörte der Nubier doch so wie er selbst zu jenen, die den uralten Vertrag zwischen Leben und Tod schon vor langer Zeit aufgekündigt hatten und seither als Unsterbliche durch die Welt und die Millennien wanderten. Abu Dun konnte nicht sterben. Und sei es nur, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.

Und dennoch war sein Freund jetzt tot.

Den ganzen Tag und auch noch einen guten Teil der hereinbrechenden Nacht waren sie geritten, bis zuerst Andrejs und dann auch Abu Duns Kamel unter ihrem Gewicht zusammengebrochen und kurz darauf gestorben waren. Selbst dann hatte sich der nubische Gigant noch bis lange nach Mitternacht weitergeschleppt, bis schließlich auch seine gewaltigen Kräfte aufgebraucht waren und er zuerst auf ein Knie und dann auf den Rücken gesunken war, um aus leeren Augen in den sternenklaren Himmel über der Wüste zu starren. Sein letzter Wunsch war es gewesen, die Sonne noch einmal zu sehen, und Abu Dun wäre nicht Abu Dun, hätte er diesen letzten Wunsch nicht dem Tod abgetrotzt. Erst als das goldene Rot der Sonne in seinen Augen schimmerte und das andere unsichtbare und heißere Feuer darin auslöschte, hatte sein Freund endlich seinen Frieden gefunden.

Andrej wusste nicht, ob es wirklich so gewesen war. Doch er hatte entschieden, dass dies seine letzte Erinnerung an Abu Dun sein sollte. Er wusste, dass sie dem Nubier gefallen hätte. Und ihm gefiel sie auch, besser als die an ihre Flucht aus der Oase, die Schreie, den Gestank und wie sie verzweifelt mit dem Schicksal gehadert hatten.

»Ich muss jetzt gehen, mein Freund«, flüsterte er leise, doch statt sich in der Leere ringsum zu verlieren, schienen die Worte von der schieren Weite der Wüste aufgefangen und zu ihm zurückgeworfen zu werden, mit einer verborgenen Botschaft, die er nicht verstand. Vielleicht ein sachter Vorwurf, wenngleich nicht ernst gemeint. Abu Dun eben, der ihn noch im Tode verspottete.

Trotzdem fühlte Andrej sich verpflichtet, mit einem verlegenen Lächeln hinzuzufügen: »Ich kann dich nicht begraben, mein Freund. Ich weiß, dass dein Glaube von dir verlangt, deinen Körper der Erde zurückzugeben, bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht, aber der Boden hier ist zu hart, und ich habe weder Werkzeug noch die nötige Zeit. Sie werden bald hier sein.«

Etwas raschelte, dann hörte er ein ganz leises Schleifen, wie Stoff, der über Metall gezogen wurde, oder ein Fuß, der unachtsam an einen Stein kam. Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der mit einem abgestorbenen Busch spielte – oder ihre Verfolger, die gekommen waren, um zu Ende zu bringen, was sie gestern angefangen hatten.

Er sah nicht einmal hoch.

Sollten sie kommen und ihn töten, es war ihm gleich. Was war er ohne Abu Dun? Nichts als die zurückgelassene Hälfte eines zerbrochenen Ganzen, das auch nur als Ganzes funktionierte und nie wieder werden würde, was es einmal gewesen war. Nutzlos.

Sollten sie kommen und ihn erschlagen. Sie taten damit vielleicht sogar ein gutes Werk – viele Leben, die er in den kommenden Jahrhunderten noch auslöschen mochte, würden so gerettet werden.

Denn wie viele ihrer Art lebten sie von gestohlenem Leben, indem sie die Jahre, die das Schicksal anderen zugedacht hatte, nahmen und ihrer eigenen Lebensspanne hinzufügten. Abu Dun und er waren immer stolz darauf gewesen, nur diejenigen getötet zu haben, die es verdienten, oder um ihre eigenen Leben zu verteidigen oder die derer, die es selbst nicht konnten.

Doch was, fragte er sich nun zum ersten Mal in seinem viel zu langen Leben, wenn es gar keine Rolle spielte, warum sie getötet hatten, und erst recht nicht, wie? Wenn in Wahrheit das der Pakt war, den sie vor so langer Zeit geschlossen hatten, ohne es selbst zu wissen: Dass sie für die ungebührliche Verlängerung ihres Lebens mit Hunderten anderer Leben bezahlten, die sie auslöschten?

Doch jetzt war nicht der Moment für Selbstmitleid. Sein Freund hatte sein Leben geopfert, um ihn zu retten; er war es ihm schuldig, am Leben zu bleiben. Für seinen eigenen Schmerz war später noch Zeit genug. So viel mehr, als ihm lieb war.

Wieder hörte er ein Geräusch, das Knirschen von Schuhwerk auf hartem Stein oder kaum weniger hartem Sand, und diesmal wusste er, dass es nicht der Wind war, sondern jemand, der sich ihm verstohlen zu nähern versuchte. Seine rechte Hand hielt weiter die Abu Duns, während die linke zum Gürtel kroch und sich um den Schwertgriff legte. Eine gleichermaßen alt und brüchig wie auch erstaunlich kraftvoll klingende Stimme sagte: »Wenn er wirklich dein Freund war, dann wird er das verstehen. Ich würde dir helfen, doch ich fürchte, du hast recht. Der Boden hier ist zu hart, um ein Grab auszuheben.«

Andrej schrak weder zusammen, noch sah er zu dem Mann hoch, der so unbemerkt hinter ihm aufgetaucht war. Das brauchte er nicht, seine scharfen Sinne verrieten ihm alles, was er wissen musste. Es war ein einzelner Mann, alt und kaum schwerer als ein Kind, der sich beim Gehen auf einen Stock stützte, obwohl er ihn nicht brauchte. Das leise Rascheln von Stoff auf Metall verriet Andrej, dass er bewaffnet war, doch er strahlte keinerlei Gewalttätigkeit aus und nur sehr wenig Furcht. Dennoch mahnte sich Andrej zur Vorsicht. Als er vergeblich auf eine Antwort wartete, ging der Fremde in respektvollem Bogen um ihn herum, um auf Abu Dun hinabzusehen. Andrej sah seine Einschätzung bestätigt: Es war ein Mann von mindestens sechzig Jahren, wenn nicht älter. Tatsächlich wog er nicht mehr als ein halbwüchsiger Knabe, kam Andrej aber alles andere als gebrechlich vor – obwohl er sein Möglichstes tat, um genau diesen Eindruck zu erwecken, so schwer, wie er sich auf seinen Stock stützte. Dennoch meinte Andrej zu spüren, dass er es ehrlich meinte.

Immerhin schien er ein halbwegs guter Beobachter zu sein, denn nun gab er seinen Mummenschanz auf, ließ den Stock einfach neben sich in den Sand kippen und ging in die Hocke, um dem toten Nubier ins Gesicht zu blicken. »War dein Freund gläubig?«

»Früher einmal«, antwortete Andrej. »Vor sehr langer Zeit.« Und in einem anderen Leben.

»Und du?«

»In einem anderen Leben.« Und früher einmal. Vor sehr langer Zeit.

»Dann war er es auch noch«, sagte der weißhaarige Alte mit einem sonderbar nachsichtigen Nachdruck. »Niemand, der einmal wirklich geglaubt hat, verliert seinen Glauben so einfach.«

Wer hatte gesagt, dass es einfach gewesen war? »Da habe ich andere Erfahrungen gemacht.«

»Und wahrscheinlich glaubst du das sogar, besonders in einem Moment wie diesem. Es ist nicht schlimm, mit Gott zu hadern, weißt du? Er hat durchaus Verständnis dafür. Auch dafür ist er da, musst du wissen.«

Was für eine absurde Situation, dachte Andrej. Saß er tatsächlich neben dem Leichnam seines einzigen Freundes und ließ sich auf ein theologisches Streitgespräch mit einem Wildfremden ein, dessen Namen er nicht wusste, geschweige denn, wer er war und welche Absichten er verfolgte? Er sollte diesen Greis einfach davonjagen oder besser noch auslachen. Stattdessen fragte er: »Wie meinst du das?«

»Viele halten Gott für einen eifersüchtigen Gott, und vielleicht ist er das ja sogar«, antwortete der Greis – auch wenn Andrej sich nun nicht mehr sicher war, ob er tatsächlich einer war. Er war alt, das stimmte, sehr alt sogar, doch Greisenhaftes hatte er wenig an sich. »Aber er ist auch die Stille, die dir zuhört, wenn du deine Wünsche flüsterst, und die Schulter, an der du dich ausweinen kannst. Und er ist der, den du beschuldigen kannst, und sogar der, den du hassen darfst, wenn das das Einzige ist, was deinen Schmerz noch lindert.«

Andrej sah ihn einfach nur an. Der sonderbare Greis hielt seinem Blick gerade lange genug stand, um ihn begreifen zu lassen, dass er sich auf dieses stumme...