Land der Schatten - Schicksalsrad

von: Ilona Andrews

LYX, 2013

ISBN: 9783802589935 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Land der Schatten - Schicksalsrad


 

1

Kaldar Mar trat zurück und unterzog die riesige dreidimensionale Karte des Westkontinents einer kritischen Prüfung. Die Karte, ein mit Juwelen besetztes, aus Magie und Halbedelsteinen gewirktes Meisterwerk, war an der Wand des privaten Konferenzraums ausgebreitet. Wälder aus Malachit und Jade gingen in Ebenen aus Aventurin und Peridot über. Aus den Ebenen wuchsen Berge aus braunem Opal mit Kämmen aus verbundenen Achaten und Tigerauge, gekrönt von Schneegipfeln aus Mondstein und Jaspis.

Schön, komplette Geldverschwendung, aber schön. Wenn man das Ding irgendwie stehlen könnte … würde man für den Transport einen Handwagen und Werkzeug benötigen, um es zu zerlegen. Hm, ein Schalldämpfer würde ebenfalls Wunder wirken, aber da sie sich hier im Weird befanden, würde er ziemlich sicher jemanden auftreiben, der ihm für ein entsprechendes Entgelt eine schallschluckende Sigile herstellte. Man klaut die Uniform eines Hausmeisters, geht rein, zerschneidet die Karte, wickelt die Einzelteile in eine Plane, packt alles auf den Handwagen und schiebt die ganze Chose mit mürrischem Gesicht zur Vordertür hinaus. Mit einem guten Schneidwerkzeug dauert das Ganze weniger als zwanzig Minuten. Die Karte würde die gesamte Familie Mar ein Jahr oder länger ernähren.

Beziehungsweise was von ihr noch übrig war.

Kaldar projizierte aus dem Gedächtnis das vertraute Staatenmuster auf die Karte, ohne dabei die Grenzen der Nationen des Weird zu berücksichtigen. Adrianglia nahm als langes, vertikales Band einen Großteil der Ostküste ein. Im Broken hätte das Land das meiste von New York und des südlichen Quebec bis Georgia und einen kleinen Abschnitt von Alabama beansprucht. Westägypten darunter nahm Florida und einen Teil von Kuba ein. Links von Adrianglia breitete sich das riesige Herzogtum Louisiana aus, umfasste im Süden das komplette Louisiana und einen Teil von Alabama, verschlang weiter oben ganz Mississippi und Texarcana und endete erst an den Ufern der Großen Seen. Dahinter rangen kleinere Nationen miteinander: die Republik Texas, die Nördlichen Breiten, die Demokratie Kalifornien …

Kaldar war an den Rändern dieser Welt aufgewachsen, im Edge, einem schmalen Streifen Land zwischen der komplexen Magie des Weird und der technologischen Überlegenheit des Broken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er im Moor zugebracht, einem riesigen Sumpfgebiet, das durch unpassierbares Gelände vom Rest des Edge abgeschnitten war. Das Herzogtum Louisiana ließ seine Verbannten dort versauern und brachte sie um, wenn sie ins Weird zurückzukehren versuchten. Er hatte daher nur durch das Broken entkommen können. Nun reiste er hin und her, schmuggelte, log, betrog, machte so viel Geld, wie es einem Menschen möglich war, und lieferte es bei seiner Familie ab.

Kaldar sah die Karte an. Jedes Land darauf hatte einen Feind. Jedes steckte bis zum Hals in irgendwelchen Konflikten. Doch der einzige Krieg, der ihn etwas anging, wurde mittendrin ausgetragen, nämlich zwischen dem Herzogtum Louisiana und Adrianglia. Ein sehr stiller, bösartiger Krieg, der unter der Hand von Spionen geführt wurde, ohne Regeln und ohne Gnade. Aufseiten Adrianglias lagen die Spionage und ihre Folgen in der Verantwortung des Spiegels. Kaldar nahm an, dass das Gegenstück des Spiegels im Broken die CIA oder das FBI oder womöglich beide waren. Aufseiten des Herzogtums Louisiana war die verdeckte Kriegsführung der Zuständigkeitsbereich des als die Hand bekannten Geheimdienstes. Er hatte den Zusammenprall beider Organisationen jahrelang von der Seitenlinie aus verfolgt, aber die Rolle des Zuschauers genügte ihm nicht mehr.

Zuerst weckte ihn der Spiegel um zehn vor fünf, und jetzt ließ man ihn schon eine Viertelstunde warten. Bedenklich.

Plötzlich flog die schwere Holztür lautlos auf, und eine Frau betrat den Raum. Sie war von kleiner Statur und in ein mit Silberfäden besticktes kostspieliges blaues Gewand gehüllt, ihr Körper wirkte dürftig. Gewohnheitsmäßig taxierte es Kaldar. Ungefähr fünf Golddublonen im Weird, vermutlich anderthalbtausend oder zweitausend Dollar im Broken. Teuer und offensichtlich maßgeschneidert. Der blaue Stoff passte perfekt zu ihrer Haut, die die Farbe von Haselnussschalen hatte. Das Kleid sollte ihre Macht und Autorität demonstrieren, gebraucht hätte sie das allerdings kaum. Sie bewegte sich, als gehöre ihr die Luft, die sie atmete.

Nancy Virai. Kopf des Spiegels. Sie waren einander nie begegnet – diese Ehre war ihm, arme Edge-Ratte, die er war, nie zuteilgeworden –, aber vorstellen musste sie sich ihm trotzdem nicht.

Er hatte die letzten beiden Jahre kleine Aufträge erledigt, Herausforderungen, ja, aber nichts Besonderes. Nichts, was die Aufmerksamkeit von Lady Virai gerechtfertigt hätte. Kaldar spürte einen Anflug von Vorfreude. Die bevorstehende Unterredung weckte große Erwartungen.

Lady Virai kam näher und blieb fast anderthalb Meter vor ihm an ihrem Schreibtisch stehen. Dunkle Augen in einem ernsten Gesicht musterten ihn. Ihre Iriden ähnelten schwarzem Eis. Wenn man zu lange hineinblickte, kam man vom Kurs ab und prallte mit Höchstgeschwindigkeit gegen die nächste Wand.

»Sie sind Kaldar Mar.«

»Ja, Mylady.«

»Wie lange arbeiten Sie jetzt schon für mich?«

Sie wusste ganz genau, seit wann er dabei war. »Seit fast zwei Jahren, Mylady.«

»Gegen Sie lagen in zwei Provinzen Haftbefehle vor, die wir am Tag Ihrer Einstellung aufgehoben haben, und Sie haben ein langes Vorstrafenregister im Herzogtum Louisiana.« Nancys Miene zeigte kein Erbarmen. »Sie sind ein Schmuggler, Betrüger, Spieler, Dieb, Lügner und Gelegenheitsmörder. Kein Wunder, dass Sie sich bei diesem Lebenslauf für den Spiegel entschieden haben. Nur so aus Neugier, gibt es ein Gesetz, gegen das Sie nicht verstoßen haben?«

»Ja, ich habe niemanden vergewaltigt. Außerdem hatte ich niemals Geschlechtsverkehr mit Tieren. So viel ich weiß, gibt es in Adrianglia ein Gesetz dagegen.«

»Und Sie haben ein loses Mundwerk.« Nancy verschränkte die Arme. »Unserer Vereinbarung mit Ihrer Familie und der Klausel zufolge, nach der wir Ihre Leute aus dem Edge holen, gelten Sie von nun an als Bürger Adrianglias. Ihre Schulden werden in vollem Umfang von Ihrer Cousine Cerise Sandine und deren Gatten beglichen. Ihnen steht es frei, jeden Beruf Ihrer Wahl auszuüben. Trotzdem kamen Sie zu mir. Verraten Sie mir den Grund?«

Kaldar lächelte. »Ich bin dem Königreich für die Befreiung meiner Familie zu Dank verpflichtet. Ich besitze eine einzigartige Kombination von Talenten, die der Spiegel für nützlich erachtet, und ich will mich, was die Tilgung meiner Schulden angeht, nicht auf meine liebreizende Cousine und William verlassen. William ist ein netter Kerl, ab und an ein bisschen reizbar, und manchmal wächst ihm Fell, aber schließlich hat jeder so seine Macken. Ich würde mich mies fühlen, wenn ich ihm etwas schuldig bliebe. Als würde ich damit seine Gutmütigkeit ausnutzen.«

Nancys kalte Augen blickten ihn eine Sekunde lang an. »Menschen wie Sie nutzen grundsätzlich die Gutmütigkeit anderer aus.«

Er lachte leise in sich hinein.

»Sie lügen, ohne rot zu werden, und ihr Lächeln ist eine besonders hübsche Zugabe. Ich nehme an, ihr Gesicht leistet Ihnen, vor allem wenn es um Frauen geht, gute Dienste.«

»Es ist recht nützlich.«

Lady Virai sah ihn lange nachdenklich an. »Sie sind ein Halunke.«

Darauf verbeugte er sich mit der ganzen Anmut eines blaublütigen Prinzen.

»Sie kamen schlau, aber arm auf die Welt. In mir sehen Sie eine verwöhnte, reiche Frau, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. Sie glauben, dass ich und die Angehörigen meiner Gesellschaftsschicht nicht zu schätzen wissen, was sie haben, deshalb gefällt es Ihnen, der Aristokratie die kalte Schulter zu zeigen.«

»Sie halten eindeutig zu viel von mir, Mylady.«

»Ersparen Sie mir Ihr Gewäsch. Sie geben sich damit ab, Sand ins Getriebe zu streuen, Sie hassen Befehle und brechen das Gesetz nur, weil es existiert. Sie können nicht anders. Dennoch kamen Sie vor zwei Jahren mit Zaumzeug und Sporen zu mir und wollten von mir geritten werden. Und seitdem verhalten Sie sich seltsam gesetzestreu. Sie waren gut, Kaldar. Natürlich innerhalb vernünftiger Grenzen. Immerhin war da die Sache mit der Bank, die auf rätselhafte Weise in Brand geriet.«

»Reiner Zufall, Mylady.«

Lady Virai verzog das Gesicht. »Davon bin ich überzeugt. Ich muss wissen, warum Sie sich das alles antun, und ich habe keine Zeit zu verschwenden.«

Das Problem mit der Wahrheit bestand darin, dass sie dem Gegner Munition lieferte, die dieser dann gegen einen verwenden konnte. Und einer Frau wie Nancy Virai drückte man nicht einfach eine geladene Waffe in die Hand. Es sei denn, es blieb einem nichts anderes übrig. Wenn er jetzt den Geheimniskrämer spielte und es mit Lügen versuchte, würde sie ihn durchschauen und in der nächsten Sekunde vor die Tür setzen. Er würde weiterhin kurzfristige Aufträge erledigen. Dabei hatte er zwei Jahre auf seine Chance gewartet. Also musste er jetzt ehrlich sein. »Vergeltung«, sagte Kaldar.

Sie sagte nichts.

»Die Hand hat meine Leute getötet«, erklärte er. »Meine Tanten, meine Onkel, meine Cousins, meinen kleinen Bruder. Bevor die Hand in unserer kleinen Ecke des Edge erschien, gab es sechsunddreißig Erwachsene in unserer Familie. Jetzt sind es noch fünfzehn, die einen Haufen Waisenkinder aufziehen.«

»Wollen Sie die Agenten der Hand tot sehen?«

»Nein.« Kaldar lächelte abermals. »Ich...