Stadt der Finsternis - Ruf der Toten

von: Ilona Andrews

LYX, 2012

ISBN: 9783802587498 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Stadt der Finsternis - Ruf der Toten


 

Prolog

Das Klingeln des Telefons riss mich aus dem Schlaf. Ich zwängte meine Augenlider auseinander und rollte mich vom Bett. Aus irgendeinem Grund hatte jemand den Boden etwa einen Meter tiefer gelegt, als ich erwartet hatte, sodass ich krachend auf die Nase fiel.

Aua!

Ein blonder Kopf tauchte über der Bettkante auf, und eine vertraute männliche Stimme fragte: »Alles in Ordnung mit dir da unten?«

Curran. Der Herr der Bestien war in meinem Bett. Nein, Moment. Ich hatte gar kein Bett, weil meine wahnsinnige Tante meine Wohnung verwüstet hatte. Ich war die Partnerin des Herrn der Bestien, was bedeutete, dass ich mich in der Festung befand, genauer gesagt, in Currans Gemächern, in seinem Bett. Unserem Bett. Das etwa anderthalb Meter hoch war. Richtig.

»Kate?«

»Mir geht’s gut.«

»Möchtest du, dass ich für dich eine Kinderrutsche einbauen lasse?«

Ich zeigte ihm meinen Mittelfinger und nahm das Telefon. »Ja?«

»Guten Morgen, Gemahlin«, sagte eine weibliche Stimme.

Gemahlin? Das war neu. Normalerweise nannten die Gestaltwandler mich Alpha oder Lady und gelegentlich Partnerin. Als Partnerin bezeichnet zu werden rangierte auf meiner Liste der Dinge, die ich hasste, irgendwo zwischen sauer gewordener Milch und einer Wurzelbehandlung. Deshalb hatten die meisten Leute inzwischen kapiert, dass sie diesen Begriff besser vermieden.

»Ich habe den stellvertretenden Direktor Parker in der Leitung. Er sagt, es sei dringend.«

Es ging um Julie. »Stell ihn durch.«

Julie war mein Mündel. Vor neun Monaten »engagierte« sie mich für die Suche nach ihrer verschwundenen Mutter. Stattdessen fanden wir die Leiche ihrer Mutter, gefressen von keltischen Meeresdämonen, die beschlossen hatten, mitten in Atlanta aufzutauchen und einen Möchtegerngott wiederauferstehen zu lassen. Die Sache lief nicht besonders gut für die Dämonen. Auch nicht für Julie, sodass ich sie adoptierte, genauso wie Greg, mein inzwischen verstorbener Vormund, vor einigen Jahren mich unter seine Fittiche genommen hatte, nachdem mein Vater von uns gegangen war.

In meiner Umgebung kamen immer wieder Menschen zu Tode, meistens auf schreckliche und blutige Weise. Also hatte ich Julie auf das beste Internat geschickt, das ich finden konnte. Das Problem war nur, dass Julie die Schule mit der glühenden Leidenschaft von tausend Sonnen hasste. In den vergangenen sechs Monaten war sie dreimal abgehauen. Als der stellvertretende Direktor Parker das letzte Mal angerufen hatte, war Julie im Umkleideraum von einem Mädchen vorgeworfen worden, während der zwei Jahre, die sie auf der Straße gelebt hatte, eine Hure gewesen zu sein. Daran hatte mein Pflegekind Anstoß genommen und beschlossen, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, indem es den Kopf der Verleumderin mit einem Stuhl bearbeitete. Ich hatte ihr geraten, das nächste Mal auf die Magengegend zu zielen, weil man da weniger Spuren hinterließ.

Wenn Parker anrief, steckte Julie in Schwierigkeiten, und wenn er um sechs Uhr morgens anrief, konnte es sich nur um ausgewachsene Schwierigkeiten handeln. Julie machte nur selten halbe Sachen.

Das Zimmer lag im Dunkeln. Wir befanden uns im obersten Stockwerk der Festung. Links von mir bot ein Fenster einen Ausblick auf das Land des Rudels. Ein endloser schwarzer Himmel, noch völlig unberührt von der Dämmerung, und darunter nachtdunkler Wald. In der Ferne verunzierte die halb in Trümmern liegende Stadt den Horizont. Die Magie war in vollem Schwange wir hatten Glück, dass die Telefonverbindungen nicht lahmgelegt waren , die industriellen Feenlampen glommen wie winzige blaue Sterne zwischen den zerbröckelnden Gebäuden. Ein Wehrzauber schützte das Fenster, und wenn das Mondlicht im richtigen Winkel darauf fiel, schimmerte die Landschaft in blassem Silber, als würde man sie durch eine Gardine betrachten.

Die weibliche Stimme meldete sich zurück. »Gemahlin?«

»Ja?«

»Er hält mich in der Warteschleife.«

»Habe ich das richtig verstanden? Er ruft an, weil es dringend ist, und lässt dich dann warten?«

»Ja.«

Blödmann.

»Soll ich auflegen?«, fragte sie.

»Nein, schon gut. Ich warte.«

Der Pulsschlag der Welt setzte für einen Moment aus. Das Wehr am Fenster verschwand. Etwas summte in der Wand, und die elektrische Stehlampe links von mir erwachte flackernd zum Leben, um den Nachttisch in einen warmen gelben Schein zu tauchen. Ich schaltete sie aus.

In der Ferne erloschen die blauen Sterne der Feenlampen. Einen Atemzug lang war die Stadt dunkel. Zwischen den Ruinen leuchtete weiß ein heller Blitz auf und erblühte zu einer Explosion aus Licht und Feuer. Kurz darauf rollte ein Donnerschlag durch die Nacht. Wahrscheinlich ein Transformator, der nach dem Rückzug der Magie in die Luft geflogen war. Ein schwacher rötlicher Schein lag über dem Horizont. Man hätte meinen können, es sei der Sonnenaufgang, aber soweit mir bekannt war, ging die Sonne im Westen und nicht im Südwesten auf. Ich betrachtete blinzelnd das rote Licht. Ja, Atlanta brannte. Wieder einmal.

Die Magie verflüchtigte sich aus der Welt, und die Technik hatte wieder die Oberhand. Man bezeichnete es als Nachwende-Resonanz. Die Magie kam und ging nach Belieben, um die Welt wie ein Tsunami zu überfluten, bizarre Monstren in die Realität zu schwemmen, Maschinen und Feuerwaffen unbrauchbar zu machen, an Hochhäusern zu nagen und schließlich ohne Vorwarnung wieder zu verschwinden. Niemand wusste, wann sie zuschlug oder wie lange eine Welle anhalten würde. Irgendwann würde die Magie diesen Krieg gewinnen, aber vorläufig lieferte die Technik ihr einen erbitterten Kampf, und wir steckten mitten im Chaos und bemühten uns, eine großteils in Trümmern liegende Welt nach neuen Regeln wiederaufzubauen.

Im Telefon klickte es, und Parkers Bariton drang mir ins Ohr. »Guten Morgen, Mrs Daniels. Ich rufe an, um Sie darüber zu informieren, dass Julie das Gelände unseres Internats verlassen hat.«

Nicht schon wieder.

Currans Arme legten sich um mich und drückten mich an seinen Körper. Ich lehnte mich zurück. »Wie?«

»Sie hat sich selbst versandt.«

»Wie bitte?«

Parker räusperte sich. »Wie Ihnen bekannt ist, sind alle unsere Schüler verpflichtet, pro Tag zwei Stunden Schuldienst abzuleisten. Julie hat in der Postabteilung gearbeitet. Wir hielten das für eine gute Wahl, weil sie dort nahezu ständig unter Aufsicht war und keine Gelegenheit hatte, das Gebäude zu verlassen. Anscheinend besorgte sie sich eine große Kiste, fälschte einen Adressaufkleber und ließ sich dann in der Kiste versenden.«

Curran gluckste mir ins Ohr.

Ich drehte mich um und schlug ein paarmal mit dem Kopf gegen seinen Brustkorb. Er war die am leichtesten erreichbare harte Fläche.

»Wir haben die Kiste in der Nähe der Ley-Linie gefunden.«

Wenigstens war sie schlau genug gewesen, aus der Kiste zu steigen, bevor sie in die magische Strömung befördert wurde. Andernfalls wäre sie womöglich nach Kap Hoorn verschifft worden.

»Sie wird hierherkommen«, sagte ich. »In ein paar Tagen bringe ich sie zurück.«

Parker sprach seine nächsten Worte sehr deutlich aus. »Das wird nicht nötig sein.«

»Nicht nötig? Wie meinen Sie das?«

Er seufzte. »Mrs Daniels. Wir sind Lehrkräfte und keine Gefängniswärter. Im vergangenen Schuljahr ist Julie dreimal ausgerissen. Sie ist ein sehr intelligentes, äußerst erfindungsreiches Kind, und es ist leider nur zu offensichtlich, dass sie nicht hier sein möchte. Wir müssten sie an die Wand ketten, um sie hier zu halten, und ich bin mir nicht einmal sicher, dass wir es damit schaffen würden. Ich habe nach ihrer letzten Eskapade mit ihr gesprochen, und meiner Meinung nach wird sie immer wieder verschwinden. Sie möchte nicht zu dieser Schule gehören. Um sie gegen ihren Willen hier festzuhalten, wäre ein immenser Aufwand von unserer Seite nötig, und wir können es uns nicht leisten, für mögliche Verletzungen haftbar gemacht zu werden, die Julie sich bei diesen Fluchtversuchen möglicherweise zuzieht. Wir werden Ihnen das Schulgeld anteilig zurückerstatten. Es tut mir sehr leid.«

Hätte ich ihn durch das Telefon packen können, hätte ich ihn erwürgt. Würde ich jedoch tatsächlich über eine solche Fähigkeit verfügen, hätte ich stattdessen Julie von wo auch immer in dieses Zimmer holen können. Sie würde mich anflehen, in diese verdammte Schule zurückkehren zu dürfen

Parker räusperte sich erneut. »Ich habe hier eine Liste mit alternativen Erziehungseinrichtungen, die ich Ihnen empfehlen «

»Das wird nicht nötig sein.« Ich legte auf. Ich hatte bereits eine Liste mit alternativen Erziehungseinrichtungen. Ich hatte sie nach Julies erster Flucht zusammengestellt, und Julie kam für keine mehr infrage.

Auf Currans Gesicht stand ein breites Grinsen.

»Das ist nicht witzig.«

»Das ist sehr witzig. Außerdem ist es viel besser so.«

Ich riss meine Jeans vom Stuhl und zog sie an. »Mein Kind ist von der Schule geflogen. Was zum Henker soll daran besser sein?«

»Wohin gehst du?«

»Ich werde Julie suchen und ihr den Hintern versohlen, bis sie vergisst, wie die Sonne aussieht. Und dann statte ich diesem Internat einen Besuch ab und reiße den Leuten dort die Beine aus.«

Curran lachte.

»Das ist nicht witzig.«

»Aber es ist wirklich nicht ihre Schuld. Sie haben...