Die Flammen der Dämmerung - Roman

von: Peter V. Brett

Heyne, 2013

ISBN: 9783641076795 , 1056 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Die Flammen der Dämmerung - Roman


 

1

Arlen

333 NR – Sommer
30 Morgendämmerungen vor Neumond

Renna küsste Arlen noch einmal. Eine sanfte Brise strich über den dünnen Schweißfilm auf ihren Körpern und kühlte sie, während sie in der heißen Nacht keuchten.

»Ich habe mich schon gefragt, ob du unter dieser Stoffwindel auch tätowiert bist«, sagte sie. Sie kuschelte sich dicht an ihn heran, legte den Kopf auf seine nackte Brust und lauschte dem Schlag seines Herzens.

Arlen lachte und legte seinen Arm um sie. »Das Ding nennt man Bido. Und selbst meine Besessenheit hat Grenzen.«

Renna hob den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht brauchst du nur einen Bannzeichner, dem du vertraust. Es ist die Pflicht einer Ehefrau, sich gut um das zu kümmern, was sich im Bido ihres Mannes befindet. Ich könnte dich mit Schwarzstängelsaft bemalen …«

Arlen schluckte, und sie sah, dass sich seine Haut rötete. »Die Siegel würden ihre Form verändern, noch während du sie zeichnest.«

Renna lachte, schlang die Arme um ihn und ließ den Kopf wieder auf seine Brust sinken.

»Manchmal frage ich mich, ob ich verrückt bin«, sagte sie dann.

»Warum?«

»Gelegentlich kommt es mir vor, als säße ich immer noch in Selias Spinnstube und würde ins Leere starren. Alles, was seitdem passiert ist, erscheint mir wie ein Traum. Vielleicht hat meine Fantasie mich nur an einen sonnigen Ort versetzt, und da hänge ich nun fest.«

»Du hast eine merkwürdige Vorstellung von einem sonnigen Ort«, fand Arlen.

»Überhaupt nicht«, widersprach Renna. »Ich bin Harl und diese verfluchte Farm losgeworden, fühle mich stärker, als ich es je für möglich gehalten hätte, und tanze des Nachts unter freiem Himmel.« Mit der Hand vollführte sie eine weitausholende Geste. »Alles glänzt in bunten Farben.« Sie sah ihn an. »Und ich bin mit Arlen Strohballen zusammen. Für mich kann es keinen sonnigeren Ort geben.«

Renna biss sich auf die Lippe, als die Worte in ihr hochsprudelten. Worte, die sie oft gedacht, aber niemals laut auszusprechen gewagt hatte. Teils zögerte sie, weil sie Arlens Reaktion fürchtete, aber auch sie selbst hegte viele Zweifel. Alle Gerber-Schwestern hatten sich bereitwillig in das Bett des erstbesten anständigen Mannes gelegt, den sie trafen, aber war eine von ihnen jemals verliebt gewesen?

Als sie noch Kinder waren, hatte Renna geglaubt, sie würde Arlen lieben, aber sie kannte ihn nur von fern; mittlerweile wusste sie, dass ihre Zuneigung weniger dem Jungen selbst galt, sondern den Eigenschaften, die sie ihm in ihrer Fantasie angedichtet hatte.

Im letzten Frühling hatte Renna sich eingeredet, sie würde Cobie Fischer lieben, aber jetzt wusste sie, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hatte. Cobie war kein übler Bursche gewesen, aber Renna hätte vermutlich auch jeden anderen Mann, der zu Harls Farm gekommen wäre, verführt. Sie hätte alles getan, nur um wegzukommen, denn überall war es besser als dort, und jeder dahergelaufene Mann war besser als ihr Dad.

Aber Renna hatte das Lügen satt. Und sie war es leid, zu schweigen.

»Ich liebe dich, Arlen Strohballen«, sagte sie.

Ihr Mut verließ sie, sobald ihr die Worte entschlüpft waren, und sie hielt den Atem an. Aber ohne zu zögern, zog Arlen sie fester in seine Arme. »Und ich liebe dich, Renna Gerber.«

Sie blies den Atem aus, und all ihre Ängste und Zweifel verschwanden.

Renna war so aufgeladen mit Magie, dass sie nicht einschlafen konnte, aber sie sehnte den Schlaf auch nicht herbei. Sie fühlte sich behaglich und geborgen und wunderte sich fast ein bisschen, wie es möglich war, dass sie und Arlen erst vor ein paar Stunden an genau dieser Stelle gegen einen Dämonenprinzen und seine Diener gekämpft hatten. Die Welt schien eine andere zu sein. Das Leben war anders. Für eine kurze Zeit waren sie entkommen.

Doch während der Schweiß trocknete und die Glut der Leidenschaft abklang, drang die reale Welt wieder auf sie ein, schrecklich und beängstigend. Sie waren von den Kadavern toter Horclinge umgeben, schwarzes Dämonenblut war über die gesamte Lichtung gespritzt. Ein Dämon, der seine Gestalt verwandeln konnte, hatte immer noch ihre Form; der Kopf war glatt abgetrennt und aus der Wunde troff ein schwarzes Sekret. In ihrer Nähe lag immer noch Schattentänzer mit geschienten Beinen, der um ein Haar von einem Mimikrydämon getötet worden wäre.

»Ich muss Schattentänzer heilen, damit er wieder laufen kann«, sagte Arlen. »Und auch dann wird es ein, zwei Nächte dauern, bis er wieder voll bei Kräften ist.«

Renna ließ den Blick über die Lichtung wandern. »Die Vorstellung, noch eine Nacht hier zu verbringen, gefällt mir nicht.«

»Mir genauso wenig«, gab Arlen zu. »Morgen werden die Horclinge von diesem Platz angezogen werden wie Würmer von einer Regenpfütze. Unweit von hier habe ich einen sicheren Unterschlupf mit einem Wagen, der groß genug ist, um Schattentänzer zu befördern. Ich kann ihn holen und bin dann kurz nach Sonnenaufgang wieder zurück.«

»Trotzdem wirst du den Anbruch der Nacht abwarten müssen«, sagte Renna.

Arlen legte den Kopf schräg. »Warum?«

»Das Pferd wiegt mehr als das Haus deines Dads«, erklärte Renna. »Wie sollen wir es ohne die Kraft, die die Nacht uns gibt, auf den Wagen hieven? Und wer soll den Karren überhaupt ziehen?«

Arlen sah sie an, und trotz der eintätowierten Siegel, die sein ganzes Gesicht bedeckten, verriet ihr seine Miene alles. »Hör auf damit!«, schnappte sie.

»Womit soll ich aufhören?«, fragte Arlen.

»Zu überlegen, ob du mich belügen sollst oder nicht. Wir sind jetzt einander versprochen, und zwischen Mann und Frau darf es keine Lügen geben.«

Verdutzt schaute Arlen sie an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich hatte nicht vor, dich richtig zu belügen. Ich versuche nur zu entscheiden, ob es an der Zeit ist, dir etwas zu erzählen.«

»Jetzt ist der rechte Zeitpunkt, um mit der Wahrheit rauszurücken. Andernfalls kannst du was erleben«, betonte Renna. Arlen sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, aber sie hielt seinem Blick stand, und nach einer Weile zuckte er mit den Schultern.

»Während des Tages verliere ich nicht meine gesamte Kraft«, sagte er. »Selbst unter der Mittagssonne könnte ich wahrscheinlich eine Milchkuh hochheben und weiter weg schleudern, als du einen Flusskiesel werfen kannst.«

»Und was macht dich so besonders?«, fragte Renna.

Wieder streifte Arlen sie mit diesem seltsamen Blick; sie funkelte ihn wütend an und drohte ihm halb scherzend, halb im Ernst mit der Faust.

Arlen lachte. »Ich erzähle dir alles, nachdem wir meinen Unterschlupf erreicht haben, Ehrenwort.«

Renna grinste. »Gib mir darauf einen Kuss, und ich bin zufrieden.«

Während Renna auf Arlens Rückkehr wartete, holte sie die Bannzeichner-Ausrüstung heraus, die Arlen ihr gegeben hatte. Sie legte ein sauberes Tuch auf den Boden und verteilte die Werkzeuge in einer ordentlichen Reihe darauf. Dann nahm sie ihre Halskette aus Flusskieseln und ihr Messer und fing an, die Sachen langsam, sorgfältig und liebevoll zu säubern.

Die Halskette hatte Cobie Fischer ihr zu ihrem Verlöbnis geschenkt, eine kräftige Kordel, auf die Dutzende von glattpolierten Steinen aufgefädelt waren. Sie war so lang, dass Renna sie zweimal um ihren Hals schlingen konnte und sie trotzdem noch unter ihren Brüsten hing.

Das Messer hatte ihrem Vater, Harl Gerber, gehört. Er hatte es immer an seinem Gürtel getragen, und es war rasiermesserscharf. Damit hatte er Cobie ermordet, als sie weglief, um mit ihm zusammen zu sein, und sie wiederum hatte mit dieser Klinge ihren Vater erstochen.

Wenn das nicht passiert wäre, wären Renna und Cobie verheiratet gewesen, als Arlen nach Tibbets Bach zurückkam. Die Halskette war ein Symbol dafür, dass sie Arlen nicht die Treue gehalten hatte, ein Verlobungsgeschenk von einem anderen Mann. Das Messer erinnerte sie an ihren Vater, der sie ihr Leben lang in einen ganz persönlichen Horc eingesperrt hatte.

Aber Renna brachte es nicht über sich, sich von den beiden Dingen zu trennen. Immerhin stellten sie ihren einzigen Besitz dar, waren das Einzige, was sie aus ihrem Leben im Tageslicht in die Nacht mitgenommen hatte. Beide Gegenstände hatte sie mit Schutzsymbolen versehen, die Halskette mit Abwehrsiegeln und das Messer mit Siegeln für den Angriff. Zur Not konnte die Kette als Bannzirkel dienen, aber als Würgeschlinge war sie noch viel wirkungsvoller. Und das Messer …

Das Messer hatte die Brust eines Horcling-Prinzen durchbohrt. Selbst jetzt noch sah sie mit ihren durch Siegel geschärften Augen seine hell leuchtende Magie. Nicht nur die Siegel glänzten, die gesamte Klinge schimmerte in einem matten Licht. Bei der leisesten Berührung schnitt sie sich den Finger blutig.

Sie wusste, dass die Macht von der Sonne weggebrannt würde,...