Elf Minuten

von: Paulo Coelho

Diogenes, 2013

ISBN: 9783257602579 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Elf Minuten


 

[12] Drei Jahre vergingen, Maria besuchte weiter die Schule, lernte Mathematik und Erdkunde, schaute sich regelmäßig die Serien im Fernsehen an, las in der Schule unter dem Pult die ersten erotischen Zeitschriften. Sie begann auch ein Tagebuch, dem sie ihr, wie sie fand, uninteressantes Leben anvertraute und ihre Sehnsucht nach der weiten Welt, von der ihnen der Erdkundelehrer erzählte – den Meeren, den schneebedeckten Alpen, aber auch von den Männern mit Turban und eleganten, schmuckbehangenen Frauen. Aber da das Leben nicht nur aus unerfüllbaren Wünschen bestehen kann – vor allem, wenn die Mutter Schneiderin ist und der Vater auf dem Feld arbeitet und fast nie zu Hause ist –, begriff Maria bald, daß sie ihrer Umgebung mehr Beachtung schenken sollte. Sie lernte eifrig, um es im Leben zu etwas zu bringen, während sie zugleich jemanden suchte, mit dem sie ihre Sehnsucht nach Abenteuern teilen konnte.

Mit fünfzehn verliebte sie sich in einen Jungen, den sie während einer Karwochenprozession kennengelernt hatte. Sie machte denselben Fehler nicht noch einmal: Die beiden redeten miteinander, freundeten sich an, gingen zusammen ins Kino und auf Partys. Erneut stellte sie fest, daß die Liebe mehr mit der Abwesenheit als mit der Gegenwart der geliebten Person zu tun hatte: Wenn sie den Jungen nicht sah, vermißte sie ihn, und sie verbrachte Stunden damit, sich auszumalen, was sie beim nächsten Wiedersehen [13] sagen würde, erinnerte sich an jeden Augenblick, den sie zusammen verbracht hatten, und grübelte, was sie richtig oder falsch gemacht hatte. Sie gefiel sich in der Rolle des schon etwas erfahreneren Mädchens, das schon eine Liebe hatte gehen lassen und es bitter bereute. Jetzt war sie wild entschlossen, um den jungen Mann zu kämpfen: sie wollte heiraten, Kinder haben, in dem Haus am Meer wohnen. Ihre Mutter, mit der sie sich besprach, fand sie dafür noch zu jung.

»Aber du warst doch auch erst sechzehn, als du Vater geheiratet hast!«

Die Mutter wollte nicht zugeben, daß eine ungewollte Schwangerschaft der Grund gewesen war, und brach das Gespräch sofort ab.

»Damals war eben alles anders«, sagte sie nur.

Am nächsten Tag durchstreifte Maria mit dem Jungen die Felder vor dem Städtchen. Sie unterhielten sich, und Maria fragte, ob er auch so große Lust habe zu reisen; als Antwort nahm er sie in den Arm und küßte sie.

Der erste Kuß ihres Lebens! Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt! Noch dazu vor dieser Kulisse – mit den fliegenden Reihern, dem Sonnenuntergang, der wilden Steppenlandschaft, in die von ferne Musik herüberschallte. Maria tat erst so, als wolle sie nicht, doch bald küßte sie ihn auch oder tat vielmehr, was sie so oft im Kino, in Illustrierten und im Fernsehen gesehen hatte: Sie rieb ihre Lippen heftig an seinen und bewegte dabei ihren Kopf halb rhythmisch, halb unkontrolliert von einer Seite zur anderen. Sie spürte, daß die Zunge des Jungen hin und wieder ihre Zähne berührte, und fand das köstlich.

[14] Da hörte er plötzlich auf, sie zu küssen.

»Willst du nicht?« fragte er.

Was sollte sie darauf antworten? Was wollte er? Natürlich wollte sie. Aber eine Frau durfte sich doch nicht gleich hingeben, vor allem nicht ihrem zukünftigen Ehemann, sonst wurde er womöglich mißtrauisch und hielt sie für ein leichtfertiges Mädchen. Darum sagte sie lieber nichts.

Er umarmte und küßte sie wieder, aber mit spürbar weniger Begeisterung. Dann hörte er auf. Er war ganz rot im Gesicht – und Maria merkte, daß etwas nicht stimmte, hatte aber Angst zu fragen. Sie nahm ihn bei der Hand, und sie gingen ins Städtchen zurück, wobei sie über belanglose Dinge redeten, als wäre nichts geschehen.

In jener Nacht schrieb sie in dem Bewußtsein, daß etwas Schlimmes passiert war, in wohlgesetzten und auch etwas umständlichen Worten in ihr Tagebuch:

Wenn wir jemandem begegnen und uns in ihn verlieben, haben wir das Gefühl, daß das ganze Universum einverstanden ist; heute habe ich das bei Sonnenuntergang erlebt. Wenn jedoch etwas nicht klappt, wenn etwas schiefläuft, dann ist plötzlich alles dahin, als wäre es nie gewesen: die Reiher, die Musik in der Ferne, der Geschmack seiner Lippen. Wie kann soviel Schönheit von einer Minute auf die andere vergehen?

Das Leben rast mit uns dahin, und innerhalb von Sekunden gelangen wir vom Himmel in die Hölle.

Am nächsten Tag redete sie mit ihren Freundinnen. Alle hatten gesehen, daß sie mit ihrem ›Liebsten‹ [15] spazierengegangen war – es reicht schließlich nicht, daß man eine große Liebe hat, man muß auch alles tun, damit die anderen wissen, daß man begehrt ist. Die Freundinnen waren sehr neugierig darauf, zu erfahren, was passiert war, und Maria berichtete stolz, das Beste sei die Zunge gewesen, die ihre Zähne berührt habe. Eins der Mädchen lachte.

»Hast du den Mund nicht aufgemacht?«

Schlagartig wurde ihr alles klar – die Frage, die Enttäuschung.

»Wozu?«

»Damit die Zunge hineinkann.«

»Und was ist der Unterschied?«

»Dafür gibt es keine Erklärung. Man küßt nun mal so.«

Heimliches Kichern, mitleidiges Lächeln – eine süße Genugtuung für jene Mädchen, in die sich noch kein Junge verliebt hatte. Maria tat so, als wäre das nicht weiter wichtig, und stimmte in ihr Gelächter ein – obwohl ihr eigentlich zum Weinen zumute war. Insgeheim verfluchte sie die Filme, von denen sie gelernt hatte, daß man beim Küssen die Augen schließt, den Kopf des anderen zwischen beide Hände nimmt, die Lippen aneinander reibt, die ihr aber das Wesentliche, das Wichtigste, vorenthalten hatten. Sie redete sich ein: Ich wollte mich nicht gleich hingeben, weil ich nicht überzeugt war, doch jetzt habe ich herausgefunden, daß du der Mann meines Lebens bist, und sie wartete auf die nächste Gelegenheit.

Aber sie sah den Jungen erst drei Tage darauf im Clubhaus der Gemeinde wieder, wo er mit ihrer besten Freundin Händchen hielt – derjenigen, die sie nach dem Kuß gefragt hatte. Sie spielte wieder die Gleichgültige, hielt den ganzen [16] Abend durch, redete Belangloses mit ihren anderen Freundinnen und tat so, als bemerke sie die mitleidigen Blicke nicht, mit denen sie bedacht wurde. Erst als sie wieder zu Hause war, brach sie zusammen und weinte die ganze Nacht. Acht Monate kam sie nicht darüber hinweg. Ihr war klargeworden: Weder war die Liebe für sie, noch sie für die Liebe gemacht. Sie trug sich jetzt mit dem Gedanken, Nonne zu werden und den Rest ihres Lebens einer Art Liebe zu weihen, die nicht verletzte und keine Wunden im Herzen zurückließ – der Liebe zu Jesus. In der Schule sprachen sie von Missionaren, die nach Afrika gingen, und sie beschloß, daß dies der Ausweg aus einem Leben ohne große Gefühle sei. Sie plante, ins Kloster zu gehen, absolvierte einen Erste-Hilfe-Kurs (da in Afrika so viele Menschen krank waren), beteiligte sich eifrig am Religionsunterricht und sah sich bereits als eine moderne Heilige, die Leben rettete und in der Wildnis mitten unter Tigern und Löwen hauste.

Doch ihr fünfzehntes Lebensjahr bescherte ihr nicht nur die Entdeckung des Zungenkusses und der Liebe als Quelle vielen Leids, sondern noch etwas Drittes: die Selbstbefriedigung. Es geschah fast zufällig, als sie an einem Nachmittag, als sie allein zu Hause war, auf ihrem Bett lag und an ihrem Körper herumspielte. Sie hatte das schon als Kind sehr gemocht – bis ihr Vater sie eines Tages dabei überrascht und ihr kommentarlos eine Tracht Prügel verabreicht hatte. Sie hatte die Schläge nie vergessen und daraus gelernt, daß sie sich nie in Anwesenheit anderer berühren durfte; da sie zu Hause kein eigenes Zimmer hatte, unterließ sie es ganz und vergaß das angenehme Gefühl.

[17] Bis zu jenem Nachmittag, fast sechs Monate nach dem bewußten Kuß. Die Mutter war beim Einkaufen, der Vater mit einem Freund unterwegs, und im Fernsehen lief kein interessantes Programm. Maria, die auf ihrem Bett lag, begann ihren Körper nach unerwünschten Härchen abzusuchen, die sie mit der Pinzette auszupfen wollte. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie einen kleinen Knubbel oberhalb ihrer Vagina; sie begann mit ihm zu spielen und konnte nicht mehr aufhören; es wurde immer köstlicher, immer intensiver, und ihr ganzer Körper – vor allem der Teil, den sie berührte – wurde steif. Allmählich gelangte sie in eine Art paradiesischen Zustand, das Gefühl wurde immer intensiver, sie hörte nichts mehr, alles verschwamm vor ihren Augen zu einem goldenen Dunst, bis sie vor Lust aufstöhnte und ihren ersten Orgasmus hatte.

Es war so, als wäre sie in den siebten Himmel aufgestiegen und würde nun wieder langsam mit einem Fallschirm zur Erde herunterschweben. Ihr Körper war schweißnaß, aber sie fühlte sich ganz erfüllt, voller Energie. Das also war Sex! Wie wunderbar! Nicht wie in den erotischen Fotoromanen, in denen alle von Lust redeten, dazu aber ein schmerzverzerrtes Gesicht machten. Sie brauchte keinen Mann, der ihre Seele mißachtete und nur ihren Körper liebte. Sie konnte alles selbst machen! Sie befriedigte sich erneut, und diesmal stellte sie sich vor, daß ein Fernsehstar sie berührte. Und wieder gelangte sie in den siebten Himmel und schwebte mit dem Fallschirm herunter, noch erfüllter, noch lebendiger. Sie wollte gerade ein drittes Mal beginnen, als ihre Mutter heimkam.

Maria sprach mit ihren Freundinnen über ihre [18] Entdeckung, sagte aber nicht, daß sie diese erst vor ein paar Stunden gemacht hatte. Außer zweien wußten alle Bescheid, aber keine hatte bislang gewagt, die Sache anzusprechen....