Auf dem Jakobsweg - Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela

von: Paulo Coelho

Diogenes, 2013

ISBN: 9783257602616 , 272 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Auf dem Jakobsweg - Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela


 

[21] Die Ankunft

Der Zöllner schaute lange auf das Schwert, das meine Frau trug, und fragte uns, was wir damit vorhätten. Ich antwortete ihm, daß ein Freund von uns eine Expertise dafür erstellen sollte, bevor wir es zur Versteigerung freigaben. Die Lüge zog. Der Zöllner bescheinigte uns, daß wir mit dem Schwert auf dem Flughafen von Barajas eingereist seien, und wies uns an, das Dokument beim Zoll vorzulegen, falls es bei der Ausreise Schwierigkeiten gäbe.

Wir gingen dann zum Schalter der Autovermietungsfirma, um uns die Reservierung für zwei Wagen bestätigen zu lassen, nahmen die Tickets an uns und suchten dann eines der Flughafenrestaurants auf, um noch eine Kleinigkeit zu essen, bevor wir uns trennten.

Ich hatte im Flugzeug die ganze Nacht kein Auge zubekommen. Zum einen, weil ich Flugangst habe, zum anderen aus Furcht vor dem, was kommen würde. Trotzdem war ich aufgeregt und hellwach.

»Nimm es nicht so schwer«, sagte meine Frau zum x-ten Mal. »Du sollst nach Frankreich fahren und dort in Saint-Jean-Pied-de-Port eine Madame Savin aufsuchen. Sie wird dich mit jemandem zusammenbringen, der dich auf dem Jakobsweg führen wird.«

»Und du?« fragte ich sie, auch zum x-ten Mal.

[22] »Ich werde dorthin fahren, wohin ich geschickt werde, um das wieder zurückzubringen, was mir anvertraut wurde. Anschließend bleibe ich ein paar Tage in Madrid und fliege dann zurück nach Brasilien. Ich kann unsere Angelegenheiten genausogut regeln wie du.«

»Ja, ja, ich weiß«, antwortete ich kurz angebunden, denn ich hatte keine Lust, darüber zu reden.

Der Gedanke an die Arbeit, die in Brasilien erledigt werden mußte, bedrückte mich sehr. Zwei Wochen nach dem Ereignis bei den Schwarzen Nadeln hatte ich das Wichtigste über den Jakobsweg gelernt, doch dann brauchte ich noch sieben Monate, bis ich mich entscheiden konnte, alles zurückzulassen und die Reise anzutreten. Eines Morgens verkündete mir meine Frau, der Zeitpunkt sei nun gekommen, eine Entscheidung zu treffen, denn sonst könnte ich den Weg der Magie und der Bruderschaft und des R.A.M.-Ordens ein für allemal vergessen. Ich versuchte ihr zu beweisen, daß der Meister mir eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte, weil ich mich nicht einfach aus der Verantwortung für meine alltägliche Arbeit stehlen könne. Sie lachte und entgegnete, daß dies keine gute Entschuldigung sei, denn während der vergangenen sieben Monate hätte ich nichts Rechtes zuwege gebracht und Tag und Nacht nur damit vertan, mich zu fragen, ob ich nun die Reise machen sollte oder nicht. Und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, reichte sie mir zwei Tickets, auf denen das Flugdatum stand.

»Daß wir jetzt hier sind, verdanken wir deiner Entscheidung«, meinte ich in der Flughafencafeteria. »Ich weiß [23] nicht, ob es richtig war, jemand anderen entscheiden zu lassen, ob ich mein Schwert suchen soll oder nicht.«

Meine Frau antwortete mir, es sei wohl besser, gleich unsere Autos zu besteigen und sich zu verabschieden, bevor wir anfingen, uns weiterhin gegenseitig irgendwelchen Unsinn zu erzählen.

»Du würdest niemals zulassen, daß jemand anderes auch nur die kleinste Entscheidung in deinem Leben trifft. Nun komm, es ist schon spät.«

Sie nahm ihr Gepäck und ging zum Schalter der Autovermietung. Ich blieb sitzen und beobachtete, wie nachlässig sie mein Schwert trug, das ihr jeden Augenblick unter dem Arm hervorzurutschen drohte.

Auf halbem Wege blieb sie stehen, kam dann an den Tisch zurück, an dem ich saß, küßte mich geräuschvoll auf den Mund und blickte mich lange wortlos an. Mir wurde mit einem Mal bewußt, wie groß die Gefahr eines Scheiterns war. Doch nun hatte ich den ersten Schritt getan und konnte nicht mehr zurück. Ich umarmte sie liebevoll, mit der ganzen Liebe, die ich in diesem Augenblick fühlte, und während sie in meinen Armen lag, bat ich all das, an was ich glaubte, und alle, an die ich glaubte, mir die Kraft zu geben, mit dem Schwert zurückzukehren.

»Hübsches Schwert, was?« meinte eine weibliche Stimme am Nebentisch, nachdem meine Frau gegangen war.

»Wenn du willst, kaufe ich dir genau so eins«, antwortete eine Männerstimme. »In den Touristenläden hier in Spanien gibt es die zu Hunderten.«

Nachdem ich eine Stunde gefahren war, begann ich, die Müdigkeit zu spüren, die sich in der vergangenen Nacht [24] angesammelt hatte. Die Augusthitze brannte, und ich beschloß, in einer kleinen Stadt kurz anzuhalten, die auf den Straßenkarten als historischer Ort angegeben war. Während ich mit dem Wagen den steilen Hang hinaufkletterte, der dorthin führte, rief ich mir noch einmal alles ins Gedächtnis zurück, was ich über den Jakobsweg gelernt hatte.

Die muslimische Tradition verlangt von jedem Gläubigen, daß er zumindest einmal in seinem Leben nach Mekka pilgert. Das Christentum kannte im ersten Jahrtausend drei Wege, die jedem, der sie bis zu ihrem Ende beschritt, Segnungen und Ablässe versprachen. Der erste führte zum Grabe Petri nach Rom. Sein Symbol war das Kreuz. Romfahrer nannte man diese Pilger. Der zweite führte zum Heiligen Grab Christi in Jerusalem, und die Menschen, die dorthin pilgerten, wurden Palmträger genannt, denn sein Symbol waren die Palmen, die Christus bei seinem Einzug in die Stadt begrüßt hatten. Der dritte Weg führte zu den Reliquien des Apostels Jacobus, die auf der Iberischen Halbinsel an der Stelle begraben waren, an der ein Hirte eines Abends über einem Feld einen Stern leuchten sah. Der Legende zufolge sollen der heilige Jacobus und die Jungfrau Maria dort nach Christi Tod das Evangelium verkündet und die Bevölkerung aufgefordert haben, sich zum Wort Gottes zu bekehren. Der Ort erhielt den Namen Compostela, das Sternenfeld, und bald erhob sich dort eine Stadt, die Reisende aus der gesamten christlichen Welt anziehen sollte. Denjenigen, die diesen dritten heiligen Weg gingen, wurde der Name Jakobsbruder gegeben, und sie erkoren die Muschel zu ihrem Symbol.

Während ihres goldenen Zeitalters im 14. Jahrhundert [25] pilgerten über eine Million Menschen den Jakobsweg entlang, der auch ›Milchstraße‹ genannt wurde, weil sich die Pilger nachts nach dieser Galaxis orientierten. Bis heute wandern Mystiker, Fromme und Suchende die siebenhundert Kilometer, von der französischen Stadt Saint-Jean-Pied-de-Port zur Kathedrale von Santiago de Compostela in Spanien.

Dank dem französischen Priester Aymeric Picaud, der im Jahre 1123 nach Compostela pilgerte, entspricht die heutige Route noch der, der die mittelalterlichen Pilger wie Karl der Große, Franz von Assisi, Isabella von Kastilien und, vor gar nicht langer Zeit, auch Papst Johannes XXIII. folgten. Picaud schrieb fünf Bücher über seine Erlebnisse, die als Werk von Papst Calixtus II., eines großen Verehrers des heiligen Jacobus, ausgegeben und später unter der Bezeichnung Codex Calixtinus bekannt wurden. Im V. Buch des Liber Calixtinus, dem Liber Sancti Jacobi, zählte Picaud Merkmale in der Natur, Brunnen, Hospize, Unterstände und Städte längs des Weges auf. Auf den Kommentaren von Picaud fußend, hat es sich die Gesellschaft der Freunde der Jakobsstraße (Santiago ist der spanische Name des heiligen Jacobus, auf englisch James, italienisch Giacomo) zur Aufgabe gemacht, diese Merkmale in der Natur bis hin zum heutigen Tage zu erhalten und den Pilgern beizustehen.

Im 12. Jahrhundert begann die spanische Nation in ihrem Kampf gegen die Mauren, die die Halbinsel besetzt hatten, die Mystik des heiligen Jacobus für sich zu nutzen. Mehrere religiöse Ritterorden entwickelten sich längs des Pilgerweges, und die Asche des Apostels wurde zu einem mächtigen [26] spirituellen Bollwerk im Kampf gegen die Muselmanen, die ihrerseits behaupteten, der Arm Mohammeds sei mit ihnen. Doch nach dem Ende der Reconquista, der Wiedereroberung der Iberischen Halbinsel, waren die Militärorden so mächtig geworden, daß der Staat sie als Bedrohung empfand und die Reyes Catolicos, die Katholischen Könige, sich zum Eingreifen gezwungen sahen, um zu verhindern, daß diese Orden sich gegen den Adel erhoben. In der Folge fiel der Jakobsweg allmählich weitgehend der Vergessenheit anheim, und würde er nicht hin und wieder einmal in der Kunst – wie im Film Die Milchstraße von Buñuel oder in Caminante von Joan Manuel Serrat – thematisiert, würde sich heutzutage kaum jemand mehr daran erinnern, daß einstmals Tausende von Menschen diesen Weg gegangen sind, von denen einige später die Neue Welt bevölkert haben.

Die kleine Stadt, in die ich gelangte, lag vollkommen verlassen da. Nach langem Suchen fand ich eine kleine Kneipe in einem mittelalterlich wirkenden Gebäude. Der Wirt, der den Blick nicht von der Nachrichtensendung im Fernsehen wandte, bedeutete mir, daß jetzt Siestazeit und ich verrückt sei, bei dieser Hitze herumzufahren.

Ich bestellte ein kaltes Getränk, war versucht, auch ein wenig fernzusehen, doch ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich dachte nur daran, daß ich in zwei Tagen, mitten im 20. Jahrhundert, ein ähnlich großes Abenteuer der Menschheit erleben würde wie jenes, das Odysseus nach Troja, Don Quichotte auf die kastilische Hochebene La Mancha, Dante und Orpheus in die Unterwelt und Christoph Columbus nach Amerika führte: das Abenteuer einer Reise ins Unbekannte.

[27] Als ich wieder ins Auto stieg, hatte sich meine Unruhe etwas gelegt. Selbst wenn ich mein Schwert nicht fand, die Pilgerwanderung auf dem...