Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie - . E-BOOK

von: Rolf Castell

Vandenhoeck & Ruprecht Unipress, 2008

ISBN: 9783899716580 , 285 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 70,00 EUR

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Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie - . E-BOOK


 

"Manfred Müller-Küppers
Ein etwas anderer Rückblick
(S. 209-210)

Ich sitze hoch über dem Neckar – in einem Gehäuse, das ich mir vor zehn Jahren aus 60 Baumstämmen selbst gebaut habe. Ein Kindertraum: Die Stämme lagen im hessischen benachbarten Wald. Sie mussten gerade gewachsen, nicht zu alt, d.h. auch nicht zu schwer und wenigstens 12 cm im Durchmesser haben. Sie mussten außerdem wenigstens 4 bis 5 m lang sein, damit ein Innenraum (von 2 x 3 m Grundfläche) in der Art eines Blockhauses entstehen konnte. Der Transport mit einer Schubkarre war unschwierig, denn das Gelände ist abschüssig.

Die Verbindung der Stämme im rechten Winkel zueinander war nicht ohne Mühe: Galt es doch, von beiden Stämmen jeweils so viel auszukehlen, dass ein guter, fugenloser Halt entstand. Dabei drängte sich der psychiatrische Vergleich auf: Eigentlich machst du jetzt mit zwei Balken genau dasselbe, was du mit Patienten ein Leben lang gemacht hast – sie so zu verbinden, dass es passt. Alles ging dann doch leichter als gedacht. Nur bei der Tür und den Fenstern brauchte ich Hilfe. Bald hatte ich die nähere Umgebung abgesucht und die Wege nach geeigneten Stämmen wurden länger. Zuletzt hatte ich Entfernungen von bis zu 2000 m zu überwinden.

Ich habe vier Monate gebraucht. Es waren glückliche Wochen, denn ich erlebte Werkfreude. Vorher hatte ich mich schon an einer Sandsteinmauer versucht und erlebt, dass ich mehr konnte, als ich wusste. Ich hatte mir vorgestellt, bis zum einbrechenden Winter für die eigene Familie mit drei Kindern eine winterfeste Unterkunft zu errichten. Erlaubte Hilfsmittel: Säge, Beil, Rad und Seil. Jetzt sitze ich hier im eigenen Garten am Waldesrand in meiner selbst errichteten Hütte.

Ein Grenzstein mit der Jahreszahl 1808 weist auf napoleonische Zeiten hin und kennzeichnet mit GB und GH, dass Baden und Hessen damals noch Großherzogtümer waren. Die Geschichte des kleinen Reichsstädtchens Neckargemünd ist wechselhaft; es hat seine bedeutendste Zeit wohl im Mittelalter gehabt. Ich bewohne das letzte Haus. Die Straße ist dort badisch und wird von hessischem Wald aufgefangen. Eine Streuobstwiese gibt den Blick nach Süden auf das Neckartal frei. Der Platz ist gut gewählt: 1983 erschienen die Lebenserinnerungen von Emil Kraepelin und ich kann staunend lesen: »...

Bei einem unserer Spaziergänge, als wir hoch oben vom Bergrande auf das stille Tal von Neckargemünd hinabsahen, kam mir der Gedanke, daß hier ein geeigneter Platz für die Errichtung einer Privatirrenanstalt gegeben sei.« Der Standort des großen Psychiaters konnte entsprechend der Topografie nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt sein, an dem ich jetzt seit vierzig Jahren lebe. Die Klinik wurde gebaut und existierte von 1894 bis 1917 als private Einrichtung, die mit ihrer Lage am Waldrand, der gediegenen Ausstattung und dem fließenden Wasser auf den Zimmern um Patienten warb.

Diese Hinweise finde ich in alten Ortsbeschreibungen anlässlich der 800-Jahr-Feier des Städtchens. Das Haus wurde inzwischen abgerissen, und heute steht an dieser Stelle eine Einrichtung für Gehörlose. Ich sitze und sinniere: Mein 80. Geburtstag liegt nun schon mehr als drei Jahre zurück. Die Hütte sollte mir als Refugium dienen, um Erinnerungen an ein Leben für die Kinderpsychiatrie aufzuschreiben. Dabei ist mir gleichzeitig klar geworden."