Tod in Garmisch

von: Martin Schüller

Emons Verlag, 2011

ISBN: 9783863580018 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 10,99 EUR

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Tod in Garmisch


 

EINS

Als der erste Sonnenstrahl durch die karierten Vorhänge des kleinen Fensters drang, war Magdalena schon wach. Sie lauschte auf die Stimmen der Vögel, das einzige Geräusch an diesem Morgen.

Nur Großvaters alter Lada hatte die Stille unterbrochen, als er vor Sonnenaufgang zur Jagd gefahren war. Nun waren bloß noch die Vögel zu hören. Die Ruhe hier oben war immer wieder aufs Neue ein Genuss für sie, auch wenn sie wusste, dass Hias bald den Traktor anlassen und eine Wolke aus rußigen Abgasen durch das offen stehende Fenster blasen würde.

Magdalena stand mit einem Lächeln auf. Sie zog die Vorhänge zur Seite. Tatsächlich sah sie Hias bereits über den Hof zur Scheune stapfen. Die Gipfel des Wettersteingebirges strahlten golden in der Morgensonne. Auch nach Jahrzehnten war ihr der Anblick der mächtigen Gipfel nicht gleichgültig.

Die Amerikaner mochten behaupten, in God’s own country zu leben, dachte sie. Sie waren zumindest nicht die Einzigen.

Sie goss die Emailleschüssel halb voll, warf sich wohlig das kalte Wasser ins Gesicht und rubbelte es anschließend trocken. Das Aufstehen fiel ihr hier auf dem Hof viel leichter als in ihrer Wohnung im Hotel. Aber sie konnte es nur selten einrichten, bei ihrer Mutter auf dem Meixner-Hof zu übernachten, und wenn sie ganz ehrlich war, wusste sie ja auch, dass der Aufenthalt hier nicht nur aus angenehmem Aufstehen bestand.

Sondern zum Beispiel auch aus dem Frühstück mit ihrer Mutter.

Magdalena liebte ihre Familie; ihre Mutter Reserl und ihren Großvater Melchior, den alle nur Maiche nannten; ihren jüngeren Bruder Wastl, obwohl sie wusste, dass er sein Studium in Frankfurt nur als Vorwand für das Leben eines Taugenichtses nutzte – ständiger Quell des Streites mit ihrer Mutter, die an ihrem Jüngsten einfach nicht zweifeln wollte. Immer noch sah sie in ihm das Ebenbild ihres geliebten Ehemannes, den ihr ein hinterhältiger Krebs binnen weniger Wochen geraubt hatte. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters vor acht Jahren waren Magdalenas Gefühle für ihre Mutter noch intensiver geworden.

Aber leider machte das die Anstrengung nicht wett, die es sie kostete, vor ihrer zweiten Tasse Kaffee eine konzentrierte Unterhaltung zu führen. Und leider hatte ihre Mutter nie die Sensibilität aufgebracht, sie mit ihren Vorträgen zu verschonen, nur weil sie ein Morgenmuffel war.

Nach dem Zähneputzen öffnete Magdalena die Tür und stieg die steile Treppe zur Stube hinunter, in der Reserl bereits werkelte. Großvater und Knecht Hias hatten ihr Frühstück natürlich längst beendet.

»Endlich, du Langschläfer«, sagte ihre Mutter, ohne sich zu Magdalena umzudrehen. Sie war dabei, das gespülte Geschirr in den alten Schrank aus hellem Eichenholz zu räumen.

Ihre Stimme hatte diesen müden Klang, den sie häufig hatte seit Vaters Tod. Meist lag ein Vorwurf darin, als wäre Magdalena für ihre Situation verantwortlich. Magdalena hatte lange gebraucht, sich diesen Klang nicht mehr zu Herzen zu nehmen. Aber gerade morgens fiel es ihr schwer. Sie brummte irgendwas zur Begrüßung.

»I wollt gestern Abend ned drüber redn, weil der Maiche dabei war«, sagte Reserl, während sie Kaffee in einen Becher schenkte und ihn Magdalena hinstellte.

Magdalena setzte sich auf die Bank vor dem Fenster und griff nach dem Becher. Seine Wärme war angenehm und der Duft vielversprechend.

»Ärger?«, fragte sie und nahm einen Schluck.

»Maiche hat an Schedlbauer Berni im Wald gtroffn.«

»Wohin?«, fragte Magdalena und verfluchte sich sofort für diese dumme Bemerkung.

Reserl fuhr zu ihr herum. »Des is überhaupt ned witzig, Lenerl«, sagte sie scharf. »I woaß ja a ned, was er da gsucht hod. Woaßt, was der Maiche getan hod? Mit der Flintn hod er eam aus seim Wald gjagt. Mit der Flintn! Hoffentlich fängt jetzt ned alles von vorn an!«

Magdalena stöhnte auf. Das war starker Tobak für diese Uhrzeit. Die Fehde der Meixners und der Schedlbauers gehörte fast schon zur Folklore. Alle Meixners waren froh, dass die Geschichte irgendwann eingeschlafen war – oder besser: fast alle, denn Großvater Maiche hatte sich nie wirklich abgefunden mit dem, was er für eine Niederlage hielt. Berni war einer der Söhne von Sippenoberhaupt Rosemarie Schedlbauer, die jeder nur als Mirl kannte. Und nun waren ausgerechnet die beiden härtesten Kerle der beiden Familien aneinandergeraten.

Tatsächlich lagen die Ursprünge dieser Fehde so weit zurück, dass die verschiedensten Versionen davon im Umlauf waren. Magdalena neigte zu der ihres Vaters, wobei es dafür keinen konkreten Grund gab außer dem, dass eben ihr Vater sie erzählt hatte.

In dieser Fassung hatte Maiches Schwester Leni einen Antrag von Berni Schedlbauers Großonkel Max mit so drastischen Worten abgelehnt, dass der beleidigte Max die körperliche Auseinandersetzung mit Maiches älterem Bruder Edi gesucht hatte. Der Kampf war dann derartig unentschieden ausgegangen, dass er bei jeder Gelegenheit zwischen allen Mitgliedern der beiden Familien fortgesetzt wurde, auch nach dem Ableben aller direkt Beteiligten. Maiche war damals erst vierzehn gewesen.

Magdalena hatte aber auch schon die Version gehört, dass Edi Meixner dem Schedlbauer Max eine kaputte Dreschmaschine verkauft und sich geweigert hatte, sie zurückzunehmen.

Magdalenas Vater jedenfalls hatte es geschafft, die Fehde in eine Art Waffenstillstand zu verwandeln, indem er den verblüfften Schedlbauers das Wegerecht für die Zufahrt zu einer ihrer Skischulen zugestand – gegen den heftigen Widerstand seines Vaters Maiche. Die Schedlbauers bekamen eine direkte Zufahrt zu ihrer neuen Geldquelle, und im Gegenzug sagte Konrad Schedlbauer Magdalenas Vater zu, den Streit zu begraben – gegen den Protest seiner Gattin Mirl Schedlbauer, die Maiche Meixner in puncto Sturheit in nichts nachstand.

Das war jetzt neun Jahre her, und die Friedensstifter von damals waren leider beide mittlerweile verstorben.

Magdalena nahm noch einen Schluck Kaffee. Die Schedlbauers waren aber auch ein wirklich unangenehmer Haufen geblieben. Außer Vinzenz, dachte sie.

»De Schedlbauers san aber a wirklich furchtbare Leut«, sagte Reserl und schnitt eine Scheibe von dem gekümmelten Brot ab. »Außer dem junga, dem Vinz, vielleicht.«

»Ja. Aber wenn Großvater in Zukunft jede furchtbare Person mit der Flinte bedroht, kriegen wir eine Menge Spaß«, sagte Magdalena. Sie nahm die Brotscheibe, strich dick Butter darauf und säbelte ein Stück vom Speck ab.

»Der wird aber a immer noch sturer«, sagte Reserl. »Des hab i ma ned vorstelln kenna, dass des geht. Und beinah jeden Tag in sein Wald. Sakra, der is fünfundachzge … Wenigstens hat er den Hund dabei. Aber der Sento werd ja a ned jünger.«

Magdalena lachte leise und biss in ihr Speckbrot. Natürlich war Großvater über die Jahre langsamer geworden und die Brille dicker, aber körperlich war er noch sehr gut beieinander. Von seinem Wald würde er jedenfalls nicht lassen, solange sein alter russischer Geländewagen ihn hintrug.

»I woaß a gar ned, was der Berni da zum Sucha ghabt hätt«, sagte Reserl. Sie hatte das Geschirr weggeräumt und nahm nun den Korb Kartoffeln heraus, um sie für das Mittagessen vorzubereiten.

»Vielleicht will er noch eine Skischule aufmachen und sucht nach einer günstigen Zufahrt«, sagte Magdalena. Sie schloss die Augen und nahm einen Schluck aus ihrem Becher.

»Da is der beim Maiche aber grad an den Rechten gratn. Bis heut woaß i ned, wia dei Vater des angstellt hat, dass der Oide den Schedlbauers des Wegrecht geben hat. Muass mi ja a schon zsammreißn, wenn mia de Mirl untn im Ort übern Weg laft. I grüaß immer artig, aber mei Freundin werd die nimmer. Und die Nanni, die Tochter …« Reserl brach ab. Mit einem Kopfschütteln nahm sie die erste Kartoffel aus dem Korb und begann, sie auf ihre ruhige, sorgfältige Art zu schälen.

Magdalena sagte nichts. Nanni war wirklich eine grauenhafte Person. Snobistisch, arrogant und dumm. Und geldgierig. Sie achtete sehr darauf, dass man im Ort genau über sie informiert blieb. Seit einigen Monaten war ihre Verlobung mit Ludwig Allensteiner das eingehend diskutierte Thema. Ludwig war der Sohn von Leopold Allensteiner, dem Besitzer der Kunststofffabrik in Kaltenbrunn, und eigentlich hatte jeder Mitleid mit dem armen Viggerl. Nicht nur, dass er mit seinen neunundvierzig Jahren mehr als zwanzig Jahre älter war als seine Verlobte, er litt auch an einer fast krankhaften Schüchternheit und würde seiner zukünftigen Gattin wohl hilflos ausgeliefert sein. Niemand, der die beiden kannte, zweifelte daran, dass sie ihn nur wegen seines Geldes nahm.

»Du hast ja verzählt, der Vinz sei a ganz a Netter«, sagte Reserl. »Obwohl man sich des kaum vorstelln kann. Wo sei Bruder, der Berni, so a Fieser ist. Den hams ja sogar mal verhaftet.«

»Großvater auch«, sagte Magdalena.

»Ach, was redst denn da! Des is so lang her!«

Magdalena griff nach der Thermoskanne und schenkte sich Kaffee nach. Maiche hatte einen der Schedlbauers derart vermöbelt, dass die Polizei eingeschritten war. Es war wirklich lange her, aber es war passiert. Zwei Generationen später war jetzt Berni Schedlbauer der Mann mit dem schlechten Ruf.

Sein jüngerer Bruder Vinzenz war von ganz anderem Charakter. Magdalena war in der Schule zwei Klassen unter ihm gewesen und hatte ihn still angehimmelt, immer mit schlechtem Gewissen ihrer Familie gegenüber. Aber er hatte so schöne Augen. Später hatte sich ihre Mädchenverliebtheit zwar gelegt, aber als sie sich ein paar Jahre später in einer Kneipe über den Weg liefen, in Tübingen, wo Magdalena ihre Freundin Daggi besucht hatte, da waren sie am...