Der Tote vom Kliff - Hinterm Deich Krimi

von: Hannes Nygaard

Emons Verlag, 2011

ISBN: 9783863580391 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,49 EUR

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Der Tote vom Kliff - Hinterm Deich Krimi


 

ZWEI

Margit verfügte über die Fähigkeit, morgens zu der Zeit wach zu werden, die sie sich selbst gesetzt hatte. Als sie Lüder weckte, war sie schon im Bad gewesen und hatte die Vorbereitungen für das Frühstück begonnen. Im vergangenen Jahr hatte Lüder unterm Dach, das die Zimmer der beiden Großen beherbergte, eine weitere Dusche einbauen lassen, um den morgendlichen Engpass Badezimmer zu entzerren. Das half ihm heute aber nicht. Das Badezimmer der Erwachsenen war von innen verriegelt, und nach heftigem Rütteln an der Tür erklärte Jonas, dass er auf dem Klo sitze und auch keine Chance sehe, diesen Umstand für die nächste Stunde zu ändern. Es waren nur zwanzig Minuten, die Jonas die »Häuschenbesetzung« durchhielt, die aber den ganzen morgendlichen Ablauf im Hause Lüders durcheinanderbrachten.

Margit hatte vom Bäcker zwei Zeitungen mitgebracht, die mit großen Schlagzeilen vom Mord an Lew Gruenzweig berichteten. Die »Kieler Nachrichten« brachten neben einem großen Bild des Ermordeten und einer dick gedruckten Schlagzeile einen Artikel auf der ersten Seite, der den bisher bekannten Sachverhalt wiedergab. Ferner hieß es, dass die Ermittlungsbehörden fieberhaft arbeiten würden und eine Sonderkommission gebildet worden sei. Über den exakten Tathergang und mögliche Motive gab es keine Vermutungen. Die Zeitung stützte sich hier auf eine erste Pressekonferenz von Oberstaatsanwalt Brechmann.

»Ausgerechnet Brechmann«, murmelte Lüder mehr zu sich selbst, als er den Bericht überflog. »Hoffentlich knickt er diesmal nicht gegenüber irgendwelchen Großkopfeten im Hintergrund ein.«

»Hast du wieder Ärger mit ihm?«, fragte Margit beiläufig, um gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit Sinje zuzuwenden, die mit dem Ärmel im Nutella gelandet war, als sie nach den Cornflakes greifen wollte, die Jonas rasch ihrem Zugriff entzog.

»Wie kommst du darauf, dass ich in diese Sache involviert bin?«, fragte Lüder beiläufig und versuchte uninteressiert zu wirken.

»Nun tu nicht so«, mischte sich Thorolf ein. Der Vierzehnjährige war im Stimmbruch, und seine Stimme kickste manchmal im Wechsel zwischen tief und hoch. »Du warst doch gestern auf Sylt. Da ist diese Ratte doch umgebracht worden.«

»Thorolf!«, sagte Margit scharf. »So spricht man nicht über Menschen.«

»Ist doch wahr«, zeigte sich der Junge stur. »Um den ist es doch nicht schade. Der ist doch ein Ausbeuter gewesen. Die sollte man rund um den Globus ersäufen.«

Lüder räusperte sich, bevor er antwortete. »Du hast jetzt ein Alter, in dem revolutionäre Ideen reifen. Man ist gegen alles und jeden. Wenn dazu jugendlich frische Dynamik kommt, schießt man manchmal über das Ziel hinaus. Man darf sicher darüber diskutieren und unterschiedlicher Meinung sein, ob das alles gerecht ist, was dort geschieht, aber das rechtfertigt noch lange nicht, einen Menschen zu töten.«

»Auge um Auge – Zahn um Zahn«, antwortete Thorolf. »Du bist ja ein Diener des Systems. Deshalb musst du so sprechen. Solche Typen wie der Gruenzweig sind für die Ausbeutung der Dritten Welt verantwortlich.«

»Jetzt gehst du aber zu weit, wenn du Lüder beschimpfst. Er ist Polizist und kein willfähriger Lakai eines Systems, wie du es nennst.«

»Und dann ist es das einzige Bibelzitat, das du kennst«, presste Viveka zwischen den Zähnen hervor und kaute weiter.

»Blöde Kuh«, schimpfte Thorolf in Richtung seiner Schwester.

»Ich würde dich nicht als blöd bezeichnen«, sagte Lüder. »Leider reicht unser aller Zeit jetzt nicht, aber über deine trotzkistischen Gedanken würde ich gern noch einmal ausführlich mit dir diskutieren.«

»Hä?«, antwortete Thorolf irritiert.

»Jetzt weiß der Trottel nicht, was das ist«, lästerte Viveka. »Aber eine große Lippe riskieren.«

Lüder war aufgestanden. Als er an Thorolfs Stuhl vorbeikam, fuhr er dem Jungen mit der Hand durchs Haar. »Es ist gut, wenn man eine Meinung hat. Nur musst du lernen, die in richtige Bahnen zu lenken. Aber dafür hast du noch ein paar Jahre Zeit.«

»Das sind dumme Sprüche«, sagte Thorolf, aber seine Stimme klang schon wesentlich weniger aggressiv.

Lüder verabschiedete sich von seiner Familie, musste Margit versichern, sich nicht wieder in Fällen zu engagieren, die gefährlich sind, und Sinje zusichern, sich abends ausführlich mit ihr zu beschäftigen. Dann fuhr er ins Landeskriminalamt.

Am Schreibtisch blätterte er in gewohnter Manier die Zeitungen durch. Im Boulevardblatt nahm der Sylter Mord fast allein die erste Seite ein. Lediglich die »lebensgefährliche« Erkrankung eines altgedienten Schlagerstars, die sich auf der letzten Seite in ein paar Zeilen als Blinddarmreizung entpuppte, nahm der Sensation ein wenig Raum. Lüder war nicht überrascht, dass der Artikel aus der Feder von LSD, Leif Stefan Dittert, stammte, der ihm bereits in der Vergangenheit begegnet war. Der Journalist mutmaßte, dass sich jetzt die ganze Finanzwelt aus Angst und Rache zugleich gegen die deutsche Volkswirtschaft wenden könnte, weil hier linkssoziale Gruppierungen mit Gewalt und Mord gegen die erfolgreichen Finanzmagier agieren.

Lüder fiel beim Lesen des Artikels der gleichlautende Tenor von Thorolfs am Frühstückstisch vorgetragener Anklage gegen Lew Gruenzweig ein, obwohl der Junge sicher kein ständiger Leser des Boulevardblattes war. Wenn an diesen Gerüchten auch nur ein Funken Wahrheit war, dass die Mordtat auf politischen Motiven beruhte, dann würde sich erneut ein Fall ungemeiner Brisanz in Deutschlands Norden auftun. Und er, Lüder, war unfreiwillig mitten im Zentrum. Dittert verstand es meisterhaft, Spekulationen, Halbwahrheiten und im schlimmsten Fall zu erwartende Konsequenzen zu einem Cocktail zu mixen, der die Gemüter erregte. Formal war dem Artikel nicht beizukommen, aber der Journalist hatte es zur Meisterschaft gebracht, durch die Darstellung unzusammenhängender Fakten die Angst der Menschen vor einer Rezession und latent vorhandene Zukunftsängste zu schüren.

Lüder lehnte sich zurück und atmete tief durch. Im Mordfall Gruenzweig galt es, nicht nur einen Mörder zu finden, sondern durch die Darstellung der Hintergründe und Zusammenhänge den Panik machenden Perspektiven eines Leif Stefan Dittert entgegenzutreten. Da brauten sich hinter den Kulissen wieder Konstellationen zusammen, von deren Brisanz und Komplexität die Menschen wohl nie erfahren würden.

Lüder wurde durch die Tür abgelenkt, die mit Schwung aufflog und gegen die Wand flog.

»Moin, Chiefsuperintendent«, sagte Friedjof, der mehrfach behinderte Mitarbeiter der Haus- und Postdienste, mit schwerer Zunge.

»Hallo, Friedhof«, erwiderte Lüder. Seit Langem war es zwischen ihnen beiden üblich, sich auf diese Weise zu begrüßen, und Friedjof genoss es, dass Lüder ihm schon vor Jahren das Du angeboten hatte.

Der junge Mann schüttelte demonstrativ den Kopf und hob einen Zipfel der ausgebreiteten Zeitung. »Das werde ich meinem Freund Werner berichten«, sagte er lachend.

»Werner?«

»Na, dem Wirtschaftsminister, wenn wir gemeinsam in der Fankurve von Holstein Kiel stehen.«

»Glaubst du wirklich, der sieht sich Fußball in den unteren Klassen an?«, stichelte Lüder zurück. »Außerdem kenne ich jemanden, der in direkter Nachbarschaft zu Peter Harry auf Nordstrand wohnt. Wenn der das dem Ministerpräsidenten steckt, muss Werner wieder zurück nach Hamburg in seine Kupferhütte.«

Beide lachten herzhaft.

»Bist du an diesem Fall dran?«, fragte Friedjof und zeigte auf die Zeitung.

Lüder schüttelte heftig den Kopf. »Jetzt bin ich von dir enttäuscht. Wo ist der Mord geschehen?«

»Sylt«, sagte Friedjof mehr zu sich selbst. Dann zog ein Strahlen über sein Antlitz. »Ah, ich verstehe. Dafür ist Husum zuständig. Große Jäger.« Er streckte den Daumen in die Luft. »Prima Bursche. Nur vom Fußball versteht der nichts.«

Der junge Mann legte Lüder mehrere Aktendeckel auf den Schreibtisch. »Für dich, falls du zwischen deinen Zeitungen noch Zeit dafür hast.« Er lachte erneut und schüttelte den Kopf. »Beamter müsste man sein.« Dann wandte er sich zur Tür. »Tschüss, Sheriff«, sagte er dabei.

Lüder warf ihm eine Büroklammer hinterher. »Hau bloß ab, du Oberpostrat.«

Dann suchte er das Büro des Kriminaldirektors auf, erfuhr aber, dass Nathusius in einer Dienstbesprechung sei, die sich vermutlich bis zum Mittag hinziehen werde. Lüder hätte sich gern mit seinem Vorgesetzten abgestimmt. Nathusius war ein brillanter Analytiker und hervorragender Kenner der politischen Szene im Land zwischen den Meeren.

Von seinem Büro aus rief Lüder in Husum an.

»Gibt es etwas Neues bei euch?«, fragte er Große Jäger.

»Den ›Hexer‹ gibt es nur bei Edgar Wallace«, knurrte der Oberkommissar zurück. »Hier geht es recht irdisch zu. Wir haben heute ein Bild des Pelzcapes …«

»Des Hermelins«, unterbrach Lüder.

»Von mir aus. Das Ding ist heute in der Zeitung.«

»In welcher?«

»Ich hätte es ja gern in der ›Praline‹ oder dem ›Grünen Blatt‹ gehabt. Es ist aber in der ›Sylter Rundschau‹ erschienen. Ansonsten geht es hier ein bisschen durcheinander. Wir hatten eine Reihe von Fällen in der letzten Nacht, die uns vor Ort beschäftigen. Außerdem ist Christoph Johannes noch nicht da. Da gab es einen Todesfall im Haus.«

»Fremdeinwirkung?«, fragte Lüder.

»Vermutlich nicht. Seine Vermieterin ist gestorben. Es sieht so aus, als wäre die alte Dame im gesegneten Alter von neunundachtzig Jahren friedlich eingeschlafen. Und dann sind da noch meine Nachbarn, die mich wegen des BMWs nerven, der unerlaubt auf...