Die Seherin von Garmisch - Oberbayern Krimi

von: Martin Schüller

Emons Verlag, 2011

ISBN: 9783863580551 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,49 EUR

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Die Seherin von Garmisch - Oberbayern Krimi


 

ZWEI

Der Adler stürzt sich hinab, senkrecht, aus riesiger Höhe. Sie hat keine Furcht, genießt den freien Fall entlang schroffer Felswände. Drunten ein kleiner Ort. Die Häuser, eben noch winzige Würfel, werden größer, deutlicher, unterscheidbar. Immer tiefer geht es hinab, dann fängt der Adler den Sturz ab, gleitet weg von den Felsen, hinüber zum Ort, darüber hinweg in einer sanften Kurve. Sie erkennt den Ort nicht, den der Adler ihr zeigt. Die Häuser liegen friedlich in der Sonne. Sie sieht Menschen auf den Straßen, sieht Autos und ein Fahrrad fahren. Und dann, aus dem Nichts, ein Feuerball; vom Boden aufsteigend, von dort, wo eben noch ein Haus stand, wird ein rot und gelb glühender Ball hochgeschleudert. Der Adler fliegt geradewegs hinein. Die Hitze blendet sie, sie atmet den erstickenden Rauch, wird betäubt vom Donner der Explosion.

Dann lässt der Adler sie fallen.

* * *

Es war eine sanfte Berührung an der Wange, die Schwemmer weckte. Das Erste, was er wahrnahm, war der Duft von Kaffee. Er lächelte und schnurrte ein wenig, bevor er die Augen öffnete. Burgl saß auf dem Bettrand. Sie beugte sich zu ihm herab und küsste ihn auf die Stirn.

»Guten Morgen«, hauchte sie. Sie duftete nach Shampoo und Hautcremes.

Schwemmer warf einen Blick auf den Wecker. »Wieso hat der nicht geklingelt?«

»Weil ich ihn ausgemacht habe«, sagte Burgl. »So ist’s doch schöner, oder?«

»Ja … aber …« Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. Erst jetzt wurde ihm klar, was an der Situation nicht stimmte. »Was ist denn mit deinem Rücken?«

Sie zuckte lächelnd die Schulter.

»Viel besser«, sagte sie.

Sie nahm den Kaffeebecher, den sie auf seinem Nachttisch abgestellt hatte, und reichte ihn Schwemmer. Er richtete sich halbwegs auf und nahm einen vorsichtigen Schluck, der Kaffee war noch sehr heiß.

»Reibst du mich noch mal ein, bevor du gehst?«, fragte Burgl.

»Da kannst du dich aber drauf verlassen. Das scheint ja das absolute Wundermittel zu sein.« Er setzte sich auf und klopfte mit der Hand neben sich aufs Bett. Burgl kam gehorsam herum, reichte ihm die Flasche, die auf ihrem Nachttisch stand, und legte sich auf den Bauch. Nicht voll elastisch, aber doch ganz anders als gestern Abend.

Die Dämpfe des Franzbranntweins weckten ihn endgültig auf. Er schob Burgls Pyjamajacke hoch und verrieb eine Handvoll der Flüssigkeit auf ihrem Rücken, der ihm auffällig rosa vorkam.

»Brennt das sehr?«, fragte er.

»Schon. Aber es hilft eben.«

»Placeboeffekt«, brummte Schwemmer.

»Ich sagte ja auch: Es hilft. Nicht: Es wirkt«, erhielt er zur Antwort. »Mir ist Branntwein, der hilft, lieber als eine Spritze, die wirkt.«

»Ich hab mal gelesen, Hexenschuss sei überhaupt psychosomatisch.«

»Jetzt hör mal zu, du Schlauberger: Mit wem glaubst du hier zu reden? Doch nicht etwa mit einer Diplom-Psychologin, oder?«

»Isjagut«, murmelte Schwemmer. Es musste an der frühen Stunde liegen, sonst wäre ihm die Unvorsichtigkeit nicht unterlaufen, Burgl auf ihrem ureigenen Terrain herauszufordern.

»Glaubst du, bloß weil ich nicht mehr praktiziere, hab ich keine Ahnung mehr von der Materie? Und eins solltest sogar du als Amateur wissen: Ein psychosomatischer Hexenschuss tut kein bisschen weniger weh als ein physiologischer. Und wer heilt, hat recht.«

Schwemmer unterdrückte ein »Jaja« und verteilte stattdessen schweigend die Portionen zwei und drei auf dem mittlerweile leuchtend roten Rücken seiner Frau, dann zog er ihr die Pyjamajacke wieder runter und deckte sie zu. Er beugte sich zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuss in den Nacken. »Danke für den Kaffee«, flüsterte er. »Und schlaf noch schön.«

Als Antwort erhielt er ein Knurren, von dem er wusste, dass es viel liebevoller gemeint war, als es klang.

* * *

Danni war schon aus dem Haus, als Severin in die Küche kam.

»I hab’s noch a paarmal probiert. Spacko geht ned dran«, sagte er.

Johanna schob ihm die Plastikbox mit seinen Pausenbroten zu.

»Merci«, sagte er ernst, dann nahm er einen hastigen Schluck Kaffee. »I muss los.« Er steckte seine Brote ein. »I versuch’s weiter, beim Spacko«, sagte er.

Sie lächelte zum Abschied, dann war er aus der Tür. Langsam stand sie auf, streifte ihre Windjacke über und griff nach dem Autoschlüssel.

Der Morgenhimmel war blau, aber gesprenkelt von zerzausten Wolkenfetzen. Johanna schloss gerade die Garage auf, als sie angesprochen wurde. Auf dem Bürgersteig stand Frau Heinckes – Heißt sie so?, dachte Johanna. Sie wohnte in der Talackerstraße, Johanna kannte sie nur flüchtig, hatte sich gerade einmal an der Wursttheke im Tengelmann länger mit ihr unterhalten.

»Entschuldigung, Frau Kindel …«

Frau Heinckes näherte sich zögernd und sah sich um, als wolle sie sich versichern, allein mit Johanna zu sein.

»Frau Kindel, stimmt das, dass Sie wieder weissagen?«

»Wie kommens denn da drauf?« Johanna setzte eine abweisende Miene auf, aber das schien Frau Heinckes nicht zu merken.

»Ich hab das gehört, heut früh beim Bäcker …«

»Beim Bäcker? Ja, Herrgottsakra …« entfuhr es Johanna. Das durfte nicht wahr sein! Hatte dieser Schwemmer das tatsächlich rumgeratscht?

»Es ist ja nur wegen unserm Florian. Der macht doch Abitur dieses Jahr, und da wollt ich Sie fragen, ob Sie mir sagen können, ob er es schafft.«

Johanna schüttelte resigniert den Kopf.

»Er schafft’s nicht?«, fragte Frau Heinckes erschrocken.

Johanna wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Lernt der Bua denn?«, fragte sie schließlich.

»Ja, er ist fleißig.«

»Dann schafft er’s a.«

Frau Heinckes strahlte sie an. »Danke, Frau Kindel«, sagte sie erleichtert. Sie suchte in der Einkaufstasche herum, die an ihrem Handgelenk baumelte, und zog ihr Portemonnaie heraus.

»Was machens denn da? Herrschaftszeiten, i nehm do kein Geld!«

Als hätte sie nichts gehört, zog Frau Heinckes einen Zwanziger daraus hervor und versuchte, ihn ihr in die Hand zu drücken.

»Na! Lassens des!«

Aber Frau Heinckes griff nach ihrem Handgelenk und friemelte mit der anderen Hand den Geldschein in ihre geschlossene Faust.

»Nur als Dankeschön«, sagte sie, dann ging sie eilig weiter die Straße hinunter.

* * *

Schafmann trug solide Haferlschuhe, wie Schwemmer einigermaßen befriedigt feststellte, als der Kollege sein Büro betrat. Er wirkte sogar gut gelaunt.

»Keine Gicht?«, fragte Schwemmer.

»Harnsäurewert ist im grünen Bereich.«

»Und was war’s dann?«

»Wahrscheinlich sind meine neuen Joggingschuhe zu eng.«

»So …« Schwemmer unterdrückte ein Grinsen.

»Wie war’s bei den Satanisten?«, fragte Schafmann.

»Dieser Herr Gärtner sieht Gespenster«, sagte Schwemmer. »Die Burschen sind allenfalls was fürs RD. Oder den Staatsschutz. Wenn nächstes Mal Schmierereien an der Kriegergedächtniskapelle sind, würd ich da mal nachfragen. Satanisten sind das jedenfalls keine.«

Es klopfte an der Tür, und Frau Fuchs schaute herein. Sie wirkte verschüchtert.

»Was gibt’s denn?«, fragte Schwemmer.

»Da ist schon wieder die Frau Kindel«, flüsterte Frau Fuchs.

Schwemmer stieß ein Seufzen aus. »Was will sie denn?«

»Sagt sie mir nicht.«

Schwemmer sah Schafmann an. »Steht was Dringendes auf dem Zettel?«

»Nein«, antwortete Schafmann.

»Schad«, sagte Schwemmer.

»Dann will ich nicht stören«, sagte Schafmann und griff nach der Türklinke.

»Nix da«, sagte Schwemmer. »Diesmal bleibst du hier.« Und dann, zu Frau Fuchs: »Sie möchte einen Moment warten.«

Frau Fuchs schloss die Tür hinter sich

»Und wenn sie nicht reden will, wenn ich im Raum bin?«, fragte Schafmann.

»Dann soll sie halt wieder gehn.«

Schafmann lachte leise. »Was ist denn? Warum so ungnädig?«

»Gestern Abend ruft mich doch tatsächlich der Lortzig zu Hause an«, brummte Schwemmer und griff nach seiner Kaffeetasse.

»Wegen der Kindel?« Schafmann wirkte nicht überrascht. »War das das erste Mal?«, fragte er.

»Ja. Wieso?«

Schafmann grinste ein bisschen. »Ich glaube nicht, dass du hier viele Dinge tust, von denen Lortzig nichts erfährt.«

Schwemmer ließ die Schultern sinken und sah Schafmann beleidigt an. Ihm fehlten die Worte.

»Für die nächsten Jahre wirst du damit noch leben müssen. Aber es sind natürlich die alten Hasen, die ihn informieren. Und die sterben naturgemäß irgendwann aus.«

»Na toll«, sagte Schwemmer unwillig. »Wahrscheinlich bin ich dann auch schon in Pension.«

»Ja. Und dann halt ich dich auf dem Laufenden, was dein Nachfolger so treibt.« Schafmann lachte.

Schwemmer seufzte. »Sei’s drum«, murmelte er.

»Was hat Lortzig denn gesagt?«, fragte Schafmann.

»Die Kindel sei vielleicht ein guter Mensch, brächte mich aber in Teufels Küche.«

Schafmann wirkte amüsiert. »Da könnte er recht haben.«

»Wie denn? Es gibt keinen Mordfall. Das ist ja wohl ein wesentlicher Unterschied zu damals.«

»Immerhin steht sie schon wieder vor der Tür. Ich würd dir ja gern mit einem Rat zur Seite stehen – wenn ich nur die geringste Idee hätt, was sie dir gestern erzählt hat.«

Schwemmer nickte einsichtig und gab ihm einen Abriss von Frau Kindels Aussage, wenn man die so nennen mochte, ihrem gemeinsamen Ausflug zum...