Die Lutherdenkmäler zwischen 1817 und 1917 - Denkmalforschung, Lutherrezeption und protestantische Erinnerungskultur

Die Lutherdenkmäler zwischen 1817 und 1917 - Denkmalforschung, Lutherrezeption und protestantische Erinnerungskultur

von: Camilla Schneider

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2023

ISBN: 9783111055008 , 461 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 124,95 EUR

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Die Lutherdenkmäler zwischen 1817 und 1917 - Denkmalforschung, Lutherrezeption und protestantische Erinnerungskultur


 

1 Einleitung


Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Vor nun 500 Jahren, im April 1521, stand der Augustinermönch Martin Luther auf dem Wormser Reichstag vor Kaiser Karl V. und verweigerte unter Berufung auf sein Gewissen seine Schriften zu widerrufen. Durch Kunstinstallationen, Ausstellungen, Festspiele, historische Stadtführungen, Tagungen und weitere Veranstaltungen wird an das 500-jährige Jubiläum des Reichstags erinnert, werden Interessierte nach Worms eingeladen und wird Luthers Protest im Hinblick auf gegenwärtige Ereignisse aktualisiert.1

Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Dieser Ausspruch trifft auch auf den ehernen Luther auf dem Wittenberger Marktplatz zu, der dort seit Oktober 1821, das heißt seit 200 Jahren, steht und auf die an ihm vorübergehenden Menschen blickt. Diese nehmen ihn manchmal mehr und häufig doch weniger wahr. Das Medium Denkmal in Form einer auf einem Sockel erhöhten Statue einer berühmten Person wirkt heute eher fremd, weitestgehend unverständlich und als ein Relikt aus einer anderen Zeit.

Dabei war es nicht nur Luther, dem 1821 das „erste bedeutende bürgerliche Personenstandbild in Deutschland“2 gewidmet wurde, sondern er war es auch, der durch seine Bibelübersetzung, genauer durch die Verdeutschung des Verses Ex 13,93, den Denkmalbegriff im Deutschen prägte. Er verstand unter Denkmal ein Erinnerungszeichen beziehungsweise eine Gedächtnisstütze. Das heißt, beim Anblick des Denkmals sollte etwas Bestimmtes ins Gedächtnis gerufen werden. Auf welche Erinnerungen verweisen das Wittenberger und die anderen im 19. Jahrhundert errichteten Lutherdenkmäler und von wem wurde dieses Gedenken geformt?

1.1 Die Denkmalforschung als Teil der Erinnerungskultur


Warum erinnern wir uns heute an längst vergangene Personen wie Martin Luther und Ereignisse wie den Wormser Reichstag? Warum belassen wir es nicht dabei, von diesen in den Geschichtsbüchern zu lesen? Warum feiern wir noch heute Reformationsjubiläen zur Erinnerung an die Veröffentlichung der 95 Thesen? Warum feiern wir geschichtliche Ereignisse?

Blickt man zurück, so fällt auf, dass das Erinnern die menschliche Kulturgeschichte seit Jahrtausenden prägt. Bereits das sich formierende Judentum erinnerte sich an göttliche Heilstaten und machte diese zur Grundlage ihres Festkalenders. Ähnliches galt für das frühe Christentum, indem der Sonntag als Erinnerung an die Auferstehung gefeiert wurde und der Ablauf des Kirchenjahrs sich bis heute auf die Vergegenwärtigung des Lebens und Wirkens Jesu bezieht. Das Erinnern und Feiern von geschichtlichen Ereignissen war somit zunächst religiös geprägt.4 Erst Jahrhunderte später verband sich das öffentliche Gedenken mit politischen Inhalten. Im Mittelalter wurde die Erinnerung an den jeweiligen Tagesheiligen mit Herrschersiegen verknüpft, sodass sich das Gedenken an politische Ereignisse neben dem Heiligengedenken etablierte.

Wichtig für die weitere Entwicklung der Gedenkkultur wurde das Reformationsfest, da dieses nicht auf „personenbezogenen Daten von Luthers“5 Leben beruhte, sondern der Thesenanschlag als „heilsgeschichtlich bedeutsamer Neuanfang“6 gefeiert wurde. Durch die Loslösung des Erinnerns von einer einzelnen Person wurde die Entwicklung hin zum säkularen Geschichtsbewusstsein weiter befördert, welches im 19. Jahrhundert „in Staat und Nation seine wichtigsten aktuellen Bezugspunkte“7 fand. Daneben hatte die Reformation durch das Landesherrliche Kirchenregiment noch eine zweite Auswirkung auf die „Säkularisierung und Politisierung der Gedenkkultur“8 Die Obrigkeit hatte als Summus Episcopus das Recht, kirchliche und historische Gedenktage festzulegen, sodass bei öffentlichen Feierlichkeiten eine enge Verbindung zwischen Kirche und Politik entstand. Hierin war angelegt, dass bei Gedenkfeiern verschiedene Interessengruppen miteinander korrelierten.

In dieser Entwicklung vom religiösen, heilsgeschichtlich motivierten Fest hin zum politischen Erinnern wird deutlich, dass Erinnerung nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gemeinsame, mehrere Personen verbindende Komponente umfasst, das sogenannte kollektive Gedächtnis. Dieses ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand der Gedächtnisforschung. So ging Maurice Halbwachs insbesondere der Frage nach „wie sich Gruppen ein Gedächtnis schaffen“9 Dabei unterschied er zwischen Geschichte und Gedächtnis, indem er beide Begriffe als miteinander unvereinbar ansah. Für ihn war Geschichte universal und durch „eine unparteiische Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse“10 charakterisiert. Das Gedächtnis hingegen war seiner Meinung nach partikular und subjektiv, denn erinnert wird, „was dem Selbstbild und den Interessen der Gruppe entspricht“11

Halbwachs Theorie vom kollektiven Gedächtnis gilt heute als grundlegend für weitere kulturwissenschaftliche Ansätze. Auch Aleida Assmann bezieht sich auf Halbwachs und differenziert zwischen Geschichte und Gedächtnis. Doch anders als Halbwachs sieht sie in beiden nicht einen Gegensatz, sondern spricht sich für ein Nebeneinander aus: „Denn wir brauchen das Gedächtnis, um der Masse des historischen Wissens Leben einzuhauchen […] und wir brauchen die Geschichte, um die Konstruktionen des Gedächtnisses kritisch zu überprüfen“12

Weiter zeichnet das von Aleida Assmann und ihrem Ehemann Jan ausgearbeitete Konzept aus, dass sie das kollektive Gedächtnis in das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis auffächern. Während der Inhalt des ersten veränderlich ist und der zeitliche Rahmen auf ungefähr 80 Jahre beschränkt ist, umfasst das kulturelle Gedächtnis einen bestimmten Umfang an Inhalten. Dieser enthält mythische und als gemeinschaftsstiftend wahrgenommene „Ereignisse einer fernen Vergangenheit“13 Die besondere Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass der Zusammenhang „von kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung14 aufgezeigt wird.

Dieses Verständnis des kulturellen Gedächtnisses prägt auch Aleida Assmanns Definition der Erinnerungskultur. Auch wenn der Begriff Erinnerungskultur mehrdeutig ist, soll darunter im Rahmen dieser Arbeit „die Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe15 verstanden werden. Mit der Vergegenwärtigung von Geschichte geht die Stärkung des Selbstbewusstseins, die Identitätsbildung und die Selbstvergewisserung dieser spezifischen Gemeinschaft einher. Das heißt also, dass durch das Erinnern nicht allein etwas über die Vergangenheit ausgesagt, sondern vielmehr durch die Aktualisierung der Geschichte Aussagen über die Erinnerungsgemeinschaft und ihre Zeit getroffen werden können. Dieser grundlegende Aspekt ist wichtig, um zu verdeutlichen, dass die Vergangenheit, die in der Erinnerung „beschworen wird, […] hochgradig selektiv und stets an aktuelle Bedürfnisse“16 geknüpft ist.17

Um ein lebendiges, kommunikatives Gedächtnis auch für nachfolgende Generationen zu bewahren, bedarf es eines „mediengestützten Gedächtnis[ses]“18 Dieses ist im Gegensatz zur individuellen Erinnerung nicht spontan, sondern es handelt sich um einen bewussten, gesteuerten Erinnerungsprozess, da ausgewählt und geplant wird, welche Inhalte überliefert oder eben auch nicht erinnert werden sollen. Zu diesen Medien der kulturellen Erinnerung zählen unter anderem „Denkmäler, Gedenkstätten, Museen und Archive“19

Dass Denkmäler nicht nur als kunstgeschichtliche Zeugnisse, sondern auch als historische Quellen in den Fokus der Geschichtswissenschaft genommen werden, begann erst in den 1960er Jahren. Grundlegend hierfür war der Aufsatz von Thomas Nipperdey zum Nationaldenkmal im Jahr 1968. Dieser kam noch ganz ohne Abbildungen der Monumente aus, da er die „Denkmalbewegungen und die Denkmalfeste“20 in den Mittelpunkt stellte, um „Aufschlüsse über die Struktur von Nationalbewegung und Nationalidee zu gewinnen“21 Dem historischen stand dementsprechend der kunstgeschichtliche Zugang gegenüber, der das Denkmal als Objekt in den Fokus nahm, um die Ikonographie und die stilistischen Entwicklungen beschreiben zu können. Seit den 1970ern näherten sich durch interdisziplinäres Arbeiten die beiden Fachrichtungen an, sodass „[d]ie Lücke zwischen Wort und Bild, zwischen Idee und Denkmal […] zum größten Teil geschlossen“22 wurde.23

Denkmäler sind dementsprechend nicht nur als Kunstwerke, sondern auch als historische Quellen zu würdigen, da sie Aufschluss über das Kunstverständnis und das öffentliche Geschichtsbild ihrer Entstehungszeit geben. Zudem bieten sie „einen Zugang zu Konstruktionsprozessen wie -bedingungen von Erinnerungsräumen und dem jeweils dominanten Selbstbild einer Gesellschaft“24 Durch die Denkmäler des 19. Jahrhunderts kann sich dem zeitgenössischen kollektiven Gedächtnis, welches im öffentlichen Raum durch die dominierenden gesellschaftlichen Gruppen konserviert wurde, angenähert und Rückschlüsse auf die Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts...