Lieben - Roman

von: Karl Ove Knausgård

Luchterhand Literaturverlag, 2012

ISBN: 9783641096670 , 768 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Lieben - Roman


 

»Ja, das tut sie«, sagte ich.

Schweigend gingen wir ein Stück weiter. Vor dem Subway neben dem Supermarkt sah ich die irre weißhaarige Frau stehen und durchs Fenster starren. Aggressiv und unberechenbar lief sie in unserem Viertel herum, meist mit sich selbst redend, die Haare stets in einem straffen Dutt, und immer, sommers wie winters, in demselben beigen Mantel.

»Mache ich auch eine Geburtstagsfeier, wenn ich Geburtstag habe, Papa?«, sagte Vanja.

»Wenn du willst«, antwortete ich.

»Das will ich«, sagte sie. »Ich will, dass Heidi, du und Mama kommt.«

»Das hört sich nach einer kleinen, aber feinen Runde an«, sagte ich und hob sie vom rechten auf den linken Arm.

»Weißt du, was ich mir wünsche?«

»Nein?«

»Einen Goldfisch«, sagte sie. »Kann ich einen bekommen?«

»Na ja…«, sagte ich. »Wenn man einen Goldfisch hat, muss man sich auch gut um ihn kümmern. Ihn füttern und das Wasser wechseln und so. Und ich denke, dafür sollte man ein bisschen älter sein als vier Jahre.«

»Aber ich kann ihn füttern! Und Jiro hat auch einen. Er ist kleiner als ich.«

»Das stimmt«, sagte ich. »Mal sehen. Geburtstagsgeschenke sollen doch geheim sein, das ist ja das Tolle an ihnen.«

»Geheim? Wie ein Geheimnis?«

Ich nickte.

Oh, verdammt! Oh, verdammt! Sagte die verrückte Frau, von der wir jetzt nur noch ein paar Meter entfernt waren. Unsere Bewegungen wahrnehmend, wandte sie sich um und sah mich an. Oh, diese Augen waren böse.

»Was trägst du da für Schuhe?«, sagte sie hinter uns. »He, Vater! Was sind das für Schuhe, die du da trägst. Jetzt lass mich gefälligst kurz mit dir reden!«

Und dann lauter:

»Verdammt! Oh, ver-DAMMT!«

»Was hat die Tante gesagt?«, sagte Vanja.

»Nichts«, antwortete ich und drückte sie fester an mich.

»Du bist das Tollste, was ich habe, Vanja, weißt du das? Das Aller, Allertollste.«

»Auch toller als Heidi?«, sagte sie.

Ich lächelte.

»Du und Heidi, ihr seid gleich toll. Wirklich haargenau gleich toll seid ihr.«

»Heidi ist toller«, sagte sie. Ihr Ton war vollkommen neutral, als hielte sie etwas Unanfechtbares fest.

»Quatsch«, sagte ich. »Du kleine Quatschmacherin.«

Sie lächelte. Ich warf an ihr vorbei einen Blick in den großen, fast menschenleeren Supermarkt, in dem die Waren zu beiden Seiten der kleinen Straßen aus Regalen und Theken glänzten, die man in ihm errichtet hatte. Zwei Kassiererinnen saßen an ihren Kassen und starrten, auf Kunden wartend, vor sich hin. An der Ampelkreuzung auf der anderen Straßenseite lief ein Motor im Leerlauf, und als ich den Kopf drehte, sah ich, dass er einem dieser riesigen, jeepartigen Wagen gehörte, die in den letzten Jahren immer häufiger im Straßenbild auftauchten. Die Zärtlichkeit, die ich für Vanja empfand, war so groß, dass es mich fast zerriss. Um ihr etwas entgegenzusetzen, verfiel ich in einen Laufschritt. Am Ankara vorbei, dem türkischen Restaurant, das Bauchtanz und Karaoke anbot und vor dessen Eingang abends oft wohlhabende, nach Rasierwasser duftende Männer aus dem Osten standen und Zigarren rauchten, das nun jedoch menschenleer war, am Burger King vorbei, wo ein unglaublich dickes Mädchen alleine auf der Bank davor saß und mit einer Mütze und Fingerhandschuhen bekleidet einen Hamburger mampfte, am Staatlichen Alkoholladen und der Handelsbank vorbei, wo ich bei Rot stehen blieb, obwohl auf keiner der Spuren Autos fuhren. Die ganze Zeit hielt ich Vanja fest an mich gedrückt.

»Siehst du den Mond?«, sagte ich und zeigte zum Himmel hoch.

»Mm«, sagte sie. Und dann, nach einer kleinen Pause: »Sind da Menschen gewesen?«

Sie wusste genau, dass dort einmal Menschen gewesen waren, aber sie wusste auch, dass ich ihr gerne von solchen Dingen erzählte.

»Oh ja«, sagte ich. »Als ich gerade erst auf die Welt gekommen war, sind drei Männer hingesegelt. Es ist weit, die Reise hat mehrere Tage gedauert. Und dann sind sie da oben spazieren gegangen.«

»Die sind nicht gesegelt, die sind in einem Raumschiff gefahren«, sagte sie.

»Da hast du Recht«, sagte ich. »Sie haben eine Rakete genommen.«

Die Ampel schaltete auf Grün um, und wir gingen auf die andere Straßenseite, wo der Platz begann und unsere Wohnung lag. Ein hagerer Mann in einer Lederjacke und mit Haaren, die weit seinen Rücken hinabreichten, stand vor einem Geldautomaten. Er nahm mit der einen Hand seine Karte, als sie ausgeworfen wurde, während er sich mit der anderen die Haare aus dem Gesicht strich. Die Geste war feminin und komisch, da alles andere an ihm, die ganze Heavy-Metal-Montur, dunkel, hart und maskulin sein wollte.

Der kleine Haufen Quittungen auf dem Boden zu seinen Füßen wurde in einem Windstoß hochgewirbelt.

Ich steckte die Hand in die Tasche und zog den Schlüsselbund heraus.

»Was ist das?«, sagte Vanja und zeigte auf die beiden Slush-Maschinen, die vor dem kleinen Thai-Imbiss neben unserer Haustür standen.

»Slush«, sagte ich. »Aber das weißt du doch.«

»Ich will was haben!«, sagte sie.

Ich sah sie an.

»Nein, das bekommst du jetzt nicht. Hast du denn Hunger?«

»Ja.«

»Wenn du möchtest, können wir einen Hähnchenspieß kaufen. Möchtest du einen?«

»Ja.«

»Okay«, sagte ich und setzte sie ab, öffnete die Tür zum Imbiss, der kaum mehr als ein Loch in der Wand war und tagtäglich unseren sieben Etagen höheren Balkon mit dem Geruch von Nudeln und frittiertem Hähnchen füllte. Sie verkauften zwei Gerichte in einer Pappschachtel für nur fünfundvierzig Kronen, weshalb es nicht gerade das erste Mal war, dass ich vor der gläsernen Theke stand und bei der spindeldürren, ausdruckslosen und hart arbeitenden, jungen, asiatischen Frau bestellte. Ihr Mund stand immer offen, über den Zähnen sah man das Zahnfleisch, ihr Blick war stets neutral, als machte nichts irgendeinen Unterschied. In der Küche arbeiteten zwei ebenso junge Männer, die ich immer nur flüchtig sah, und zwischen diesen pendelte ein Mann in den Fünfzigern, auch sein Gesicht ausdruckslos, aber eine Spur freundlicher, jedenfalls wenn wir uns in den langen, labyrinthischen Korridoren unter dem Haus begegneten, er, um etwas aus einem Lagerraum zu holen oder dorthin zu bringen, ich, um den Müll fortzubringen, Kleider zu waschen, das Fahrrad hinein oder hinaus zu schieben.

»Kannst du das selbst tragen?«, sagte ich zu Vanja und reichte ihr die warme Schachtel, die zwanzig Sekunden nach meiner Bestellung vor mir auf der Theke stand. Vanja nickte, ich bezahlte, und wir betraten den Flur nebenan, wo Vanja den Pappkarton auf dem Fußboden abstellte, um den Aufzugknopf drücken zu können.

Sie zählte laut alle Stockwerke aufwärts. Als wir vor unserer Wohnung standen, gab sie mir die Schachtel, öffnete die Tür und rief schon nach ihrer Mutter, noch ehe sie drinnen war.

»Erst die Schuhe«, sagte ich und hielt sie zurück. Im selben Moment kam Linda aus dem Wohnzimmer. Ich hörte, dass der Fernseher lief.

Ein schwacher Geruch von Fäulnis und Schlimmerem ging von der großen Mülltüte und den zwei kleinen Windeltüten aus, die hinter dem zusammengeklappten Doppelbuggy in der Ecke standen. Neben ihm lagen Heidis Schuhe und Jacke auf dem Fußboden.

Warum zum TEUFEL hatte sie die Sachen nicht in den Schrank gelegt?

Im Flur wimmelte es von Kleidern, Spielzeug, alten Reklameblättern, Kinderwagen, Taschen, Wasserflaschen. War sie etwa nicht den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen?

Aber vor dem Fernseher lümmeln, das konnte sie.

»Ich habe eine Tüte Süßes bekommen, obwohl ich beim Angeln gar nicht mitgemacht habe!«, sagte Vanja.

Das ist ihr also so wichtig gewesen, dachte ich und bückte mich, um ihr die Schuhe auszuziehen. Ihr Körper zuckte vor Ungeduld.

»Und dann habe ich noch mit Achilles gespielt!«

»Toll«, sagte Linda und ging vor ihr in die Hocke.

»Darf ich mal sehen, was in der Tüte alles ist?«, sagte sie.

Vanja öffnete sie für Linda.

Hatte ich es mir doch gedacht. Öko-Süßigkeiten. Die mussten aus dem Geschäft stammen, das erst kürzlich im Einkaufszentrum gegenüber eröffnet hatte. Verschiedene Nüsse mit Schokoladenüberzug in unterschiedlichen Farben. Kandierter Zucker. Ein paar rosinenartige Dinger.

»Kann ich das jetzt essen?«

»Erst der Hähnchenspieß«, sagte ich. »In der Küche.«

Ich hängte ihre Jacke an den Kleiderhaken, legte die Schuhe in den Schrank und ging in die Küche, wo ich den Hähnchenspieß, die Frühlingsrollen und ein paar Nudeln auf einen Teller legte, Messer und Gabel heraussuchte, ein Glas mit Wasser füllte, alles vor ihr auf dem Tisch platzierte, der immer noch voller Filzstifte, Wasserfarben, einem Glas mit Malwasser, Pinsel und Zeichenblätter lag.

»Hat alles geklappt bei euch?«, sagte Linda und setzte sich neben Vanja.

Ich nickte, lehnte mich mit dem Rücken gegen die Arbeitsfläche, verschränkte die Arme.

»Ist Heidi schnell eingeschlafen?«, sagte ich.

»Nein. Sie hat Fieber. Deshalb ist sie bestimmt so quengelig gewesen.«

»Schon wieder?«, sagte ich.

»Mm. Aber es ist nicht besonders hoch.«

Ich seufzte. Drehte mich um und betrachtete das dreckige Geschirr, das auf der Arbeitsfläche und in der Spüle gestapelt stand.

»Hier sieht es grauenvoll...