Axis - Roman

von: Robert Charles Wilson

Heyne, 2012

ISBN: 9783641093976 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Axis - Roman


 

1


Im Sommer seines zwölften Lebensjahres – dem Sommer, in dem die Sterne vom Himmel fielen – stellte Isaac fest, dass er Ost und West mit geschlossenen Augen unterscheiden konnte.

Er lebte auf dem Kontinent Äquatoria, am Rande der großen Binnenwüste, auf dem Planeten, der der Erde von jenen unergründlichen Wesen hinzugefügt worden war, die als die Hypothetischen bezeichnet wurden. Man hatte diesem Planeten eine ganze Palette von grandios mythologischen und nüchtern wissenschaftlichen Namen verliehen, doch die meisten Leute nannten ihn, in einer der über hundert existierenden Sprachen, einfach die Neue Welt oder schlicht Äquatoria, nach dem am stärksten besiedelten Kontinent. Derlei Dinge hatte Isaac in einer Einrichtung gelernt, die man mehr oder weniger als Schule bezeichnen konnte.

Er wohnte in einem Gebäudekomplex aus Backstein und Adobeziegeln, weit entfernt von der nächsten Stadt. Er war das einzige Kind in der Siedlung. Die Erwachsenen, bei denen er lebte, wahrten zwischen sich und der übrigen Welt eine gehörige Distanz. Sie waren anders, etwas Besonderes, auf eine Weise, über die sie nicht gern sprachen. Auch Isaac war etwas Besonderes. Das jedenfalls hatten sie ihm gesagt, immer wieder. Er wusste jedoch nicht, ob er ihnen das glauben konnte – er fühlte sich in keinster Weise wie etwas Besonderes.

Hin und wieder fragten die Erwachsenen, vor allem Dr. Dvali und Mrs. Rebka, ob Isaac sich einsam fühle. Tat er nicht: Er hatte Bücher und eine große Sammlung von Videos, mit denen er sich beschäftigen konnte. Er war Schüler und lernte in seinem eigenen Tempo – nicht übermäßig schnell, aber stetig. In dieser Hinsicht, so Isaacs Verdacht, war er eine Enttäuschung für seine Aufsichtspersonen. Doch die Bücher, die Videos und die Lektionen gaben ihm etwas zu tun, und wenn sie nicht zur Verfügung standen, war da immer noch die Natur, die ihm eine Art stummer, gleichmütiger Freund geworden war: die Berge, die sich – grau, grün und braun – auf die trockene Ebene herabsenkten, das Wüstenhinterland, eine erstarrte Welt aus Fels und Sand. Hier wuchs wenig, denn Regen fiel nur in den ersten Monaten des Frühlings und selbst dann spärlich. In den ausgetrockneten Bachbetten behaupteten sich plumpe Pflanzen mit prosaischen Namen: Tonnengurken, Lederranken. Im Hof der Wohnanlage war ein Garten mit einheimischen Gewächsen angelegt worden: gefiederte Kakteen mit purpurroten Blumen, hochgewachsene Nimmergrüns mit netzartigen Blüten, die Feuchtigkeit aus der Luft zogen. Ein Mann namens Raj bewässerte manchmal morgens den Garten mit einer Pumpe, die tief in die Erde hinabreichte. Dann roch die Luft, noch im Umkreis von einigen Kilometern, nach mineralreichem, eisenhaltigem Wasser. An Bewässerungstagen gruben sich auch Felsmäuse unter dem Zaun hindurch und wuselten putzig über den gepflasterten Hof.

Im Frühsommer seines zwölften Jahres verliefen Isaacs Tage in sanfter Gleichförmigkeit, so wie sie es immer getan hatten, doch dieser schläfrige Friede endete, als die alte Frau eintraf.

 

Bemerkenswerterweise kam sie zu Fuß.

Isaac hatte die Anlage an diesem Nachmittag verlassen und war ein Stück ins Vorgebirge hinaufgeklettert, auf einen granitenen Sockel, der aus dem Hang hervorsprang wie der Bug eines Schiffes aus einem steinernen Meer. Die Sonne hatte den Fels schön aufgeheizt. Isaac, mit breitkrempigem Hut und weißem Baumwollhemd als Schutz vor dem brennenden Licht, saß unter dem Rand des Hügelkamms, wo er noch Schatten fand, und beobachtete den Horizont. Backofenglut stieg in sich kräuselnden Wellen aus der Wüste auf. Gleichsam in der Hitze schwimmend, ein Schiffbrüchiger auf einem trockenen Floß aus Stein, saß er dort und rührte sich nicht, als die Frau auftauchte. Erst war sie nur ein kleiner Punkt auf der unbefestigten Straße, die zu den fernen Orten führte, an denen Isaacs Aufsichtspersonen Nahrung und sonstige Vorräte kauften. Sie bewegte sich langsam, so schien es jedenfalls. Beinahe eine Stunde verging, bis er sie als Frau identifizieren konnte, dann als alte Frau, schließlich als eine alte Frau mit einem Rucksack, O-Beinen und einem entschlossenen, ja verbissenen Gang. Sie trug ein langes weißes Kleid und einen weißen Sonnenhut.

Die Straße führte dicht an seinem Felsen vorbei, fast direkt unterhalb davon, und Isaac, der nicht gesehen werden wollte, obwohl er nicht hätte sagen können, warum, kroch hinter einen größeren Stein, als die Frau sich näherte. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er würde die Masse und das Gewicht der Erde unter sich spüren und die Schritte der alten Frau auf der Haut der Wüste, kitzelnd, wie ein Käfer auf dem Körper eines schlafenden Riesen. (Und noch etwas anderes, etwas tief unten in dieser Erde, ein stiller Behemoth, der sich, weit im Westen, nach langem Schlaf zu regen begann …)

Als hätte sie ihn in seinem Versteck erblickt, blieb die alte Frau unter dem Felsvorsprung stehen. Isaac merkte es daran, dass der Rhythmus ihrer schlurfenden Schritte aussetzte. Vielleicht machte sie aber auch nur eine Pause, um zwischendurch einen Schluck Wasser zu trinken. Jedenfalls sagte sie nichts, und Isaac verhielt sich seinerseits mucksmäuschenstill, etwas, was er perfekt beherrschte.

Dann setzten die Schritte wieder ein. Die Frau ging weiter und verließ die Straße schließlich an der Stelle, an der ein Pfad zu dem umzäunten Gelände abzweigte. Isaac reckte den Kopf und sah ihr nach. Das Licht des Nachmittags zog ihren Schatten neben ihr her wie eine langbeinige Karikatur. Plötzlich blieb sie erneut stehen, drehte sich um, und für einen Moment schien es, als würden sich ihre Blicke treffen, sodass Isaac sich hastig wegduckte. Erschrocken darüber, wie genau sie in seine Richtung gesehen hatte, verharrte er so lange in seinem Versteck, bis das Sonnenlicht schräg in die Bergpässe hineinfiel. Er versteckte sich sogar vor sich selbst – still wie ein Fisch in einem Tümpel der Erinnerung, der Gedanken.

Die alte Frau gelangte zum Tor und betrat das Gelände, und bevor der Himmel vollständig dunkel wurde, folgte Isaac ihr. Er fragte sich, ob man sie ihm vorstellen würde, beim Abendessen vielleicht.

Es kamen nur sehr wenige Außenstehende hierher. Und die meisten von denen, die kamen, blieben.

 

Nachdem Isaac gebadet und sich saubere Sachen angezogen hatte, ging er in den Speisesaal.

Hier versammelte sich jeden Abend die gesamte Gemeinschaft, alle dreißig Erwachsenen. Die Morgen- und Nachmittagsmahlzeiten waren jedem Einzelnen überlassen, konnten jederzeit eingenommen werden, sofern man gewillt war, sich selbst in der Küche zu versorgen, doch das Abendessen war eine gemeinschaftliche Angelegenheit mit stets großem Auftrieb und unvermeidlich laut.

Für gewöhnlich machte es Isaac Spaß, den Erwachsenen zuzuhören, obwohl er selten verstand, wovon die Rede war, wenn es nicht gerade um ausgesprochen Triviales ging: Wer an der Reihe war, Vorräte in der Stadt zu besorgen, wie ein Dach repariert oder ein Brunnen verbessert werden könnte. Da die Erwachsenen jedoch überwiegend Wissenschaftler und Theoretiker waren, wandte sich ihr Gespräch häufiger abstrakten Dingen zu. Beim Zuhören schnappte Isaac zwar nur wenig von den Details ihrer Arbeit auf, aber einiges von ihrem allgemeinen Gehalt: Immer wieder war von der Zeit die Rede, den Sternen und den Hypothetischen, von Technologie und Biologie, von Evolution und Transformation. Und obwohl diese Gespräche meistens um Begriffe kreisten, die ihm absolut nichts sagten, hatten sie für sein Gefühl etwas Bedeutungsschweres. Oft wurden die Diskussionen  – war es angemessen, die Hypothetischen als mit Bewusstsein begabte Wesen zu bezeichnen, oder waren sie vielmehr ein bewusstloser Prozess? – sehr erregt geführt, wurden Thesen oder Grundüberzeugungen angegriffen beziehungsweise verteidigt wie ein militärisches Ziel. Es war, als würde in einem nahe gelegenen, aber unzugänglichen Raum das ganze Universum auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt.

An diesem Abend allerdings herrschte ein eher gedämpftes Murmeln. Es gab einen Neuankömmling: die alte Frau von der Straße. Isaac warf verstohlene Blicke in ihre Richtung, während er zwischen Dr. Dvali und Mrs. Rebka Platz nahm. Sie erwiderte diese Blicke nicht, ja schien seine Anwesenheit am Tisch gar nicht wahrzunehmen. Als sich die Gelegenheit ergab, betrachtete Isaac ihr Gesicht genauer.

Sie war noch älter, als er vermutet hatte. Ihre Haut war dunkel und von Falten durchzogen. Die Augen, hell und glänzend, blickten aus knochigen Höhlen hervor. Messer und Gabel hielt sie in langen, zerbrechlich wirkenden Fingern. Die Handinnenflächen waren blass. Sie hatte die Wüstenkleidung abgelegt und Sachen angezogen, die denen der anderen Erwachsenen ähnelten: Jeans und ein blassgelbes Baumwollhemd. Sie hatte dünne, sehr kurz geschnittene Haare. Sie trug keinerlei Ringe oder Ketten. In einer Armbeuge war ein mit Pflaster befestigter Baumwolltupfer: Offenbar hatte Mrs. Rebka, die Ärztin der Gemeinschaft, ihr bereits eine Blutprobe entnommen. Das war bei allen Neuankömmlingen üblich. Isaac fragte sich, ob Mrs. Rebka wohl Mühe gehabt hatte, in diesem schmalen, sehnigen Arm eine Vene zu finden. Er fragte sich auch, welchem Zweck die Blutprobe diente und ob Mrs. Rebka das gefunden hatte, was sie suchte.

Während des Essens wurde der Neuen keine spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Sie nahm am Gespräch teil, doch dieses blieb an der Oberfläche, als wollte niemand irgendwelche Geheimnisse preisgeben, bevor die Fremde nicht vollständig anerkannt, aufgenommen und ihr Anliegen verstanden war. Erst als das Geschirr abgeräumt war und mehrere Kannen Kaffee auf dem langen Tisch standen, machte...