Die Ambler-Warnung - Roman

von: Robert Ludlum

Heyne, 2012

ISBN: 9783641093822 , 656 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Die Ambler-Warnung - Roman


 

Kapitel zwei


Langley, Virginia

 

Selbst nach fast dreißig Dienstjahren genoss Clayton Caston noch immer die kleinen Details des CIA-Komplexes wie die im Freien aufgestellte Skulptur Kryptos: ein s-förmiges Kupfergitter, das von Buchstaben durchdrungen wurde – ein aus der Zusammenarbeit eines Bildhauers mit einem Kryptografen der Agency entstandenes Werk. Oder das Basrelief von Alan Dulles an der Nordwand mit der vielsagenden Inschrift: Sein Monument umgibt uns. Nicht alle Ergänzungen aus jüngerer Zeit waren jedoch ebenso erhebend. Der Haupteingang der Agency war in Wirklichkeit das Foyer des jetzt als Originales Zentralgebäude bezeichneten Baus, der »Original« geworden war, als im Jahr 1991 das Neue Zentralgebäude errichtet worden war, und die heute übliche Namensgebung verhinderte, dass ein Bau einfach Zentralgebäude genannt wurde. Man musste sich zwischen dem Original und dem Neuen entscheiden, das aus einer Ansammlung von fünfstöckigen Bürotürmen auf einem Hügel neben dem ursprünglichen OZB bestand. Um den Haupteingang des NZBs zu erreichen, musste man in den dritten Stock hinauffahren. Alles reichlich verwirrend, was seiner Erfahrung nach keinesfalls eine Empfehlung war.

Castons Büro lag natürlich im OZB, aber nicht einmal in der Nähe seiner von glänzenden Fensterreihen durchbrochenen Außenwände. Tatsächlich war es regelrecht versteckt: ein fensterloser Innenraum von der Art, in dem sonst Fotokopierer standen oder Büromaterial lagerte. Ein idealer Raum, wenn man nicht gestört werden wollte, aber nur wenige Leute betrachteten ihn unter diesem Aspekt. Selbst Veteranen der Agency neigten zu der Vermutung, Caston sei zu einem internen Exil vergattert worden. Sie betrachteten ihn und sahen einen unbedeutenden Menschen, der sicher nicht viel geleistet hatte, einen Mann in seinen Fünfzigern, der seine Zeit absaß, planlos Akten hin und her schob und die Tage zählte, bis er in Pension gehen durfte.

Wer ihn gesehen hätte, wie er morgens seinen Platz hinter dem Schreibtisch einnahm – die Augen auf die Schreibtischuhr gerichtet, Kugelschreiber und Bleistifte auf der Schreibunterlage aufgereiht wie Silberbesteck auf einem Set -, hätte solche Vorurteile nur bestätigt gesehen. 8.54 zeigte die Uhr an, nach Castons Auffassung sechs Minuten vor Beginn des eigentlichen Arbeitstages. Er zog ein Exemplar der Financial Times heraus und wandte sich dem Kreuzworträtsel zu. Ein rascher Blick auf die Uhr. Fünf Minuten. Jetzt machte er sich an die Arbeit. Eins waagrecht.

Eins senkrecht. Hauptstadt des Sudan

 

Ohne jemals mehr als ein bis zwei Sekunden zu zögern, füllte er mit dem Bleistift lautlos die Kästchen des Kreuzworträtsels aus.

Und jetzt war er fertig. 8.59 zeigte die Uhr an. Von der Tür her war ein Klappern zu hören: sein Assistent, der auf die Minute pünktlich kam und außer Atem war, weil er den Flur entlanggejoggt war. Pünktlichkeit war das Thema eines Gesprächs gewesen, das sie vor Kurzem geführt hatten. Adrian Choi öffnete den Mund, als wolle er eine Entschuldigung vorbringen; dann sah er auf seine Uhr und glitt schweigend auf den Stuhl vor seiner kleineren, niedrigeren Workstation. Um seine mandelförmigen Augen hing noch ein Rest Schlaf, und sein dichtes schwarzes Haar war noch feucht vom Duschen. Adrian Choi war gerade dreiundzwanzig Jahre alt, trug ein unauffälliges Zungenpiercing und schien weiterhin kein Zeitgefühl zu haben.

Um Punkt 9 Uhr steckte Caston die Financial Times in den Papierkorb und öffnete seine sichere E-Mail-Ablage. Mehrere Mails enthielten innerhalb der Agency verbreitete Mitteilungen, die ihn nicht sonderlich interessierten: ein neues Wellness-Programm, eine kleine Korrektur der Versicherung für Zahnbehandlungen, eine Intranetadresse, unter der Mitarbeiter den Stand ihres Versorgungsplans 401 (k) erfragen konnten. Eine Mail kam von einem Angestellten der Steuerbehörde in St. Louis, der sich zwar über eine Anfrage von der Innenrevision der CIA wunderte, aber gern bereit war, detaillierte Angaben über die von einem bestimmten Unternehmen der Leichtindustrie in den letzten sieben Jahren gegründeten Tochtergesellschaften zur Verfügung zu stellen. Eine weitere kam von einer kleinen Gesellschaft, deren Aktien in Toronto notiert waren, und enthielt die von Caston angeforderten Informationen über Börsentransaktionen ihrer Vorstandsmitglieder im vergangenen Halbjahr. Der Finanzchef verstand nicht, wozu Caston außer dem jeweiligen Datum auch die Uhrzeit benötigte, aber er hatte sie wunschgemäß hinzugefügt.

Caston wusste recht gut, wie trocken und langweilig seine Aktivitäten den meisten seiner Kollegen erschienen. Die Hochschulabsolventen und Mitglieder elitärer Verbindungen, die im Außendienst gewesen waren oder weiterhin hofften, dort wieder eingesetzt zu werden, behandelten ihn mit freundlicher Herablassung. »Man weiß nur, was man selbst gesehen hat«, lautete ihr Motto. Caston fuhr natürlich niemals irgendwohin, aber andererseits hielt er auch nichts von diesem Dogma. Wenn er sich in einen Stapel Arbeitsblätter vertiefte, konnte er oft jemandem alles vermitteln, was dieser wissen musste, ohne dass er seinen Schreibtisch hätte verlassen müssen.

Andererseits wussten nur sehr wenige seiner Kollegen, was Caston tatsächlich machte. War er nicht einer der Kerle, die anderer Leute Reise- und Spesenabrechnungen kontrollierten? Oder hatte seine Tätigkeit mehr mit Bestellungen von Papier und Druckerpatronen zu tun – schließlich brauchte niemand in geheimen Abrechnungen herumzuschnüffeln, nicht wahr? Jedenfalls brachte sein Job ihm kaum mehr Prestige ein als der des Hausmeisters. Es gab allerdings auch einige wenige Kollegen, die Caston respektvoll, fast ehrfürchtig begegneten. Sie gehörten meistens zum engeren Kreis der CIA-Direktoren oder zur Führungsspitze der Hauptverwaltung Spionageabwehr. Sie wussten, weshalb Aldrich Ames im Jahr 1994 wirklich geschnappt worden war. Und sie wussten, dass eine kleine, aber ständig vorhandene Differenz zwischen offiziellem Einkommen und persönlichen Ausgaben zur Enttarnung Gordon Blaines und seines Spionagenetzes geführt hatte. Sie wussten von Dutzenden von weiteren, zum Teil vergleichbaren Triumphen, von denen die Öffentlichkeit nie erfahren würde.

Es war eine Mischung aus Charakterzügen und Talenten, die Caston dort Erfolge brachte, wo ganze Abteilungen versagten. Ohne jemals sein Büro zu verlassen, grub er sich tief durchs verwirrende Labyrinth menschlicher Käuflichkeit. Gefühle interessierten ihn dabei wenig; vielmehr hatte er einen Buchhalterblick für Zahlenreihen, deren Salden nicht übereinstimmten. Eine Reise, die gebucht, aber nicht unternommen wurde; eine Taxiquittung, die zeitlich oder räumlich nicht zum Verlauf der Reise passte; eine Kreditkartenabrechnung für ein zweites, nicht gemeldetes Handy: Es gab tausend Kleinigkeiten, durch die ein Schwindler sich verraten konnte, und er brauchte nur einen Fehler zu machen. Aber wer die Mühen der Kollation scheute – wer nicht sicherstellen wollte, dass eins waagrecht mit eins senkrecht übereinstimmte –, würde sie nie entdecken.

Adrian, dessen Haar zu trocknen begann, trat mit mehreren Memos in den Händen an Castons Schreibtisch und erläuterte lebhaft, was er sortiert und was er davon weggeworfen hatte. Caston blickte zu ihm auf, bemerkte den tätowierten Unterarm des jungen Mannes und sah gelegentlich einen Zungensticker aufblitzen: beides undenkbar, als er angefangen hatte, aber vermutlich musste auch die Agency mit der Zeit gehen.

»Vergessen Sie nicht, die vierteljährlichen Vordrucke 166 zur Bearbeitung wegzuschicken«, sagte Caston.

»Super«, sagte Adrian. Er sagte oft super, was in Castons Ohren wie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts klang, aber anscheinend war das Wort wieder in Mode gekommen. Soweit Caston beurteilen konnte, hieß es ungefähr: Ich habe gehört, was Sie gesagt haben, und es mir zu Herzen genommen. Vielleicht bedeutete es weniger; mehr bedeutete es bestimmt nicht.

»Was ist heute Morgen eingegangen? Irgendetwas Ungewöhnliches? Irgendetwas ... Irreguläres?«

»Eine Voicemail von Caleb Norris, dem Assistant Deputy Director of Intelligence?« In Adrians Stimme klang eine kalifornische Intonation an – die fragende Stimmhebung, mit der junge Leute heutzutage oft ihre Aussagen relativierten.

»Fragen Sie mich oder erzählen Sie’s mir?«

»Sorry. Das war erzählt.« Adrian machte eine Pause. »Ich habe das Gefühl, dass die Sache dringend sein könnte.«

Caston lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie haben das Gefühl?«

»Ja, Sir.«

Caston betrachtete den jungen Mann, wie ein Insektenforscher eine Gallwespe studiert. »Und Sie ... teilen mir Ihre Gefühle mit. Interessant. Also, gehöre ich zu Ihrer Familie, bin ich Ihr Vater oder Bruder? Sind wir Kumpel?Bin ich Ihre Ehefrau oder Freundin?«

»Na ja, ich ...«

»Nein? Wollte mich nur vergewissern. Dann – und das ist ein Deal, den ich Ihnen vorschlage – erzählen Sie mir bitte nicht, was Sie fühlen. Mich interessiert nur, was Sie denken. Was Sie glauben, selbst wenn Sie sich Ihrer Sache nicht hundertprozentig sicher sind. Was Sie durch Beobachtungen oder Schlussfolgerungen wissen. Was Ihre nebulösen sogenannten Gefühle angeht, behalten Sie sie bitte für sich.« Er machte eine Pause. »Tut mir leid. Habe ich Ihre Gefühle verletzt?«

»Sir,...