Schwarzkittel - Palzkis zweiter Fall

von: Harald Schneider

Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN: 9783839230107 , 288 Seiten

5. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Schwarzkittel - Palzkis zweiter Fall


 

2. Hat die Gerechtigkeit gesiegt?


Zehn Minuten später stand ich vor meinem Haus. Schnell sprang ich hinein und griff mir die auf dem Küchentisch liegende angebrochene Tüte Waffelgebäck sowie eine Handvoll Lakritzschnecken. Genaugenommen waren das die Überreste meines gestrigen Abendessens. Ich stellte fest, dass ich dringend einkaufen sollte, bevor Stefanie zu ihrer Familien-Testwoche anrückte. Im Vorbeigehen schnappte ich mir eine der mächtig überreif riechenden Bananen, die ich kürzlich von meiner Nachbarin, Frau Ackermann, geschenkt bekommen hatte. Schließlich sollte man ab und zu auch mal einen Beitrag zur gesunden Ernährung leisten.

Mit vollgekrümelten Hosen fuhr ich in Richtung Haßloch. Die Obstfliegen auf der Banane schienen sich sogar während der Fahrt weiterhin zu vermehren. An der Tankstelle bei Iggelheim machte ich einen Zwangsstopp, um die Banane zu entsorgen. Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg zu schauen, ob aufgrund der zu erwartenden Faulgasbildung die Tankstelle noch existierte.

Bis nach Haßloch hatte ich mich mit geöffneten Fenstern von dem restlichen Mückenzeug befreit. Einen grippalen Infekt musste ich als potenzielle Nebenwirkung in Kauf nehmen.

Statt eines Wegweisers hieß innerhalb der Haßlocher Bebauung die erste Querstraße ›Rennbahnstraße‹.

Trotz dieses missverständlichen Namens blieb ich mit meiner Geschwindigkeit im individuellen Toleranzbereich des innerstädtischen Tempolimits. Ich musste nicht lange suchen. Der Zugang zur Pferderennbahn war mit Einsatzwagen aller Art zugeparkt. Während ich mir eine Parknische herbeisehnte, fuhr aus dem Gelände ein Leichenwagen heraus. Der Fahrer winkte mir freundlich zu und machte mich mit schauspielerischer Gestik auf einen Parkplatz am hinteren Ende aufmerksam. Dabei ließ er mehrmals knallrote Kaugummiblasen vor seinem Mund zerplatzen. Entweder musste der Kerl ziemlich abgebrüht sein oder im Bestattungswesen werden neuerdings Ein-Euro-Jobber auf Ecstasy beschäftigt. Na ja, seine Kunden werden sich nur recht selten persönlich beschweren.

Nachdem ich meinen Wagen zwischen einen Kleinbus und einen Nussbaum gezwängt hatte, machte ich mich auf zur Fundstelle der Leiche. Absperrbänder zeigten mir den mutmaßlichen Weg. Nachdem ich halb um ein Vereinshaus gegangen war, konnte ich die Rennbahn in ihrer kompletten Ausdehnung vor mir sehen. Ich schätzte, dass das Gelände mindestens acht bis zehnmal so groß wie ein Fußballfeld war. Als sportlich nur schwer zu begeisternde Person hatte ich solche Arenen bisher nur im Fernsehen gesehen. Was mich hier stutzig machte, war das kahle Ambiente der großen Fläche. Ohne Zuschauer und ohne die tierischen Protagonisten war dieser Platz wirklich kein optischer Leckerbissen.

An der Stirnseite der Rennbahn in Richtung Ortsbebauung sichtete ich meine Kollegen bei der Arbeit. Ein halbes Dutzend Nussbäume standen verstreut zwischen der Bahn und einem kleinen Erdwall, der offensichtlich als Tribüne für Stehplatzzuschauer genutzt wurde. Die Spurensicherung war eifrig bei der Sache. Das freigegebene Terrain war sehr begrenzt, was ich an dem speziellen Absperrband der Spurensicherung erkannte.

In diesem Moment hatte mich Gerhard auch schon erkannt. Mit seiner behänden Leichtigkeit kam der Marathonläufer, der zugleich mein Lieblingskollege war, angesprungen. Gerhard war zurzeit mal wieder im siebten Himmel. Seit zwei Wochen war er mit seiner Maria zusammen. Die Dauer der Beziehung war schon fast rekordverdächtig lang. Erst gestern hatten ihn die Kollegen mit Fragen nach seinen Heiratsplänen konfrontiert. Doch davon wollte Gerhard bisher nie etwas wissen. Ich wunderte mich jedes Mal, wie er es trotz seiner unaufhaltsam zurückgehenden Haarpracht schaffte, ständig die schärfsten Bräute an Land zu ziehen.

»Na endlich. Bist du mit dem Fahrrad gekommen?«, begrüßte er mich.

»Mit was denn sonst?«, konterte ich. »Mit meinem Gehalt kann man sich keinen Führerschein leisten.«

»Na, dann komm mal mit, mein alter Radfahrer. Hier drüben, der zweite Baum von links. Dort hat man ihn gefunden. Seine Leiche wurde gerade abtransportiert, eigentlich müsstest du das noch mitbekommen haben.«

Ich nickte. »Gibt es inzwischen einen Namen?«

»Der Mann hieß Karlheinz Dipper. Doktor Karlheinz Dipper. Übrigens war er hier im Dorf ein sehr beliebter Kinderarzt.«

Gerhard schien zu wissen, dass Haßloch trotz seiner knapp 21.000 Einwohner nach wie vor als Dorf galt und sich bis heute nicht um die Stadtrechte bemüht hatte.

»Wer hat ihn entdeckt?«

»Das ist ziemlich tragisch. Ausgerechnet seine Frau Elli musste ihn finden, als sie mit ihrem Hund Gassi war. Die Arztfamilie wohnt hier gerade um die Ecke im Föhrenweg. Wir mussten die Frau mit einem Schock ins Krankenhaus bringen lassen.«

Gerhard zeigte auf einen fast waagerechten Ast in etwa drei Meter Höhe. »Auch ohne das Pappschild ist die Sache eindeutig. Wir haben keine Leiter oder Ähnliches gefunden und der Stamm ist zu mächtig, um daran hochzuklettern. Außerdem haben wir keinerlei Spuren daran gefunden.«

»Das Opfer wurde also mit fremder Hilfe dort aufgehängt? Ist die Todesursache eindeutig?«

»Der Notarzt vermutet die Strangulation als einzige Ursache. Näheres wird erst die Obduktion zeigen.« Gerhard winkte einen Kollegen herbei, der ihm eine in einer Plastiktüte konservierte Papptafel übergab. »Schau her, das ist das ominöse Schild.«

»Aufs falsche Pferd gesetzt«, las ich den mir bereits bekannten Text laut vor. »Hat der Herr Doktor manchmal gewettet? Weiß man davon schon etwas?«

»Tut mir leid, Reiner, das ist alles noch zu früh. Seine Frau konnten wir darauf derzeit nicht – was ist denn da vorne los?« Eine extrem tiefe Bassstimme im Schmerzbereich ließ uns aufhorchen. Ein Mann mit gewaltigem Bauch und wirren grauen Haaren stand in etwa 20 Meter Entfernung von uns auf der Laufbahn und fuchtelte mit den Armen. Mit seinen billigen und ausgewaschenen Drei-Euro-Shorts wirkte er wie eine der Nebenfiguren aus ›Einer flog über das Kuckucksnest‹.

»Die Gerechtigkeit hat endlich gesiegt! Das Böse wurde eliminiert! Der Menschenfeind hat für seine Taten gebüßt!«

Jetzt kniete er nieder und küsste den Boden. Zwei Beamte hatten ihn in diesem Moment erreicht. Gerhard und ich gingen ebenfalls zu dem mysteriösen Fremden, der sich gerade wieder erhob.

»Guten Tag, mein Name ist Reiner Palzki«, stellte ich mich vor. »Mit wem habe ich die Ehre?«

»Namen! Was sind schon Namen auf dieser Welt! Freue dich, freut euch alle, das Böse ist besiegt!«

Aha, also doch. Ein Verwirrter. Jetzt hieß es, besonnen vorzugehen. Ein falsches Wort und er würde sich sperren. Ich versuchte es mit Trick 17, dem berühmten Honig ums Maul schmieren.

»Wunderbar, Ihre Antwort, geschätzter Freund. Sie haben recht, Böses muss bestraft werden.«

Seine Augen glupschten wie große Murmeln und er strahlte über beide Wangen.

»Leider bin ich eben erst angekommen und habe die Sanktionierung verpasst. Können Sie mir das alles beschreiben?«

»Oh ja, ich habe alles gesehen. Doktor Dipper wurde bestraft.« Er fing wie ein kleines Kind an zu kichern. »Ich habe sogar nachgeschaut, ob er wirklich tot ist. Dann habe ich ihm noch einen Schubs gegeben, damit er schön wackelt.«

»Haben Sie ihm den Karton umgehängt?« Ich versuchte, ihm eine Falle zu stellen.

Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich mit seinem Kichern wieder unter Kontrolle hatte.

»Der war schon da. Dort steht, dass er böse ist.«

Erneut wurden wir durch lautes Rufen unterbrochen, diesmal von einer weiblichen Stimme.

»HAGEN! HAGEN, WO BIST DU?«

Die zur Stimme gehörende Rothaarige, die in einem grasgrünen Jogginganzug steckte, hatte den Gesuchten bei uns gefunden.

»Hagen, was machst du hier? Ich habe dich überall gesucht!« Eben erst bemerkte die Frau, dass neben Gerhard und mir weitere Personen anwesend waren.

»Was ist hier los?«, fragte sie erstaunt.

»Kriminalpolizei, wir sichern gerade einen Tatort. Würden Sie uns bitte sagen, wer Sie sind und wer Hagen ist?«

»Sie kennen Hagen nicht? Demnach sind Sie nicht aus Haßloch. Hagen ist mein Neffe und wohnt bei mir. Bei seiner Geburt gab es Probleme, dadurch war kurzzeitig die Sauerstoffversorgung seines Gehirns lahmgelegt. Das hat sich leider auf seine geistige Reife ausgewirkt. Aber keine Angst, Hagen ist harmlos und war noch nie gewalttätig. Hat er etwas angestellt?«

»Nein, nein, das heißt, wir glauben es nicht. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Ach so, das habe ich ganz vergessen. Mein Name ist Amelie Schäfer. Ich wohne direkt neben dem Vereinsheim.«

Gerhard machte sich gewissenhaft Notizen. Das war mir recht, Papierkram hält nur auf.

»Läuft Ihr Neffe öfters auf der Rennbahn herum?«

»Das lässt sich kaum vermeiden, wir wohnen schließlich hier. Nur im Moment ist das ungewöhnlich. Eigentlich sollte er jetzt am Kiosk vom alten Berendorf sein. Da darf er kleine Handlangerdienste machen. Sachen, die seiner Auffassungsgabe gerecht werden, Zeitungen sortieren oder Pfandgut stapeln.«

Frau Schäfer drehte sich zu Hagen, der die ganze Zeit teilnahmslos zugehört hatte.

»Warum bist du nicht beim Berendorf? Ich habe dich überall gesucht, Hagen!«

Dieser kicherte erneut. »Hier war es spannender, Tante. Der Doktor Dipper wurde für seine Taten bestraft. Ihm wurde sogar ein Schild umgehängt. Da steht drauf, dass er böse ist!«

Frau Schäfer wandte sich uns zu: »Stimmt das, was Hagen erzählt?...