Poppenspäl - Der dritte Fall für Jan Swensen

von: Wimmer Wilkenloh

Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN: 9783839230008 , 470 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Poppenspäl - Der dritte Fall für Jan Swensen


 

Das kleinste Schaf der Welt


Eine fabelhafte Erzählung


Im hohen Norden Irlands erstreckt sich eine hügelige Ebene mit saftiggrünem Gras. Diese fruchtbare Ebene grenzt an einen großen, dunklen Wald und davor stand einmal ein schmucker Bauernhof. Heute sind davon nur ein paar verfallene Mauerreste übriggeblieben.

Dort kam, als der Hof noch von einem alten Ehepaar betrieben wurde, vor langer, langer Zeit ein kleines Schaf zur Welt. Es war ein ganz besonderes Schaf, denn es war sehr, sehr klein. Es hatte ein zierliches Gesicht, eine schmale Schnauze und auffällig große, braune Augen.

»Hast du schon einmal so ein kleines Schaf gesehen?«, fragte der Bauer gleich nach dessen Geburt die Bäuerin, während er das schwache Tier auf eine Schubkarre lud und in den warmen Stall fuhr.

»Das ist bestimmt das kleinste Schaf der Welt!«, antwortete ihm die Bäuerin und wischte mit einem Schwamm den blutigen Schleim vom zierlichen Körper. »Was hältst du davon, wenn wir es Seba nennen?«

»Seba? Wieso denn Seba?«

»Nach Sebastian, unserem Kleinsten!«

Und so kam es, dass Seba von der Bäuerin mit der Flasche großgezogen wurde und erst lange nach Pfingsten auf die Wiese zu den anderen Schafen kam. Das Mutterschaf Lotte war zuerst überglücklich. Es liebte Seba von ganzem Herzen. Doch mit der Zeit musste sie feststellen, dass die Herde ihr Gefühl für Seba nicht teilte. Im Gegenteil, das kleinste Schaf der Welt wurde von den anderen Schafen beflissentlich ignoriert. Seba konnte nicht so übermütig in die Luft springen wie all die anderen Jungschafe, seine Beinchen waren doch so zerbrechlich. Niemand wollte mit dem kleinsten Schaf der Welt spielen. Es wurde kurzerhand, trotz seiner besonders weißen Wolle, zum schwarzen Schaf der Herde erklärt, unentwegt gehänselt und gequält.

Eines Nachmittags war das kleinste Schaf der Welt wieder einmal von den anderen stundenlang angerempelt worden. Seba lag verzweifelt im Schatten einer mächtigen Buche, als er die tiefe Stimme seiner Mutter Lotte hörte.

»Sebaaaaah!«, blökte sie aus einiger Entfernung. »Seeebaaaah! Seeebääääh! Wo bist du denn schon wieder?«

Kurze Zeit später tauchte ihr zotteliges Fell hinter dem Hügel auf, und sie trabte gemächlich auf Seba zu.

»Was liegst du hier allein rum, Seba? Warum spielst du nicht, wie es sich für ein kleines Schaf gehört, mit den anderen Lämmern?« In ihrer Stimme klang ein vorwurfsvoller Unterton mit. Das kleinste Schaf der Welt hasste diese Fragen und schaute sehnsüchtig zum Himmel hinauf. Dort zogen weiße Schäfchenwolken über den blauen Grund, eine schöner gekräuselt als die andere.

»Ich mag nicht mit den anderen spielen!«

»Aber spielen ist doch etwas Schönes, Seba!«

»Nein, ist es nicht! Ich schaue mir lieber die Wolkenschäfchen an!«

Nur einmal möchte ich wie eine große Wolke sein, dachte Seba, nur nicht so blöd weiß und gekräuselt wie die meisten dort oben. Ich will mächtig aufgebläht sein und schwarz. Und dann werde ich mit Absicht gegen alle anderen Wolken stoßen, damit ein feuriger Blitz vom Himmel fällt und mitten in diese gemeine Herde fährt.

»Du kannst jetzt nicht hier bleiben und in den Himmel starren!«, sagte Lotte.

»Warum nicht, Mama?«

»Der weise Widder ist gekommen, um zu der ganzen Herde zu sprechen. Da musst auch du dabei sein!«

»Der weise Widder? Was ist ein weiser Widder?«, fragte Seba neugierig.

»Das ist ein sehr, sehr, sehr altes Schaf, über 100 Jahre alt, älter als alle Schafe in der Herde zusammen. Er lebt ganz allein in dem großen, dunklen Wald neben unserer Weide. Und weil der Widder schon so uralt ist, weiß er auch mehr als alle Schafe in der Herde zusammen!«

Seba war plötzlich richtig aufgeregt und trabte gespannt neben seiner Mutter über den Hügel in die weite Ebene zu der Herde. Es dämmerte bereits. Die untergehende Sonne brachte den Himmel zum Glühen. In einem großen Kreis hatte sich die Herde vor dem weisen Widder formiert, dessen schwarzer Umriss mit den gedrehten Hörnern imponierend vor dem runden Feuerball stand.

»Versammelte Widder, Schafe und Lämmer«, sagte er mit langgezogener Stimme, »ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen, die das bisherige Leben von euch allen auf den Kopf stellen wird. Der böse Wolf ist tot! Ich habe sein Fell im großen, dunklen Wald gefunden!«

Ein jubelndes Geblöke brach los und rollte wie eine tosende Welle über den weisen Widder hinweg.

»Halt, stopp, liebe Freunde!«, brachte er die Herde zum Schweigen. »Es gibt keinen Grund, ausgelassen zu sein!«

»Wieso denn nicht?«, riefen einige junge Widder. »Der Wolf ist doch tot! Wovor sollen wir noch Angst haben?«

»Richtig!«, blökte die Gruppe Mutterschafe zustimmend. »Warum sollen wir Angst haben?«

»Weil der böse Wolf ein sehr, sehr alter Wolf war!«, antwortete der weise Widder mit eindringlicher Stimme. »Die alten Wölfe leben meistens einsam und allein, weit, weit entfernt vom nächsten Rudel. Sie haben das eigene Revier mit ihrer Duftmarke markiert. Kein Wolf aus einem Rudel würde sich auch nur in seine Nähe trauen. Doch jetzt gibt es unseren Wolf nicht mehr, also gibt es auch sein Revier nicht mehr, in das sich kein anderer Wolf hineintraut!«

»Blääh, Blöök, Blääblöök!«, tönte es wild durcheinander aus der Herde. Dann wurde es mucksmäuschenstill. Die meisten Schafe standen unbeweglich, mit weit aufgerissenen Augen und zitterten am ganzen Leib.

»Hast du schon einen dieser Wölfe gesehen, die in so einem Rudel leben?«, fragte ein Schaf vorsichtig.

»Nein«, antwortete der Widder laut, »aber das sagt noch gar nichts. Ihr müsst ab heute immer auf der Hut sein. Die Gefahr lauert überall und das zu jeder Zeit, egal ob am Tag oder in der Nacht.«

In dieser Nacht schlief das kleinste Schaf der Welt das erste Mal in seinem Leben sehr unruhig. Es träumte von der großen Versammlung am Abend. Es sah den mächtigen Kopf des weisen Widders direkt vor seinen Augen, sah seine gedrehten Hörner, deren spitze Enden ihm bis zur Nase reichten, sah seine riesige Schnauze mit den gelben Zähnen, die unentwegt Worte absonderte, die allen in der Herde Angst einjagten. Seba konnte zwar nicht so richtig verstehen, was der weise Widder ihnen alles gesagt hatte, doch er war trotzdem überaus beeindruckt. Er wünschte sich, dass die Herde auch einmal so ehrfurchtsvoll zu ihm aufblicken würde. Und wenn das nicht, dann sollten alle zumindest einmal von Seba, dem schrecklichsten Schaf der Welt, so richtig in Angst und Schrecken versetzt werden.

Als das kleinste Schaf der Welt am nächsten Morgen aufwachte, hatte es für sich beschlossen, ab heute nicht mehr das kleinste Schaf der Welt zu sein. Nachdem es zum Frühstück mit Mutter Lotte ausgiebig gegrast hatte, schlenderte es entschlossen zu den anderen Lämmern hinüber.

»Hey, guckt mal«, sagte das älteste der Lämmer, »da kommt unser zerbrechliches Stöckelbeinchen!«

»Passt bloß auf, dass ihr unserem empfindlichen Wesen nicht aus Versehen gegen die Wolle stoßt!«, stichelte das nächste Lamm.

»Genau, sonst fällt das kleine Knäuel noch auf seine zierliche Schafsschnute!«

»Na, ihr aufgeblasenen Blökwolle!«, entgegnete Seba spöttisch. Er hatte sich seine Worte genau überlegt. Sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Jungschafe waren sprachlos und guckten ziemlich belämmert.

»Wo ist denn mit einmal euer stupides Geplärre geblieben?«

»Du hältst dich wohl für besonders stark«, tönte das Älteste und rannte Seba mit voller Wucht in die Flanke. Das kleinste Schaf der Welt stürzte zur Seite, rollte, indem es sich mehrmals überschlug, einen Hügel hinab und blieb auf dem Rücken liegen. Von oben hörte es das wilde Geblöke der Lämmer, von denen einige ausgelassen in die Luft sprangen.

»Na wartet, das werdet ihr noch bereuen!«, rief Seba zu ihnen hinauf. Vom Hügel tönte ein wieherndes »Bläähäähäähää« zurück. Das kleinste Schaf der Welt wartete so lange, bis die Horde Lämmer nicht mehr zu sehen war. Dann schlich es über den nächsten Hügel und den nächsten und nächsten. Jetzt konnte es schon die großen, schwarzen Bäume in der Ferne liegen sehen. Seba trottete zügig weiter, bis er den Waldesrand erreicht hatte und blickte sich noch einmal trotzig um. Weit und breit war niemand von der Herde zu sehen. Er atmete einmal tief durch, nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat in den Wald hinein. Noch am Morgen, gleich nach dem Aufwachen, war dieses Unternehmen dem kleinsten Schaf der Welt ganz einfach erschienen. Doch der Wald war in Wirklichkeit viel größer und viel, viel dunkler, als es sich dies vorher in seinem kühnen Traum ausgemalt hatte. Die dicken Stämme waren mit grünem Moos bewachsen und schauten unheilvoll auf Seba herab. Er hätte am liebsten laut nach seiner Mama gemäht, aber er wusste genau, dass ihn hier niemand mehr hören würde. So guckte er ängstlich auf den Boden und setzte tapfer einen Schritt vor den anderen. Ein Rabe krächzte monoton im Wipfel einer Buche. Plötzlich wurde es taghell. Seba erschrak, zog seinen Hals zwischen die Schultern und hob vorsichtig den Kopf. Vor seinen Augen lag eine weite, von der Sonne beschienene Lichtung. Seine düsteren Gedanken verschwanden, und er fasste wieder neuen Mut und schaute sich ein wenig in der Gegend um. Ein leises Brummen zog seine Aufmerksamkeit an. Es war ein Schwarm Fliegen, der in einer dunklen Wolke über einem umgestürzten Baumstamm...