Rheingrund - Norma Tanns zweiter Fall

von: Susanne Kronenberg

Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN: 9783839230084 , 274 Seiten

7. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Rheingrund - Norma Tanns zweiter Fall


 

2. Kapitel


Mittwoch, der 9. April

Am darauffolgenden Morgen stattete Norma ihrer früheren Arbeitsstätte einen Besuch ab. Das Kommissariat lag auf halber Strecke zwischen dem Stadtteil Biebrich am Rheinufer und der Wiesbadener Innenstadt an einer viel befahrenen Straße.

Irene Maibaum, die allseits geschätzte Sekretärin der Abteilung, war allein im Büro und zeigte sich erfreut. Zugleich regte sich ein berechtigtes Misstrauen. »Was willst du, Norma?«

Norma strahlte sie an. »Dich wiedersehen! Du warst meine liebste Kollegin. Wie geht es dir?«

Irene zeigte auf den Eingang. »Schließe besser die Tür! Sonst kommen womöglich Dirk und Luigi hereinspaziert.« Sie seufzte. »Nun sag schon: Name? Fall?«

»Wie kommst du darauf?«

Es folgte ein zweiter Seufzer mit deutlicher Ergebenheit. »Weil du nur hier hereinschneist, wenn du etwas willst! Wen schnorrst du eigentlich an, wenn ich in Pension bin?«

»Du und aufhören? Wie sollen die Kollegen ohne dich zurechtkommen?«

»Bevor ich vor Rührung in Tränen ausbreche: Welche Akte brauchst du?«

Wenig später war Norma über die Vermisstensache ›Marika Inken‹ im Bild; zumindest aus der Sicht der Kollegen, die damals ermittelten. Das Material erwies sich als wenig ergiebig, was in sich bereits als Spur zu werten war. Für Polizei und Staatsanwaltschaft blieben keine Zweifel, dass Marika Inken ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Der Ehemann Bernhard Inken schien unverdächtig, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun zu haben. Damit war die Untersuchung rasch beendet.

Der nächste Weg führte sie zu Ruth Diephoff. Norma hatte sich für ein unverbindliches Vorgespräch angemeldet. Sie freute sich auf die Fahrt in den Rheingau. Die Regentage waren überstanden. Das sonnige Frühlingswetter schien wie gemacht für einen Ausflug ins Grüne. Sie fuhr von Biebrich aus in westlicher Richtung. Hinter Schierstein verließ sie die Rheinebene und steuerte den Polo bergauf, vorbei an zart blühenden Obstbaumwiesen und bald darauf durch Martinsthal hindurch. Ruth Diephoff wohnte oberhalb des Winzerdorfs an einem steil aufragenden Hang. Das Anwesen war leicht zu finden: Ein Weingut mit dem einzigen Wohnhaus weit und breit. Knorrige Weinreben umschlangen die grob verputzten Mauern, als hätten sie sich der Aufgabe verschworen, den wuchtigen Bau zusammenzuhalten. Norma stellte den Polo neben dem Tor ab und warf durch das geschmiedete Gitter einen Blick in den Innenhof. Die Nebengebäude wirkten frisch gestrichen und waren in einem deutlich besseren Zustand als das Wohnhaus selbst.

Sie klingelte an der Haustür aus getöntem Glas, die nicht zum rustikalen Charme des Hauses passen wollte. Für die Yogaschule gab es eine zweite Klingel. Im Garten schlug ein Hund an. Ruth Diephoff schien erfreut, als hätte sie Normas Erscheinen ungeduldig erwartet, und führte sie über eine steile Treppe hinauf in das Wohnzimmer. Norma warf einen Blick auf die Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand, die Szenen der Weinlese zeigten und aus den 50er-Jahren stammen mochten. Dazwischen hingen Porträts von Männern und Frauen mit abgearbeiteten und lebensklugen Gesichtern.

Ruth trat näher heran. »Die Familie meines Mannes hat das Weingut über viele Jahrzehnte betrieben. Das ist nun Vergangenheit. Mir gehören nur noch das Haus und ein Garten, der so steil ist, dass der Hund sein einsames Vergnügen damit hat. Die Weinberge musste ich nach dem Tod meines Mannes verkaufen. Ein befreundeter Winzer hat alles übernommen.«

»Kam Ihr Mann bei einem Unfall ums Leben?«

Ruth blickte zum Fenster, aus Normas Perspektive ein postkartenblauer Himmelsausschnitt. »Nein, das Herz setzte aus. Die Krankheit zog sich über Jahre hin. Die Arbeit entglitt ihm immer stärker. Eigentlich sollte Marika den Betrieb weiterführen. Sie hat in Geisenheim Weinbau studiert, und der Tag ihres Abschlusses war für meinen Mann der schönste Tag im Leben. Wie stolz er auf seine Tochter war! Aber wie so oft kam alles anders. Wollen wir uns setzen?«

Der flache Couchtisch war mit zwei Tassen und einer Teekanne gedeckt. Das Teelicht flackerte. Neben dem Stövchen lag ein prall gefüllter Ordner mit der Aufschrift ›Marika‹: Die Unterlagen der anderen Privatdetektive, vermutete Norma, um die sie im Telefongespräch gebeten hatte.

Ungeschickt sank sie auf das Sofa nieder. »Gab es Probleme zwischen Ihrem Mann und Marika?«

Ruth setzte sich in den Sessel gegenüber. Sie lehnte sich nicht zurück und hielt sich gerade. »Es ging überhaupt nicht. Sie ist ganz die Tochter ihres Vaters. Zwei Hitzköpfe, die aufeinanderprallten. Der Praktiker gegen die Studierte. Es konnte nicht gut gehen. Marika heiratete Bernhard und arbeitete ab sofort in der Agentur.«

»Um was für eine Agentur handelt es sich?«

»Es geht um Film und Fernsehen. Unter anderem vermittelt mein Schwiegersohn zwischen Drehbuchautoren, Produktionsfirmen und den Sendeanstalten.«

Norma nickte. Wiesbaden war ein beliebter Standort für Leute, die sich mit Film und Fernsehen beschäftigten, und zudem ein bevorzugter Wohnort für Mitarbeiter des Zweiten Fernsehens, das in der Nachbarstadt Mainz auf der gegenüberliegenden Rheinseite angesiedelt war.

Ruth schenkte Tee ein. »Als mein Mann starb, wollte Marika das Weingut nicht aufgeben. Aber wir waren hoch verschuldet, sie musste den Plan begraben. Bernhard hätte es sowieso nicht gewollt.«

Norma fragte sich, ob Ruth die Yogaschule betrieb, weil sie trotz ihres Alters Geld verdienen musste. Sie warf sich mit Schwung nach vorn und griff nach der Tasse. »Erzählen Sie mir von dem Tag, als Ihre Tochter verschwand.«

Ruth trank Tee und ließ sich mit der Antwort Zeit. »Marika wollte zu diesem Seminar in Frankfurt. Die Kleine hatte Fieber, und Marika war unsicher, ob sie überhaupt fahren sollte. Ich habe ihr zugeredet und dachte, es täte ihr gut, andere Leute zu treffen. Oft denke ich, wenn sie nur hier geblieben wäre …«

Sie warf Norma einen gequälten Blick zu.

Norma probierte den Tee, einen durchscheinenden Darjeeling mit dem Duft von Zitrone. »Worum ging es in diesem Seminar?«

»Das Thema hieß ›Lebensbewältigung und neue Per­spektiven‹. Marika machte sich Vorwürfe, weil das Weingut verloren war. Sie glaubte, sie hätte ihren Vater nicht genug unterstützt.«

Norma stellte die Tasse ab. »Frau Diephoff, ich habe mich erkundigt. Die ermittelnden Beamten kamen damals zu dem Schluss, dass Marika sich das Leben genommen hat. Sie hatte es schon einmal versucht.«

Ruths Antwort kam ohne ein Zögern, wie zurechtgelegt. Vermutlich hatte sie wieder und wieder über dieser Frage gebrütet. »Es stimmt, Marika war depressiv. Nach Ingas Geburt kam sie deswegen in Behandlung und verbrachte mehrere Wochen in der Klinik. Für die Polizei war der Fall schnell erledigt.«

»Vieles spricht dafür. Man fand Marikas Reisetasche unter der Schiersteiner Brücke. An genau der Stelle, an der sie bei ihrem ersten Versuch ins Wasser gestiegen war.«

Ruth legte die Hände auf die Knie. »Trotzdem glaube ich, dass meine Tochter lebt. Irgendwo auf der Welt. Bevor ich sterbe, will ich Gewissheit. Ich dachte, dass gerade Sie … Sie haben selbst erlebt, wie es ist, wenn ein geliebter Mensch nicht nach Hause kommt.«

Rundfunk und Regionalfernsehen hatten, ebenso wie der ›Wiesbadener Kurier‹ und das ›Tagblatt‹, über das Geschehen im August berichtet, und der Prozess würde das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit zurückbringen.

Entschlossen schob Norma jeden Gedanken daran zur Seite. »Persönliche Betroffenheit ist für eine Ermittlung nicht unbedingt von Vorteil.«

»Vielleicht nicht für die Nachforschungen selbst. Aber für den Einsatz, mit dem Sie an die Aufgabe herangehen werden. Das erhoffe ich mir von Ihnen.«

Norma vermutete, ein straff aufrechtes Kreuz war die einzige Haltung, in der es sich in diesem Möbelstück überleben ließ. Sie rutschte auf die Kante vor. »Was lässt Sie glauben, dass Marika noch leben könnte? Hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«

Ruth schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber ich bin überzeugt, sie ist in Tasmanien.«

»Tasmanien! Ausgerechnet! Wie kommen Sie darauf?«

Ruth sah auf und richtete den Blick ihrer klaren grauen Augen beharrlich auf Norma. »Neulich haben Bernhard und ich gestritten. Heftig gestritten.«

»Weswegen?«

»Zuerst ging es um Inga. Dazu müssen Sie wissen, dass meine Enkeltochter bei mir aufwächst, was oft nicht einfach ist. Ein Wort gab das andere, und bald stritten wir uns wegen Marika. Bernhard hat mir vorgeworfen, ich pflege ein allzu rosiges Bild von meiner Tochter. ›Hast du gewusst, dass sie eine Affäre hatte, deine feine Tochter!‹, schrie er. Er war völlig außer sich.«

»Eine Affäre mit wem?«

Ruth stieß die Luft aus, als machte ihr der Streit noch immer zu schaffen. »Der Mann heißt Kai Kristian Bieler. Kristian mit K.«

Norma überlegte. Der Name wurde in den Polizeiakten nicht erwähnt.

»Bieler stammt aus Dresden wie Bernhard und Martin«, erklärte Ruth.

Ein Mann namens Martin tauchte in den Berichten auf, erinnerte sich Norma. »Sie sprechen von Martin Reber? Er war damals in der Agentur Ihres Schwiegersohns angestellt.«

Ruth nickte zustimmend. »Das ist er noch heute. Martin ist der Lektor der Agentur. Alle drei waren eng befreundet; damals in der DDR. Bernhard und Martin kamen Anfang der 80er-Jahre nach...