Der Club der Traumtänzer & Das Glücksbüro - Zwei Romane in einem eBook

Der Club der Traumtänzer & Das Glücksbüro - Zwei Romane in einem eBook

von: Andreas Izquierdo

DuMont Buchverlag , 2021

ISBN: 9783832170738 , 720 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 12,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Club der Traumtänzer & Das Glücksbüro - Zwei Romane in einem eBook


 

DER UNFALL

1.

Am Abend des Unfalls war sein Penthouse hell erleuchtet, und man sah vor allem einen riesigen Barockspiegel, golden eingerahmt, mit fast blinden Ecken. Ein Spiegel, bei dem der Verkäufer geraunt hatte, Ludwig XIV. hätte sich darin bewundert, ein Argument, das ihn überzeugt hatte, einen exorbitanten Preis für die Antiquität zu zahlen. An jenem Abend also stand dort der über dreihundert Jahre alte Spiegel, und alles, was er zeigte, war ein bis auf die Socken nackter Salsatänzer. Sein blanker Po flammte wie der Lichtkegel eines Leuchtturms mal von links, mal von rechts darin auf, während treibende südamerikanische Rhythmen die Luft erzittern ließen. Dann wieder trippelte er durchs Spiegelbild oder schoss auf den Socken rutschend hindurch, und je länger man in den Spiegel sah, desto sehnlicher wartete man auf die swingenden Bäckchen, bis sie plötzlich bildfüllend auftauchten. Jetzt hatten sie ihre Position gefunden und rückten kreisend näher und näher an den Spiegel heran. Und was immer dem Spiegel in den letzten Jahrhunderten anvertraut worden war, was immer ihm vielleicht sogar Ludwig XIV. zugeflüstert haben mochte, jetzt hörte er nur: »Badabing! Badabum! Badabing! Badabum!«

Es war Freitagabend. Gabor brachte sich für das Wochenende in Schwung, und das tat er in aller Regel nackt, denn er war der Meinung, dass angezogen alles Mögliche gut aussehen konnte, doch erst wenn es nackt toll aussah, würde es angezogen großartig sein. Man mochte von ihm halten, was man wollte, aber Tatsache war, dass sein »Badabing! Badabum!« nackt schon einfach großartig war. Im Anzug mit offenem Hemd und den zweifarbigen Budapestern als einzigem exzentrischen Accessoire war es wie der CERN Teilchenbeschleuniger: Es schuf schwarze Löcher der Anziehung. Auf Männer wie auf Frauen.

Vor allem auf Frauen.

Der Spiegel hingegen schien das alles mit großer Würde hinzunehmen. Er hatte sie alle überlebt – er würde auch das überleben. Tatsächlich war er das einzig Alte in einem ansonsten modern eingerichteten Penthouse, dessen gesamte Front zur Linken aus Panoramascheiben bestand, durch die man einen beeindruckenden Blick auf die nächtliche blinkende Stadt hatte. Und auf eine freundliche, alte Dame, die dem Spektakel freitags, samstags und manchmal auch mittwochs in ihrem Penthouse auf der gegenüberliegenden Seite der großen Allee beiwohnte. Sie war nicht immer so freundlich gewesen, hatte sich zweimal über Gabors Tanzeinlagen beschwert, doch als sie merkte, dass ihre Beschwerden nicht durchdrangen, hatte sie das Beste daraus gemacht, einen Piccolo geöffnet und war seit dieser Zeit ein großer Fan Gabors. Denn auch sie hatte nie zuvor jemanden so tanzen sehen – und dass er dabei nackt und gut gebaut war, das war, nun ja: ein Bonus.

Zur Rechten fand sich eine offene Designerküche mit Esstheke, die noch nie wirklich benutzt worden war, die Mitte dominierte eine große, offene Fläche und das Ende des Raums eine geschickt arrangierte Wohnlandschaft mit Flatscreen und Surroundanlage. Daneben war eine Tür, die ins Schlafgemach mit angeschlossenem Wellnessbad führte.

Gabor hatte sich in Form gebracht und missmutig ein graues Haar ausgezupft, denn trotz seines jungenhaften Aussehens ging er auf die vierzig zu. Dann strahlte er sich im Spiegel an und tanzte gut gelaunt ein paar Schritte: Die Stadt wartete auf ihn, die Bar, in der die schönsten Frauen hofften, dass er sie zum Tanz auffordern würde.

Und heute würde er die Schönste von allen treffen. Eine, die mehr sein wollte, als eine Miss Gabor für eine Nacht, eine, bei der sogar Gabor sich vorstellen konnte, sein Junggesellenleben aufzugeben, um Zeit mit ihr zu verbringen. Viel Zeit.

Es wurden genau drei Stunden und vierundzwanzig Minuten.

2.

Das Milonga war für ungeheuer viel Geld einer argentinischen Hafenbar nachempfunden worden, in die seit Jahrzehnten kein Peso mehr investiert worden war und die nur noch vom Schweiß und der Leidenschaft der Tänzer zusammengehalten wurde. Sah man jedoch genauer hin, so waren die Tische und Stühle, die die große Tanzfläche umringten, aus Designerhand, die Bar handgefertigt und überaus geschickt beleuchtet, die kleine Bühne, auf der dann und wann Bands spielten, mit modernster Scheinwerfertechnik umkränzt und selbst der rote Samtvorhang neu und makellos. Ganz im Hintergrund, ebenfalls im teuren Retrolook, kleine Separees zum Verweilen.

Frauen trugen grundsätzlich Röcke und hohe Absätze, Männer niemals Jeans oder Turnschuhe. Wer hierhin kam, hatte Geld oder hoffte auf welches, und er konnte tanzen: Salsa, Tango, Merengue, Samba, Rumba. Der Tanz brachte die Paare zusammen, das Leben außerhalb des Milonga trennte sie wieder.

Gabor war hier wohlbekannt, ja, man konnte sagen, man erwartete ihn förmlich, denn als er endlich da war, kam er kaum dazu, an seinem Drink zu nippen, bevor ihn gierige Blicke zum Tanzen aufforderten. In der ersten Pause traf er sie, die zum ersten Mal im Milonga war, dann endlich an der Bar, bestellte ihr unaufgefordert ein zweites Getränk, erntete dafür ein Lächeln.

»Gabor«, sagte er.

»Annette«, antwortete sie.

Er bat sie aufs Parkett, und es war, als hätten sie nie etwas anderes getan, als miteinander zu tanzen. Sie lag so sanft in seinem Arm, folgte so dynamisch seinen Schritten, als ob sie in jedem Moment wusste, was er im nächsten anbieten würde. Harmonie, die auch den anderen Paaren nicht verborgen blieb, was der einen oder anderen Dame einen enttäuschten Seufzer entlockte. Sie brachten sich in Stimmung, heizten sich auf, und als sie das Milonga verließen, brannten sie lichterloh vor Leidenschaft. Jetzt konnte es gar nicht schnell genug gehen, bis sich das Vorspiel in seinem Penthouse entladen würde.

Sie stiegen in Gabors Wagen, und er dachte lächelnd daran, dass er sie ausgerechnet auf einem Firmenfest bei Clausen & Wenningmeier für sich gewonnen hatte, was deswegen so bemerkenswert war, weil Firmenfeste bei Clausen & Wenningmeier selbst für Unternehmungsberaterverhältnisse ungewöhnlich formell abliefen. Dabei hatten Firmenfeste im Allgemeinen ihre eigenen Dynamiken: Karrieren wurden dort begründet, viel öfter jedoch vor ihrer Zeit beendet. Bei Clausen & Wenningmeier aber gab es keine Dynamik, kein falsches Wort und kein Glas zu viel. Beziehungen zwischen den Mitarbeitern waren weder erwünscht noch fanden sie statt.

Offiziell.

Für Gabor waren die strikten Bedingungen das Paradies: Sie forderten ihn nicht nur heraus, nein, er wusste nur zu gut um die menschliche Natur – dass ein Verbot allenfalls den Reiz befeuerte, es zu umgehen. Und es gab niemanden, der unterdrückte Begierden so gut an die Oberfläche locken konnte wie Gabor.

So fand er sie bei einem Essen für Klienten, nichts Besonderes eigentlich, ein Zwei-Sterne-Restaurant mit einer kleinen Ansprache des geschäftsführenden Partners Ferdinand Clausen, der seit dem Tod des zweiten Gründers Klaas Wenningmeier die Firma leitete. Clausen sprach, alle lauschten, aber nur eine wandte ihre Aufmerksamkeit Gabor zu, der ein paar Fotos von allen Anwesenden schoss. Denn als er sie ins Visier nahm, zögerte er, nahm das Objektiv herunter und sah sie an. Niemand sonst bemerkte die kurze Geste der Bewunderung, doch ihre Aufmerksamkeit war geschärft, sie wartete, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf ein weiteres Zeichen, das an diesem Abend nicht mehr kam.

Das sandte er ein paar Tage später. Was durchaus wörtlich zu nehmen war, denn alle warteten bereits gespannt auf die Fotos, die Gabor in schöner Regelmäßigkeit auf besondere Art aufwertete. Er fertigte Photoshop-Montagen an, die bei den Mitarbeitern sehr beliebt waren, weil Gabors Einfallsreichtum im Karikieren der Mitarbeiter unerschöpflich zu sein schien: Er schmeichelte, neckte, provozierte charmant, je nachdem, was er bei seinem Gegenüber erreichen wollte. So montierte er beispielsweise Hollywoodstars oder Politiker in die Fotos, erschreckte mit stillstehenden Porträts, die sich dem Betrachter nach einigen Sekunden plötzlich zuwandten, oder veränderte die Bilder so stark, dass sie auf berühmte Bibelstellen, Kunstwerke oder Ereignisse der Weltgeschichte anspielten. Alles täuschend echt, witzig und intelligent. Selbst Clausen, ansonsten des Humors völlig unverdächtig, freute sich auf Gabors Montagen, und auch diesmal sollte er ihn nicht enttäuschen. Alle bekamen ihr Foto.

Alle bis auf eine.

Das war Gabors Zeichen. Er musste nicht lange warten, da fragte sie nach ihrem Foto. Alle sprachen über ihre Montagen, zeigten sie herum – nur sie hatte keine bekommen. Er mailte ihr ein Foto, auf dem sie und er als Tangopaar tanzten. Irgendwo in den Straßen von Buenos Aires. Eine Schwarz-Weiß-Montage aus den Vierzigerjahren vor verwitterten Häusern und verblichenen Reklameschildern. Niemand sonst war zu sehen, doch trotz oder gerade wegen der armseligen Kulisse wirkten die beiden Tänzer so selbstvergessen, so innig, so entrückt, dass man die Musik, zu der sie tanzten, geradezu hören konnte.

Unter dem Bild stand: Milonga, 20.00 Uhr?

Sie sagte zu und saß jetzt neben ihm im Auto und öffnete seinen Hosenschlitz.

»Warte. Wir sind gleich da …«

Sie kicherte. »Sieht nicht danach aus, als ob du Lust hättest zu warten.«

»Annette, ich muss fahren!«

Gabor hielt an einer Kreuzung, blinkte. Schon spürte er ihre weiche Zunge. Er sah an sich hinunter, folgte seufzend den Bewegungen ihres Hinterkopfes und verpasste die Grünphase.

Hinter ihm hupte jemand, er fuhr stotternd an und...