Dunkle Schatten der Vergangenheit - Drei Fälle für DI Collin Brown

Dunkle Schatten der Vergangenheit - Drei Fälle für DI Collin Brown

von: Iris Grädler

DuMont Buchverlag , 2021

ISBN: 9783832170608 , 1262 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Dunkle Schatten der Vergangenheit - Drei Fälle für DI Collin Brown


 

1

Die Weiße Dame hatte ein narbiges Gesicht und Augen wie Einschusslöcher. Faustgroße Höhlen. Die Seeschwalben liebten es, darin zu nisten. Sie stand aufrecht, auf ihrem stolzen Kopf ein schmaler, hoher Hut. Wie der Nofretetes.

An diesem Morgen war ihr Kleid nebelgrau. Jeden Tag sah sie anders aus. Als würde sie sich den Jahreszeiten, dem wechselnden Wetter und den Stimmungen anpassen.

Der Stein war kühl und feucht unter seiner Hand. Welche Geschichten würde er erzählen, wenn er sprechen könnte?

DI Collin Brown riss sich von dem Felsen los und ging zum Fundort zurück. Über dem Kadaver schwirrte eine Wolke kleiner Fliegen. Die Aasgeier der Küste. Es stank nach nassem Fell und Verwesung.

»Und? Kennst du ihn?«

Feighlan, der Tierarzt, erhob sich mühsam, zog ein Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich ausgiebig. Er war mit seinen fünfundsiebzig Jahren eigentlich schon zu alt, um noch zu praktizieren. Aber er liebte seinen Beruf. Außerdem hatte sich bislang kein Nachfolger gefunden.

»Nicht, dass ich wüsste. Keine Marke. Aber vielleicht ein Chip. Werd ich prüfen. War so was wie ’ne ziemlich scharfe Axt. Denke ich. Er liegt da schon ’ne Weile im Wasser rum. Aufgegangen wie Hefe.«

Feighlan knipste die Taschenlampe aus.

Niemand hier hatte so etwas schon einmal gesehen.

Es war ein junger Hund. Ein Golden Retriever. Davon gab es viele in der Gegend. Es waren friedliche Hunde, Familientiere, kinderlieb. So viel wusste Collin. Wer erschlug einen Hund kaltblütig und schmiss ihn anschließend ins Meer?

Die beiden Männer der freiwilligen Feuerwehr packten den Kadaver auf eine Bahre und begannen den langen Aufstieg zum Parkplatz. Sie wollten später noch einmal wiederkommen. Jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, lag alles im Schatten. Collin glaubte nicht, dass sich Spuren des Täters finden würden. Es war wahrscheinlicher, dass der Hund in die Bucht gespült worden war.

Aber wer weiß?, dachte er.

Ein junger Mann, der mit seinem achtjährigen Sohn am Tag zuvor in die Bucht geklettert war, hatte den Hund zwischen zwei Felsen nahe am Strand gefunden und am Abend die Polizei verständigt. Sein Sohn stand unter Schock. Sie würden schnellstmöglich mit der Familie zurück nach Cambridge fahren.

Lappalie, hatte Collin gedacht. Normalerweise hätte er einen seiner Mitarbeiter geschickt. Aber keiner der drei war da.

Letztlich war es jedoch keine Lappalie. Jemand, der einen Hund so grausam tötet, sollte bestraft werden, fand Collin. Wenn es nach ihm ginge, so massiv wie möglich. Wer grausam zu Tieren ist, ist es auch zu Menschen. Es gab genügend Beispiele in der Kriminalgeschichte von Tierquälern, die auch gegenüber Menschen zu Gewalt neigten. Und warum sollte das Leben eines Tieres weniger wert sein? Aber diese Gedanken behielt er lieber für sich. Und zum Glück war er kein Richter.

»Na, dann«, sagte Feighlan. »Zeit für was Warmes.«

Collin wollte ihn unterhaken, doch Feighlan schüttelte ihn ab und stieß seinen Stock in den Boden.

»Bin zwar ein alter Knochen, aber laufen tu ich noch selbst«, knurrte Feighlan. »Verdammt lange her, dass ich in der White Bay war. So hab ich sie noch mal gesehen, bevor ich abnippel.« Die Bucht hatte ihren Namen White Bay wegen der Kalkfelsen erhalten, die wie von einem Bildhauer gemeißelt auf Muschelsand standen.

Sie war ein beliebter Ausflugsort für Küstenwanderer und Badegäste. Oberhalb der Bucht hatte die Gemeinde einen großzügigen Parkplatz mit zwei Picknicktischen, einem Münzfernrohr und einer Informationstafel errichtet. Eine Treppe mit Geländer erleichterte auf den ersten fünfzig Yards den Abstieg. Ab dann musste man trittfester sein.

Dort oben konnte man zwischen hügeligem Grasland und Heidekraut Cornwalls beliebten Küstenweg entlangwandern. Man hatte grandiose Ausblicke auf Buchten und das im Sommer türkisblau schimmernde Meer.

Collin mied die White Bay seit Langem. Seit der Parkplatz vor fünf Jahren eingeweiht worden war, hatte sich die Zahl der Besucher sprunghaft erhöht. Damit war es vorbei gewesen mit der Ruhe.

Er liebte die Felsen, die es nur in dieser Bucht gab. Er sah in ihnen eine Gruppe Gestrandeter. Halb verhungerte, von Leid gebeugte Gestalten, die aneinandergeklammert mit letzter Kraft den tobenden Wellen entstiegen, aber zu schwach, um sich aus der Bucht zu retten. So standen sie wie zu Salzsäulen erstarrt am Strand.

Die Weiße Dame mit ihrem bauschigen Kleid war etwas abseits von den anderen Figuren. Als Collin sie zum ersten Mal gesehen hatte, war etwas mit ihm geschehen. Etwas tief in ihm hatte sich gerührt und war kurz darauf in seine Hände geflossen. Kein Ort an der Küste bedeutete ihm mehr als die Bucht mit der Weißen Dame.

Der erschlagene Hund war eine Entweihung.

Würden die Seeschwalben auch in diesem Jahr zurückkehren?

Ich werde das Schwein finden, schwor er sich.

* * *

»Feighlan will dich sprechen.«

Sandra lehnte in der Tür, knipste auf einem Kugelschreiber herum und trommelte mit der freien Hand an den Türrahmen. Sie trug einen ihrer knappen Röcke und die üblichen High Heels, war wie zum Ausgehen geschminkt, und es umwehte sie eine Wolke Parfüm. Sie war eine der effektivsten Mitarbeiterinnen, die Collin je gehabt hatte. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Liebesleben beschäftigt war. Derzeit schien sie aber keinen Lover zu haben, der sie von der Arbeit abhielt.

»Warst du nicht gestern noch blond?«

»Merkst du das jetzt erst?« Sandra drückte mit der flachen Hand an ihrem Hinterkopf herum. »Und kürzer ist es auch. Männer …«

»Rot steht dir gut. Aber das Piercing da in der Nase …«

»Du hast weder Geschmack, noch weißt du, was angesagt ist. Also, was ist jetzt mit Feighlan?«

»Du erreichst auch mal die vierzig. Dann sprechen wir uns wieder. Stell durch.«

»Okay, du konservativer Langweiler.« Sandra rollte die Augen. »Mach mich dann gleich auf den Weg. Hab einen Massagetermin. Schließt du später ab? Ach, und Johnny hat sich gemeldet. Röchelt immer noch wie ein Kohleofen. Er versucht, übermorgen wieder fit zu sein.«

Sandra stöckelte zum Vorzimmer zurück. Kurz darauf klingelte Collins Telefon.

Es waren drei Tage vergangen, seit sie den Hund aus der Bucht geborgen hatten. An der Küste brauchte alles seine Zeit. Es gab keine Eile. Das hatte Collin gelernt. Niemanden konnte man antreiben, keine Ungeduld verhalf, schneller an ein Ziel zu gelangen, welches auch immer.

Gemütsruhe oder Bequemlichkeit, wie man es drehte oder wendete, das Ergebnis war das Gleiche. Man musste das Warten lernen, es ertragen, es als Selbstverständlichkeit hinnehmen.

Manche Tage verstrichen so langsam, dass Collin gegen die Langeweile kämpfen musste, gegen die sinnlose Verschwendung wertvoller Lebenszeit in dieser verschlafenen Polizeistation von St Magor am Ende der Welt.

Doch wollte er niemals mehr in sein vorheriges Leben zurück. Schlanker war er damals gewesen, all seine Bewegungen schneller, sein Denken ein einziges Feuerwerk. So viele Fälle hatten sich auf seinem Schreibtisch getürmt, dass er sich wie ein Jongleur vorgekommen war, einer, der zugleich auf einem über einer tiefen Schlucht gespannten Drahtseil Saltos schlägt.

Hier bestimmten die Gezeiten den Rhythmus seiner Tage. Die Brandung und Felsen darin, die sich ihr entgegenstemmten. Und er war selbst behäbig geworden wie ein Stein. Das hatte ihm am Abend zuvor Kathryn an den Kopf geworfen. Den Satz und eine Tüte Salzstangen. Danach noch ihr Negligé.

Collin schob die Szene beschämt beiseite, griff zum Telefon und lauschte Feighlans Stimme.

»Vergiftet, dann Schädel zertrümmert. Und damit er auch ganz tot ist, ins Meer geschmissen. Ganze Arbeit.«

Collin hörte Feighlan husten.

»Vergiftet? Womit?«

»Strychnin. Hatte der vielleicht noch irgendwo rumstehen. Intravenös. Das Zeug stinkt ja wie die Pest. Würde ein Hund nicht anrühren. Ich mein, im Futter.«

»Kannst du was über die Todeszeit sagen?«

»Tja. Eine Woche oder zwei, höchstens drei. Länger nicht, denk ich. Bin mir aber nicht sicher. Und keine Knochenbrüche. Heißt, ist nicht aus großer Höhe aufs Wasser geknallt.«

»Chip?«

»Fehlanzeige. Hat sich auch keiner wegen eines vermissten Retrievers gemeldet. Jedenfalls nicht bei mir. Ich leg dir einen schönen Bericht auf dieses Ding, dieses Fax. Hoffe, du findest den Schlächter.«

Sie legten auf.

Collin beschloss, eine Nachricht über den toten Hund im »Coast Observer« zu schalten. Das kostenlose Anzeigenblatt lag überall aus, die ganze Küste runter, in jedem Pub, bei allen Geschäften und Apotheken. In manchen Dörfern wurde es an die Haushalte verteilt. Irgendwer würde sich vielleicht an den Hund erinnern.

Passierte es nicht immer wieder, dass Tierbesitzer ihre Haustiere loswerden wollten und die grausamsten Wege wählten, statt sie in ein Tierheim zu bringen? Inwieweit machten sich diese Tiermörder überhaupt strafbar?

Collin fühlte sich überfragt. Er hatte mit Unfällen durch angefahrenes Wild zu tun gehabt. Hatte einmal zweiunddreißig Katzen aus einer Hochhauswohnung befreit, nachdem die Besitzerin, eine verwirrte und wohl sehr einsame alte Dame, verstorben war und die Nachbarn die Polizei gerufen hatten. Eine Zeit lang ging in der Grafschaft Kent ein Pferdemörder um, der es auf wertvolle Zuchttiere abgesehen hatte. Als man ihn gefasst hatte, stellte sich heraus, dass er der Sohn eines Pferdezüchters war und einen tiefen Hass gegen Gäule entwickelt hatte.

Mit einem Rattern kündigte sich Feighlans Fax an.

Collin setzte sich an Johnnys...