Kindheit - Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie

Kindheit - Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie

von: Tove Ditlevsen

Aufbau Verlag, 2021

ISBN: 9783841226402 , 118 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Kindheit - Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie


 

Vier


Indes gibt es gewisse Tatsachen. Sie sind starr und unverrückbar wie die Laternenpfähle auf der Straße, aber die verändern sich wenigstens abends, wenn der Laternenanzünder sie mit seinem Zauberstab berührt. Dann leuchten sie wie große, sanfte Sonnenblumen im schmalen Grenzland zwischen Tag und Nacht, in dem sich alle Menschen so leise und langsam bewegen, als spazierten sie über den Grund des grünen Meeres. Die Tatsachen leuchten nie, und sie können auch keine Herzen erweichen wie Ditte Menschenkind, einer der ersten Romane, die ich lese. »Das ist ein sozialer Roman«, erklärt mein Vater, und das mag eine weitere Tatsache sein, aber sie sagt mir nichts, und ich habe keine Verwendung dafür. »Unfug«, entgegnet meine Mutter, die sich ebenfalls nicht für Tatsachen interessiert, aber leichter von ihnen absehen kann als ich. Wenn mein Vater selten einmal richtig wütend auf sie wird, sagt er, sie sei durch und durch verlogen, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich weiß, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat, so, wie jedes Kind seine eigene Kindheit. Die Wahrheit meiner Mutter unterscheidet sich grundlegend von der meines Vaters, aber das ist genauso einleuchtend, wie dass seine Augen braun sind und ihre blau. Zum Glück verhält es sich so, dass man über die Wahrheiten seines Herzens schweigen kann, wohingegen die strengen, grauen Tatsachen in den Schulchroniken, der Weltgeschichte, dem Gesetz und den Kirchenbüchern festgehalten werden. Keiner kann sie ändern, und das würde auch niemand wagen, nicht mal der liebe Gott, dessen Bildnis ich nicht von dem von Ministerpräsident Stauning unterscheiden kann, obwohl mein Vater sagt, ich solle nicht an Gott glauben, weil die Kapitalisten ihn schon immer gegen die Armen eingesetzt hätten.

Also:

Ich bin am 14. Dezember 1918 in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Vesterbro in Kopenhagen geboren worden. Wir wohnten in der Hedebygade 30 A, und A bedeutete Hinterhaus. Im Vorderhaus, von dessen Fenstern aus man auf die Straße herabschauen konnte, lebten die feineren Menschen. Obwohl ihre Wohnungen exakt so aussahen wie unsere, bezahlten sie zwei Kronen mehr Miete. Es war das Jahr, in dem der Weltkrieg aufhörte und der Acht-Stunden-Tag eingeführt wurde. Mein Bruder Edvin wurde geboren, als der Weltkrieg anfing, und damals arbeitete mein Vater zwölf Stunden am Tag. Er war Heizer, und seine Augen waren immer rot von den Funken des Dampfkessels. Als ich geboren wurde, war er 37 Jahre alt, meine Mutter zehn Jahre jünger. Mein Vater kam als uneheliches Kind in Nykøbing Mors auf die Welt und erfuhr nie, wer sein Vater war. Mit sechs Jahren wurde er als Hütejunge losgeschickt, und ungefähr zur gleichen Zeit heiratete seine Mutter einen Töpfer namens Floutrup. Mit ihm bekam sie neun Kinder, aber über all diese Halbgeschwister weiß ich nichts, weil ich sie nie gesehen habe und mein Vater auch nie über sie sprach. Er brach den Kontakt zur Familie ab, als er im Alter von sechzehn nach Kopenhagen ging. Er träumte vom Schreiben, und diesen Traum gab er im Grunde nie ganz auf. Es gelang ihm, eine Stelle als Journalistenlehrling bei irgendeinem Blatt zu ergattern, die er aus unbekannten Gründen jedoch wieder aufgab. Ich weiß nichts darüber, wie er die nächsten zehn Jahre in Kopenhagen verbrachte, ehe er mit 26 in einer Bäckerei in der Tordenskjoldgade meiner Mutter begegnete. Sie war sechzehn und arbeitete als Verkäuferin in dem Laden, wo mein Vater als Bäckersgehilfe jobbte. Daraus entstand eine ungeheuer lange Verlobung, die mein Vater mehrmals auflöste, wenn er der Meinung war, meine Mutter würde zu viel mit anderen schäkern. Das Meiste war wohl eher harmlos, diese beiden Menschen waren einfach nur so grundverschieden, als kämen sie von unterschiedlichen Planeten. Mein Vater war melancholisch, ernst und überaus moralisch, meine Mutter, jedenfalls als junges Mädchen, fröhlich und albern, leichtsinnig und eitel. Sie arbeitete an wechselnden Orten als Hausmädchen, und wenn ihr irgendwo etwas nicht passte, ging sie einfach wieder, und dann musste mein Vater ihr Arbeitsbuch und ihre Kommode abholen und sie auf einem Lastenfahrrad zu ihrer neuen Stelle fahren, wo ihr dann auch wieder irgendetwas nicht passte. Irgendwann vertraute sie mir einmal an, dass sie nie lange genug irgendwo geblieben war, um auch nur ein Ei zu kochen.

Ich war sieben Jahre alt, als uns das Unglück traf. Meine Mutter hatte mir gerade einen grünen Pullover gestrickt. Ich bekam ihn angezogen und fand ihn schön. Kurz vor Feierabend gingen wir los, um meinen Vater von der Arbeit abzuholen. Er war bei Riedel & Lindegaard in der Kingosgade angestellt. Dort arbeitete er schon immer, das heißt, seit ich denken kann. Wir kamen ein wenig zu früh, und ich trat gegen die schmelzenden Schneehaufen im Rinnstein, während meine Mutter wartend am grünen Geländer lehnte. Dann kam mein Vater aus dem Tor, und mein Herz schlug schneller. Sein Gesicht war grau und verkehrt und verändert. Meine Mutter eilte auf ihn zu. »Ditlev«, sagte sie, »was ist passiert?« Er blickte zu Boden. »Ich bin entlassen worden,« antwortete er. Ich kannte das Wort nicht, aber ich verstand das unwiderrufliche Unglück. Mein Vater war arbeitslos. Was anderen widerfuhr, war auch uns widerfahren. Riedel & Lindegaard, von denen bislang alles Gute gekommen war, bis hin zu meinem unantastbaren Sonntags-Fünf-Öre-Stück, hatte sich in einen bösen und unheimlichen Drachen verwandelt, der meinen Vater aus seinem Feuerschlund ausgespien hatte, gleichgültig gegenüber seinem Schicksal, gegenüber uns, mir und meinem neuen grünen Pullover, den mein Vater gar nicht bemerkte. Auf dem Heimweg sprach keiner von uns ein Wort.

Ich versuchte, meine Hand in die meiner Mutter zu schmuggeln, aber sie schlug meinen Arm mit einer heftigen Bewegung weg. Als wir oben im Wohnzimmer angekommen waren, sah mein Vater sie mit schuldbeladenem Blick an. »Jaja«, sagte er und strich sich mit zwei Fingern über den schwarzen Schnauzbart, »aber mit der Stütze werden wir lange auskommen.« Mit seinen 43 Jahren war er zu alt, um je wieder eine feste Arbeit zu finden. Trotzdem erinnere ich mich nur an ein einziges Mal, als die Unterstützung der Gewerkschaft tatsächlich knapp wurde, und sie über die Armenhilfe sprachen. Im Flüsterton, nachdem mein Bruder und ich ins Bett gegangen waren, denn es war eine Schande, die man nicht wieder abschütteln konnte, auf einer Stufe mit Läusen und der Kinderfürsorge. Wer Armenhilfe bekam, verlor sein Stimmrecht. Wir hungerten auch nie so, dass unser Bauch nicht mit irgendetwas gefüllt war, aber ich lernte einen Halbhunger kennen, wie man ihn beim Duft des Mittagessens spürt, der durch die Türen der Bessergestellten dringt, wenn man tagelang von Kaffee und altem Gebäck gelebt hat, von dem man für 25 Öre eine ganze Schultasche voll bekam.

Ich war diejenige, die es kaufen musste. Jeden Sonntag weckte mich meine Mutter um 6 Uhr und erteilte vom Ehebett aus ihre Befehle, bis oben in die Decke eingehüllt, neben meinem noch schlafenden Vater. Mit Fingern, die schon steif vor Kälte waren, bevor ich in den Hof hinauskam, griff ich meine Tasche und stürmte die Treppe hinunter, die zu dieser Tageszeit noch im Finsteren lag. Ich schloss die Tür zum Hof auf und spähte in alle Ecken und zu den Fenstern des Vorderhauses hinauf, denn niemand durfte mich bei der Ausführung dieses fragwürdigen Auftrags sehen. Altes Brot zu kaufen, war ein ebensolches Unding, wie an der Schulspeisung in der Schule im Carlsbergvej teilzunehmen, dem einzigen sozialen Angebot, das es in den dreißiger Jahren in Vesterbro gab. Letzteres war Edvin und mir auch nicht erlaubt. Außerdem durfte man auch keinen arbeitslosen Vater haben, obwohl das auf die Hälfte von uns Kindern zutraf. Deshalb vertuschten wir diese Schande mit den abwegigsten Lügen. Besonders verbreitet war die Behauptung, der Vater sei von einem Gerüst gefallen und krankgeschrieben. Vor dem Bäcker in der Tøndergade bildeten die wartenden Kinder eine gewundene Schlange entlang der Straße. Alle hatten ihre Taschen dabei, und alle plapperten etwas davon, wie gut das Brot bei genau diesem Bäcker sei, vor allem das frische. Als ich an die Reihe kam, brachte ich flüsternd mein Anliegen vor und fügte laut hinzu: »Am liebsten Sahnetörtchen.« Meine Mutter hatte mich eindringlich gebeten, nach Weißbrot zu fragen. Auf dem Heimweg naschte ich vier bis fünf saure Sahnetörtchen, wischte mir mit dem Jackenärmel den Mund ab und wurde nie überführt, wenn meine Mutter zur Kontrolle tief in meine Tasche hinabtauchte. Ich wurde so gut wie nie für meine Verbrechen bestraft. Meine Mutter schlug oft und fest zu, meist aber willkürlich und ungerechtfertigt, und während die Bestrafung stattfand, empfand ich eine heimliche Scham und tiefe Trauer, die mir Tränen in die Augen trieb und den schmerzlichen Abstand zwischen uns vergrößerte. Mein Vater schlug mich nie. Im Gegenteil, er behandelte mich immer gut. Von ihm bekam ich alle Bücher meiner Kindheit, und zum fünften Geburtstag schenkte er mir eine wunderschöne Ausgabe von Grimms Märchen, ohne die meine Kindheit traurig, grau und armselig gewesen wäre. Trotzdem hegte ich keine starken Gefühle für ihn, was ich mir oft vorwarf, wenn er mich vom Sofa aus mit seinem stillen, forschenden Blick ansah, als wollte er irgendetwas sagen oder tun, das allerdings doch nie zum Ausdruck kam. Ich war Mutters Mädchen, und Edvin war Vaters Junge, an diesem Naturgesetz gab es nichts zu rütteln. Einmal fragte ich ihn: »Was bedeutet Kummer, Vater?« Ich war bei Gorki auf dieses Wort gestoßen und liebte es. Er überlegte lange, während er über seine gezwirbelten Schnurrbartenden strich. »Das ist ein russischer Ausdruck«, antwortete er dann. »Es bedeutet...