Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft - Die Biographie

Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft - Die Biographie

von: Muriel Pécastaing-Boissière Pécastaing-Boissière

Aquamarin Verlag, 2020

ISBN: 9783968612072 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft - Die Biographie


 

Kapitel 2

Kampf für die Säkularisation und das Freidenkertum (1874-1890)1

Religiöser Hintergrund

Man muss den religiösen Hintergrund2 begreifen, in dem Annie Besant aufwuchs, um ihre starke Ablehnung des Christentums und ihren Einsatz für das Freidenkertum und den Säkularismus zu beurteilen. Heute fällt es schwer, die Bedeutung der christlichen Religion in der Viktorianischen Gesellschaft zu verstehen, die über den persönlichen Glauben hinausging. Die Epoche war zutiefst von den christlichen Werten geprägt, die besonders von den Mitgliedern der höheren und der Führungsschichten mit Nachdruck verteidigt wurden. Die Bibel blieb das Nachschlagewerk, selbst für die radikalen Streiter, Syndikalisten und Sozialisten, die dem viktorianischen Geist ihren bleibenden Stempel aufdrückten.

In Großbritannien gibt es keine Trennung zwischen Kirche und Staat. Seit der von Heinrich VIII. 1534 durchgeführten Reform ist die Anglikanische Kirche, abgesehen von der kurzen Regierungszeit seiner Tochter Mary und der puritanischen Diktatur unter Cromwell im 17. Jahrhundert, die offizielle, die „etablierte“ Religion in England und Wales. Königin Viktoria war, wie alle Herrscher seit der Ära von Elisabeth I., das symbolische „Oberhaupt der Kirche Englands“. An der Spitze der „Church of England“ steht der vom Monarchen auf Empfehlung des Premierministers nominierte Erzbischof von Canterbury. Von 1868 bis 1882 war dieser Erzbischof Archibald Tait.

Die Erzbischöfe von Canterbury und York sowie etwa zwanzig andere Bischöfe haben automatisch einen Sitz im House of Lords, in dem diese „geistlichen Herrn“ ein Stimmrecht besitzen. Archibald Tait war im Parlament sehr präsent und zögerte nicht, von seiner legislativen Gewalt Gebrauch zu machen. Dennoch lockerte er die Forderungen der etablierten Kirche ein wenig. So sorgte er 1880 für ein Bestattungsgesetz, das es erlaubte, auf dem Friedhof einer Pfarrkirche beigesetzt zu werden, ohne die Dienste eines anglikanischen Pfarrers in Anspruch zu nehmen, ein Gesetz, über dass sich die Gläubigen anderer Religionsgruppierungen und die Atheisten freuten.

Obwohl der Anglikanismus seit Elisabeth I. als via media zwischen dem Calvinismus und dem Katholizismus definiert werden konnte, vereinte die Kirche von England stets verschiedene theologische Strömungen. In der Viktorianischen Epoche traten drei Hauptlinien hervor. In den 1830ern gelangte der Anglo-Katholizismus in der High Church Movement zu neuer Blüte, einer Bewegung der High Church, auch Oxford-Bewegung genannt, die sich unter dem Einfluss von John Henry Newman, der schließlich zum Katholizismus übertrat und Kardinal wurde, entwickelt hatte. Später wurde diese Bewegung hauptsächlich von Edward Pusey repräsentiert, bei dem Annie Besant Rat in ihren religiösen Zweifeln gesucht hatte. Wie ihre Mutter stand sie dieser High Church Bewegung so nahe, dass man sich im Umfeld von Emily Wood fragte, ob sie nicht zum Katholizismus übergetreten sei.

Emily Wood war stets gemäßigter gewesen als ihre Tochter und schätzte vor allem die ästhetischen Gesichtspunkte der High Church Bewegung. Unter dem Einfluss ihres Mannes tendierte sie theologisch gesehen zu dem Broad Church Movement, einer liberalen, latitudinarischen Strömung, die sich intellektuell und relativ tolerant zeigte und im Allgemeinen von Regierungskreisen favorisiert wurde. Dieser Bewegung gehörte der Theologe Stanley an, der sich bereit erklärte, Emily Wood die letzte Ölung zu geben und ihr mit ihrer Tochter, der Atheistin Annie Besant, die Kommunion zu reichen.

Innerhalb der Anglikanischen Kirche in der Viktorianischen Epoche bemühten sich diese beiden Strömungen neben der eher puritanischen, dem Calvinismus nahestehenden Low Church Movement zu bestehen. Die evangelikale Erneuerung setzte Ende des 18. Jahrhunderts als Reaktion auf den rationalistischen Deismus bestimmter französischer und amerikanischer Revolutionäre ein. Der Evangelikalismus übte einen starken moralischen Einfluss während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus, der trotz der Schwächung des rein theologischen Aspektes, der in den 1850ern einsetzte, bestehen blieb. Für den viktorianischen Evangelikalen galt, sein Seelenheil zu suchen, indem man die an sich verderbte Natur des Menschen erkannte und das Erlösungsopfer Christi akzeptierte. Sein mystisch geprägter Glaube drückte sich in einer emotionalen und persönlichen Beziehung zu Gott und der Bibel aus, was in seinen Augen wichtiger war als der Klerus, Rituale und Glaubensätze. Dieser Glaube musste sich auch in der Opferbereitschaft für eine gerechte Sache manifestieren. Die Evangelikalen betonten die Nächstenliebe, die soziale Tätigkeit und die Notwendigkeit, tugendhaftes Vorbild zu sein. Angeführt von William Wilberforce, setzten sie sich aktiv für die Abschaffung der Sklaverei im Britischen Empire ein, die 1833 erreicht wurde.

Schottischer und presbyterianischer Herkunft, stand der Erzbischof von Canterbury, Archibald Tait, dieser protestantischen Strömung nahe. Er favorisierte die karitative und soziale Tätigkeit und kämpfte gegen den Ritualismus der High Church, insbesondere mit dem Public Worship Regulation Act, dem Gesetz zur Regelung der öffentlichen Gottesdienste von 1874.

In seinem Werk Duty (Pflicht)3 durchleuchtete der Moralist Samuel Smiles das viktorianische Pflichtverständnis, das er direkt vom Evangelikalismus ableitete. Dieser calvinistische Radikalist war berühmt geworden durch seine 1859 erschienene Schrift Self-Help (Selbsthilfe), 1871 gefolgt von Character (Charakter) und 1875 von der Abhandlung Thrift (Sparsamkeit). Seine Bibliographie bildete einen vollständigen Katalog evangelikaler Werte, die Grundlage der Viktorianischen Gesellschaft. Für Smiles „besitzt das Leben einen nur geringen Wert, wenn die Pflicht es nicht heiligt“. Aber er transzendierte das einfache ethische Konzept, um zu einer spirituellen, einer mystischen Dimension zu gelangen:

„In dem Maße, in dem sich sein Geist erhellt und sich sein Bewusstsein entwickelt, nimmt die Verantwortung des Menschen zu. Er unterwirft sich dem höchsten Willen und handelt in Einklang mit ihm – nicht aus Zwang, sondern aus Freude, geleitet von dem Gesetz der Liebe. Im Glaubensakt, der Wissen und Vertrauen einschließt, erfüllt sich die Menschheit. Der Mensch spürt, dass er das Gute bewirkt, die höchste Güte zulässt, wenn er sich frei entscheidet zu glauben und in Harmonie mit den Absichten des höchsten Willens handelt. […]

[Die Pflicht] entspricht nicht den alltäglichen moralischen Anforderungen. Sie macht sich nicht bemerkbar. Sie folgt einer größeren Gewissheit und einer höheren Gesetzmäßigkeit. Daran zu glauben und ihr zu gehorchen, lässt das gesamte menschliche Leben, jede Handlung als eine ewige Verpflichtung gegenüber der Menschheit betrachten. Das Übel oder die Gleichgültigkeit sind Schulden, die sich täglich anhäufen und die die Menschheit früher oder später bezahlen muss.“

Samuel Smiles rief zur Arbeit und zum Handeln auf und prangerte die kontemplative Neigung an, indem er den schwedischen Theologen Emanuel Swedenborg zitierte, der einen großen Einfluss auf Großbritannien ausübte, besonders auf den Dichter und Künstler William Blake: „Ziel des Lebens ist es nicht, sich von der Welt zurückzuziehen, sondern auf die Welt einzuwirken.“

Es ist wichtig, diese Werte des viktorianischen Evangelikalismus zu verstehen, da es diese Prinzipien waren, die Ellen Marryat Annie Besant eingeprägt hatte. Obwohl letztere 1874 schließlich ihre religiösen Grundlagen ablehnte, behielt sie stets die sich daraus ergebende Ethik des Opfergeistes bei. Der Historiker Walter E. Houghton erklärte in The Victorian Frame of Mind, dass diese evangelikale Arbeitsethik Agnostikern wie Annie Besant zu Hilfe kam:

„Diese Ideale nahmen Besitz von Heim – und Bewusstsein – der Skeptiker wie der erklärten Agnostiker. Die meisten bewahrten in ihrem ethischen Entwurf die Inbrunst ihres verloren gegangenen kindlichen Glaubens. Aber dies war nicht bloß eine Frage festverwurzelter Gewohnheiten. […] Der intellektuelle Radikalismus ging mit einem ängstlichen Moralkonservatismus einher, vor allem in einer Zeit, in der man die Agnostiker der Tendenz beschuldigte, das moralische Leben zu zerstören.“

Er fährt fort, indem er die agnostische Schriftstellerin George Eliot zitiert: „Die Worte Gott, Unsterblichkeit, Pflicht – wie unmöglich, das erste zu begreifen, an das zweite zu glauben und doch wie oft drängte sich das letzte auf.“ Der Evangelikalismus umfasste nicht nur die anglikanische Low Church, sondern auch eine Reihe von „Nicht-Konformisten“ oder „Dissidenten“. Der Begriff Dissidenten ging auf das Jahr 1662 zurück und bezeichnete die Mitglieder der verschiedenen protestantischen Bekenntnisse, die es abgelehnt hatten, sich während ihrer Erneuerung unter Charles II. wieder mit der Anglikanischen Kirche zu vereinigen, besonders die Presbyterianer, die Baptisten, die Quäker und die Kongregationalisten. Diesen Puritanern schlossen sich im 18. Jahrhundert auf Betreiben von John Wesley die Methodisten an, die sich mit seinem Tod im Jahre 1791 von der anglikanischen Kirche lösten. Der Methodismus und Evangelikalismus stehen sich jedoch theologisch gesehen so nahe, dass die beiden Begriffe im 19. Jahrhundert bisweilen austauschbar waren.

Viktorianische spirituelle Krise

Annie Besants spirituelle Krise muss in Zusammenhang mit den religiösen Fragen ihrer Zeit betrachtet werden.4 Die sich häufenden Diskussionen in...