Später

Später

von: Stephen King

Heyne, 2021

ISBN: 9783641277383 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Später


 

6


Als Mama merkte, wie schlimm es stand, hörte ich sie am Telefon mit Anne Staley sprechen, einer befreundeten Lektorin. Es ging um Onkel Harry. »Der war schon weich in der Birne, bevor er richtig weich geworden ist«, sagte Mama. »Das ist mir jetzt klar.«

Mit sechs Jahren hätte ich keinen Schimmer gehabt, worum es ging. Aber inzwischen war ich acht, beinah neun, und begriff zumindest teilweise. Sie sprach über den Schlamassel, in den ihr Bruder sich – und sie – gebracht hatte, noch bevor die frühe Demenz sein Gehirn wie ein Dieb in der Nacht davontrug.

Natürlich war ich ihrer Meinung; sie war meine Mutter, wir beide gegen den Rest der Welt, ein echtes Zweierteam. Ich hasste Onkel Harry für die Misere, in die er uns gebracht hatte. Erst später, als ich zwölf oder vielleicht auch vierzehn war, wurde mir bewusst, dass meine Mutter ebenfalls einen Teil der Schuld trug. Eventuell wäre sie in der Lage gewesen, aus der Sache herauszukommen, solange noch Zeit war, sehr wahrscheinlich sogar, aber das tat sie nicht. Wie Onkel Harry, der die Literaturagentur gegründet hatte, wusste sie eine Menge über Bücher, aber nicht genug über Geld.

Sie wurde sogar zweimal gewarnt, unter anderem von ihrer Freundin Liz Dutton. Liz war Detective beim NYPD und ein großer Fan der Roanoke-Saga von Regis Thomas. Meine Mutter hatte sie bei der Präsentation eines einschlägigen Bandes kennengelernt, und die beiden hatten sich gleich prächtig verstanden. Was sich als weniger gut entpuppen sollte. Dazu komme ich noch; vorläufig will ich mich darauf beschränken, dass Liz zu meiner Mutter sagte, der Mackenzie-Fonds sei zu schön, um wahr zu sein. Das dürfte ungefähr zu der Zeit gewesen sein, wo Mrs. Burkett starb; da bin ich mir zwar nicht ganz sicher, aber auf jeden Fall war es vor Herbst 2008, wo die Wirtschaft abstürzte. Unser Anteil daran eingeschlossen.

Onkel Harry hatte früher in einem noblen Club in der Nähe von Pier 90 – dort, wo die großen Schiffe anlegten – Racquetball gespielt. Einer der Sportkameraden war ein Produzent am Broadway, der ihm vom Mackenzie-Fonds erzählte. Er bezeichnete den Fonds als Lizenz zum Gelddrucken, was Onkel Harry wörtlich nahm. Klare Sache. Schließlich hatte jener Freund massenhaft Musicals produziert, die massenhaft Jahre nicht nur am Broadway, sondern im ganzen Land gelaufen waren, und seine Tantiemen strömten nur so herein. (Ich wusste genau, was Tantiemen waren, nicht umsonst war ich das Kind einer Literaturagentin.)

Onkel Harry erkundigte sich, sprach mit irgendeinem großen Tier, das für den Fonds tätig war (allerdings nicht mit James Mackenzie selbst, weil Onkel Harry im großen Finanzzirkus nur ein kleines Tier war), und steckte einen Haufen Geld hinein. Der Ertrag war so gut, dass er noch mehr hineinsteckte. Und immer mehr. Als er dement wurde – und es ging ziemlich schnell abwärts mit ihm –, übernahm meine Mutter sämtliche Konten und Depots und hielt den Mackenzie-Fonds nicht nur, sondern steckte wiederum selbst Geld hinein.

Monty Grisham, der ihr damals bei den Verträgen half, riet ihr nicht nur ab, noch mehr hineinzustecken; er beschwor sie sogar, sie solle aussteigen, solange die Lage noch gut sei. Das war die zweite Warnung, die sie erhielt, und zwar nicht lange nachdem sie die Agentur übernommen hatte. Außerdem meinte Grisham, wenn etwas zu schön aussehe, als dass es wahr sein könnte, dann sei das wahrscheinlich auch der Fall.

Alles, was ich gerade erzähle, habe ich scheibchen- und bröckchenweise herausbekommen, wie bei dem erwähnten Telefongespräch zwischen Mama und der mit ihr befreundeten Lektorin. Bestimmt ist schon jeder selbst draufgekommen, und ich brauche nicht groß auszuführen, dass es sich beim Mackenzie-Fonds in Wirklichkeit um einen fetten Anlagebetrug handelte. Mackenzie und seine fröhliche Diebesbande sammelten eine Million nach der anderen ein und schütteten hohe Gewinne aus, steckten jedoch den größten Teil des investierten Geldes in die eigene Tasche. Sie hielten die Sache am Laufen, indem sie ständig neue Investoren an Land zogen und ihnen weismachten, was für besondere Leute sie seien, weil nur wenige Auserwählte in den Fonds einzahlen dürften. Wie sich herausstellte, waren die wenigen Auserwählten mehrere Tausend, von Broadway-Produzenten bis hin zu reichen Witwen, die dann beinah über Nacht ihren Reichtum verloren.

Eine solche Masche ist darauf angewiesen, dass die Investoren mit ihrem Gewinn zufrieden sind und nicht nur ihre ursprüngliche Investition im Fonds belassen, sondern immer mehr hineinstecken. Eine Weile funktionierte alles ganz gut. Als die Wirtschaft dann 2008 in die Krise geriet, wollten praktisch alle Beteiligten ihr Geld zurück, aber das Geld war nicht mehr vorhanden. Verglichen mit Bernie Madoff, dem König aller Anlagebetrüger, war Mackenzie zwar eine kleine Nummer, schlug sich im Vergleich jedoch ganz wacker. Nachdem er mehr als zwanzig Milliarden Dollar einkassiert hatte, befanden sich auf seinen Konten gerade mal magere fünfzehn Millionen. Er kam ins Gefängnis, was erfreulich war, aber wie Mama manchmal sagte: »Rache ist süß, aber kaufen kann man sich nichts davon.«

»Alles im grünen Bereich«, sagte sie zu mir, als Mackenzie auf sämtlichen Nachrichtensendern und in der New York Times auftauchte. »Mach dir keine Sorgen, Jamie.« Aber die Ringe unter ihren Augen zeigten, dass sie sich große Sorgen machte. Wofür sie mehr als genug Gründe hatte.

Hier noch was von dem, was ich später herausbekam: Mama besaß nur etwa zweihunderttausend Dollar an Vermögen, das sie flüssig machen konnte, und das schloss die Lebensversicherungen für sie und mich ein. Was sie an Verbindlichkeiten hatte, will keiner wissen. Man erinnere sich nur daran, dass unsere Wohnung an der Park Avenue lag und das Büro der Agentur an der Madison Avenue. Das Pflegeheim, wo Onkel Harry lebte (»falls man so was leben nennen kann«, höre ich meine Mutter hinzufügen), befand sich in Pound Ridge, was ebenfalls ein teures Pflaster war.

Das Büro an der Madison zu schließen war Mamas erster Schachzug. Anschließend arbeitete sie von unserem Palast an der Avenue aus, zumindest eine Weile lang. Die Miete bezahlte sie im Voraus, indem sie die erwähnten Versicherungspolicen auflöste, auch die von ihrem Bruder, aber das würde nur acht bis zehn Monate reichen. Sie vermietete das Haus von Onkel Harry in Speonk. Sie verkaufte den Range Rover (»in der Stadt brauchen wir eigentlich sowieso kein Auto, Jamie«, sagte sie) und einen Stapel Erstausgaben, darunter ein von Thomas Wolfe signiertes Exemplar von Schau heimwärts, Engel! Bei Letzterem weinte sie und meinte, sie hätte nicht die Hälfte von dem bekommen, was es wert sei. Der Markt für seltene Bücher war ebenfalls im Keller, dank einem Haufen Sammler, die ebenso verzweifelt Bares brauchten wie sie selbst. Auch unser Gemälde von Andrew Wyeth musste dran glauben. Und jeden Tag verfluchte sie James Mackenzie, weil er eine derart heimtückische, geldgeile, beschissene, schwanzlutschende Hämorrhoide auf zwei Beinen sei. Manchmal verfluchte sie sogar Onkel Harry und verkündete, er werde am Jahresende hinter einem Müllcontainer hausen, was ihm nur recht geschehe. Und fairerweise verfluchte sie sich später auch selbst, weil sie nicht auf Liz und Monty gehört hatte.

»Ich komme mir vor wie die Grille, die den ganzen Sommer Musik gemacht hat, statt zu arbeiten«, sagte sie eines Abends zu mir. Das war im Januar oder Februar 2009, glaube ich. Inzwischen übernachtete Liz manchmal bei uns, allerdings nicht an jenem Abend. Vielleicht fiel mir da zum ersten Mal auf, wie sich in die hübschen roten Haare meiner Mutter graue Strähnen stahlen. Es kann aber auch sein, dass ich mich deshalb so daran erinnere, weil sie in Tränen ausbrach und jetzt ich an der Reihe war, sie mit Kopfstreicheln zu trösten, obwohl ich noch ein kleiner Junge war und eigentlich gar nicht wusste, wie man so was richtig tat.

Im Sommer zogen wir aus dem Palast an der Avenue in eine wesentlich kleinere Wohnung in der Tenth. »Keineswegs eine Absteige«, sagte Mama. »Und die Miete stimmt.« Außerdem: »Aus der Stadt ziehe ich bestimmt nicht weg. Dann würde ich die weiße Fahne schwenken. Und Klienten verlieren.«

Die Agentur zog natürlich mit uns um. Das Büro kam in den Raum, der wohl als mein Zimmer gegolten hätte, wenn die Lage nicht so verdammt mies gewesen wäre. Deshalb bestand mein Zimmer aus einem Kabuff neben der Küche. Dort war es im Sommer heiß und im Winter kalt, aber wenigstens roch es gut. Ich glaube, es hatte früher als Speisekammer gedient.

Ihren Bruder ließ Mama in ein Heim in Bayonne verlegen. Reden wir lieber nicht weiter darüber. Das einzig Gute bestand wahrscheinlich darin, dass der arme alte Onkel Harry ohnehin keine Ahnung hatte, wo er sich befand; wenn er im Beverly Hilton gewesen wäre, hätte er sich genauso oft in die Hosen gemacht.

Andere Dinge aus den Jahren 2009 und 2010, an die ich mich erinnere: Meine Mutter ging nicht mehr zum Friseur. Sie ging auch nicht mehr mit Freundinnen Mittag essen, und mit Klienten der Agentur nur, wenn es unbedingt nötig war (weil die Rechnung immer an ihr hängen blieb). Neue Klamotten kaufte sie sich kaum noch, und wenn doch, dann in Discountläden. Und sie fing an, mehr Wein zu trinken. Wesentlich mehr. An manchen Abenden ließ sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin Liz ordentlich volllaufen. Dann hatte sie am nächsten Tag rote Augen, war bissig und werkelte im Schlafanzug in ihrem Büro herum. »Das Leben ist wie ’ne Hühnerleiter«, sang sie dabei manchmal vor sich hin. »Kurz und beschissen geht es weiter.« An solchen Tagen war es eine echte Wohltat, in die Schule gehen zu...