Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

von: Ulla Fröhling

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783838716176 , 326 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte


 

KAPITEL 1


Ein’ feste Burg


195614

Gesellschaft: Die ersten 50 Gastarbeiter aus Italien treffen ein;
Bravo erscheint; die Fresswelle beginnt.
Im Kino: … denn sie wissen nicht, was sie tun (James Dean);
Sissy (Romy Schneider).
Schlager: Heimweh (Freddy Quinn).
Politik: Ungarn-Aufstand; der BND wird gegründet;
Minister für Atomfragen.
Franz-Josef Strauß wird Verteidigungsminister.
Satz des Jahres: Wenn die Tendenz der Verwahrlosung und Verrohung anhält, hat man mit einer Gefahr für die Gesellschaft zu rechnen, die schlimmer ist als die Atombombe.

(FAZ über die Halbstarken)

Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, mittags
WOLFGANG MÜLLER

Mit aufgeschlagenen Knien, zufrieden und stolz sitzt Wolfgang Müller neben seinem Vater im VW Käfer. Der Neunjährige ist Torwart beim TSV Lutter, so wie sein Vater und dessen Vater vor ihm, eine Familientradition. Wolfgang hat Talent, ist flink und groß; mit sechs Jahren schon war er in der Schülermannschaft, jetzt bei den Knaben. Heute war ein Spiel in Braunschweig, keinen Ball hat er durchgelassen.

Wolfgang fährt gern mit seinem Vater Auto, wenn sie Fußball gespielt haben. Das ist ihre Verbindung. Als Deutschland Weltmeister wurde, vor zwei Jahren in Bern, da saßen sie miteinander vor dem Radio. Zu sagen wissen sie sich nicht viel. Gemeinsame Zeit, das zu üben, gibt es nicht oft. Beide Eltern arbeiten, der Vater auf der Zeche, die Mutter in der Puddingfabrik, sechs Tage die Woche, oft zehn Stunden am Tag. In Lutter am Barenberge, einer Bergbaustadt am Rande des Harzes, wächst Wolfgang auf, ein Einzelkind, um das sich die Eltern wenig kümmern können. So bleibt er für sich, immer etwas ungelenk und schüchtern gegenüber Fremden, und wenn er spricht, holpert er durch die Sätze.

Mit fünf Mark Taschengeld bringt Wolfgang sich durch. Sein Geld muss er sich gut einteilen, auch Schulhefte und Kleidung davon bezahlen. Er wird früh selbstständig. Morgens auf dem Schulweg kauft er sich Brötchen mit Gehacktem und Zwiebeln, oder Schillerlocken, das sind Waffeltüten mit Schlagsahne. Lecker. Oder er schmiert sich selbst eine Klappstulle, wickelt sie in altes Zeitungspapier und betrachtet die Bilder aus einer anderen Welt. Neulich war eine Fürstenhochzeit dabei, Monaco stand darüber; wo das ist, weiß er nicht, aber sehr schön hat die Braut ausgesehen.

»Wir fahren noch zu Mama nach Groß Schwülper«, sagt der Vater. Wolfgang sagt nichts, aber etwas enttäuscht ist er schon, denn oft gibt es Streit zwischen den Eltern. Vielleicht musste er deshalb auch im Bett zwischen ihnen schlafen, bis er acht Jahre alt war, denkt er, damit es keinen Streit gab. Die Mutter macht gerade Urlaub mit einer Nachbarin, Arbeiterin in der Puddingfabrik wie sie, die hat sie mitgenommen zu einer Zeltfreizeit in Groß Schwülper. Da ist was los! Ein Paul Schäfer soll dort die Bibel auslegen und Erwachsene taufen. Ein faszinierender Mann, sagen sie, ein Gottesmann, einer, der etwas bewegen will. Einer, durch den Gott spricht. Das klingt gut, auch für Wolfgangs Mutter, die eher auf der Suche nach Unterhaltung ist, nach Ablenkung vom Alltag, als nach religiöser Einkehr.

Wolfgangs Eltern haben im letzten Kriegsjahr geheiratet, ihr Unglück dadurch eher verdoppelt als halbiert. Zügig, im Jahr darauf, kam Wolfgang zur Welt. Kindererziehung entfällt aus Mangel an Zeit und Neigung. Wolfgang wächst bei den Großeltern auf und in den Familien der Nachbarskinder; Cousins und Cousinen sind auch dabei. Fußballspielen, Kinderstreiche und Kirschenklauen sind die Lichtblicke in seiner Erinnerung.

Auf der Suche

Groß Schwülper, eine kleine ländliche Gemeinde zwischen Harz und Heide im Zonenrandgebiet, nahe der Ostzone, ist in Aufruhr an diesem Wochenende im Sommer 1956. Auf den Wiesen am Ufer der Oker, die hier nur wenige Meter breit ist, zwischen Pferdeweiden, Rüben- und Kartoffeläckern macht sich eine Zeltstadt breit. Kleine Schlafzelte für drei bis fünf Personen, ein großes Zelt für gemeinsame Mahlzeiten, ein Versammlungszelt für Gebete, Predigten, Evangelisation. Und das Wasser im Staugraben der Schunter, einem kleinen Nebenfluss der Oker, um die Bekehrten darin zu taufen.

Menschen auf der Suche sind hier zusammengekommen. Suche nach Gott, nach Gemeinschaft, nach Halt. Es sind Christen, meist Freikirchler, Baptisten, Pfingstler und andere, denen die evangelische Kirche zu wenig Kraft, Erleuchtung, Leidenschaft, zu wenig Erschütterung und Führung bietet. Das Bedürfnis, sich bedingungslos hinzugeben – diesmal einem Führer, der es gut mit ihnen meint –, das verbindet sie. Viele Kinder sind dabei. Vielleicht kann man noch ein bisschen Fußball spielen, denkt Wolfgang und schaut sich um, als sein Vater den VW Käfer am Feldrain geparkt hat und sie beide am Kühler lehnen, vor sich viele unbekannte Menschen, und die Mutter ist nirgends zu sehen.

Fünfzig, vielleicht achtzig Menschen bevölkern heute die Okerwiesen, Mädchen in bunten Sommerkleidern oder in Rock und weißer Bluse, die meisten tragen lange Zöpfe, Frauen in weiten Röcken und flachen Schuhen, mit Dutt, Knoten oder Haarkranz, erwartungsvoll. Viele haben eine Strickjacke übergezogen, denn dieser August 1956 ist viel zu kalt für einen Sommermonat. Stumm stehen die Frauen beieinander, schauen zu, wie die halbwüchsigen Jungen spielen. Viele ältere Männer in kariertem Hemd mit Strickweste, dünn sind sie und müde vom Krieg, der vor zehn Jahren zu Ende ging, der ihnen aber immer noch in den Knochen steckt. Und in der Seele.

Millionen Flüchtlinge aus Osteuropa mussten untergebracht werden, eher geduldet als mit offenen Armen aufgenommen, so erleben sie ihr Schicksal. Herumgestoßen, verachtet. Freikirchler aus Ostpreußen, aus Schlesien sind nach der Flucht hier in Groß Schwülper gelandet, gestrandet und müssen sich für ihre Gottesdienste die kleine Kapelle mit einer anderen Minderheit teilen, katholischen Flüchtlingen aus dem früheren Galizien, eine Region, die sich heute vom südlichen Polen bis in die Ukraine erstreckt.

Wolfgangs Familie musste nicht flüchten, sie lebte immer in Lutter. Aber auch durch die Straßen seiner Kindheit ziehen die Kriegsversehrten, Einbeinige mit Krücken, das leere Hosenbein mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt. Die Kinder laufen zusammen, wenn wieder ein Leierkastenmann in ihrer Straße auftaucht, einer hat einen angeketteten Affen dabei, der sammelt mit einem Hut die Pfennige und Groschen auf, die die Kinder ihm hinwerfen. Doch Wolfgang hat kein Geld zum Wegwerfen.

Für die Jugendlichen und die Erwachsenen erwacht nachts im Traum der Schrecken des Krieges wieder zum Leben, mit Brandbomben, Vergewaltigungen, Gefangenschaft. Auch die Qual der anderen: das Leid der Zwangsarbeiter, die Folter, die Demütigungen und Massenmorde in den Konzentrationslagern.

Überall in Deutschland sind die Folgen von Diktatur und Krieg noch zu spüren. Nicht mehr so deutlich wie 1945 – die Ruinen sind aus dem Wege geräumt, die Wirtschaft blüht auf, die Menschen wollen leben, kaufen, haben. Der Aufbau nimmt alle Kräfte in Anspruch. Hervorragend geeignet zum Verdrängen. An eine Aufarbeitung der Nazizeit ist noch lange nicht zu denken.

Während Wolfgang und sein Vater nicht recht wissen, wie sie sich unter diesen fremden Menschen bewegen sollen, macht sich einer schon auf den Weg zu ihnen: Paul Schäfer. Den rotblonden Jungen in der kurzen Fußballhose hat Schäfer sofort erspäht, als dieser aus dem VW Käfer klettert und mit seinem Vater den Versammlungsplatz in Groß Schwülper betritt. Er geht auf Wolfgang zu.

»Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Volksgenossen«, sagt Schäfer munter, ein Spruch aus jüngst vergangener Zeit, fährt Wolfgang mit der Hand durch die Haare, fragt: »Wer bist du denn? Ich bin der Onkel Paul« und drückt den Jungen an sich. Ein Test. Dies ist Wolfgangs erste Begegnung mit Paul Schäfer. So aufmerksam wahrgenommen zu werden ist ungewohnt für den kleinen Jungen. Im Sommer 1956 ist Wolfgang noch ein Kind. Ein vernachlässigtes Kind, hungrig nach Zuneigung. Manche hänseln ihn, dann wird er so rot wie seine Haare. Paul Schäfer erkennt diese Kinder. Er weiß um ihre Bedürftigkeit und um ihre Wehrlosigkeit. Er nimmt ihre Spur auf.

Doch jetzt geht es ins Zelt zum Essen. Dabei verfliegt das eigenartige Gefühl schnell, das Wolfgang nicht benennen kann. Im Zelt stehen schon die Frauen, verteilen Brot und Suppe. Und da ist auch die Mutter.

Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen.

Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen.

Wolfgang hört den vielstimmigen Chor, er geht vor das Zelt, seinen Teller noch in der Hand. Paul Schäfer hat er schon wieder vergessen. Die Sonne steht hoch über dem Horizont, ihre Strahlen lassen die kabbeligen Wellen des kleinen Flusses aufblitzen. An der Flussbiegung springen einige Dorfkinder ins Wasser. Neugierig gucken sie zu den Menschen der Zeltmission herüber, über die man im Dorf so einiges munkelt. Ganz Mutige schleichen sich hinter den Büschen heran. Irgendwo wiehert ein Pferd. Wolfgang sieht die überhängenden Weiden, er riecht das gemähte Gras, hört den Gesang. Er geht näher zum Chor hin. Fünf Mädchen und Frauen stehen an der rechten Seite. Sie sehen sich ähnlich. »Der Wagner-Chor«, sagen die Leute, verstummen und lauschen. Da entdeckt Wolfgang die Kleine. So denkt er: die Kleine;...