Rockermärchen. Once upon a time...

Rockermärchen. Once upon a time...

von: Bärbel Muschiol

Klarant, 2020

ISBN: 9783965861831 , 700 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

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Rockermärchen. Once upon a time...


 

1. Kapitel


 

Ella

 

„... ich werde das anziehen, Mutter. Ich bin erwachsen, du kannst mir nicht vorschreiben, wie ich mich kleiden soll!“

Allein bei dem Wort Mutter zieht sich mir schon der Magen zusammen und bittere Galle steigt in mir hoch.

Wann immer Alejandra wütend auf ihre Mum ist, nennt sie sie nur noch Mutter. Sie tut das, weil sie ganz genau weiß, dass Gabriella es hasst, so genannt zu werden. Gabriella sagt immer, dass sie sich dann so alt vorkommt, alt und überhaupt nicht mehr jung und attraktiv. Aber na ja ... mit fast sechzig ist das Wort jung vielleicht eh nicht mehr so ganz zutreffend, ganz egal wie sie von ihrer geliebten Tochter genannt wird.

Dieser Streit dauert jetzt schon seit gut einer Woche an.

Alejandra und Viviana wollen am Wochenende unbedingt auf eine dieser berühmt-berüchtigten Biker-Partys gehen, die jeden Freitag im Clubhaus des Red Snake Motorcycle Clubs stattfinden und über die echt heftige Geschichten kursieren.

Ich denke, diese Idee stammt ursprünglich von Gabriella.

Jede normale Mutter würde ihre Töchter mit allen Mitteln davon abhalten, zu so einer Veranstaltung zu gehen, aber Gabriella ist nicht normal, sie ist raffgierig, spielsüchtig und hoch verschuldet.

Meine Stiefmutter ist eine sehr berechnende Frau, ich bin mir sicher, dass es nicht die Liebe war, die sie einst in das Bett meines Vaters gelockt hat, sondern einzig und allein der Name Spencer, das Geld und der Status, den sie als Archer Spencers Ehefrau erhalten hat.

Jetzt ist sie pleite. Ich habe keine Ahnung, wie hoch ihre Schulden insgesamt sind, aber ich ahne Schlimmes.

Wegen ein paar hundert Dollars stehen keine schrankgroßen, King Kong ähnelnden Geldeintreiber vor der Türe.

So wie ich Gabriella einschätze, ist ihr neuester Plan eine neue einträgliche Beziehung.

Die Red Snakes sind verdammt einflussreich, haben Macht und Geld. Diese Rocker haben in der Schattenwelt New Yorks das Sagen, und verdammt, in dieser Stadt gibt es höllisch viele Schatten.

Meine Stiefmutter schreckt vor absolut nichts zurück, was ihr das Leben verschönern würde, nicht einmal davor, eine ihrer Töchter an eine dieser Schlangen zu verschachern, schon gar nicht, wenn dadurch die Möglichkeit bestehen könnte, dass sich die Rocker um ihre Schulden kümmern würden.

Diese Kutten tragenden Kriminellen müssten wahrscheinlich nur ein Mal mit den Fingern schnippen, und schon wäre Gabriella alle ihre Schulden los.

Alejandra und Viviana sind nicht unbedingt die schönsten Frauen auf diesem Planeten, aber sie sind sehr wohl attraktiv, ganz besonders dann, wenn die sie Klappe halten und man nicht sofort bemerkt, dass sie die Intelligenz eines Backsteins haben.

Wenn Gabriellas Plan aufgeht, und sie es schafft, Alejandra oder Viviana mit dem Präsidenten oder dem Vize zu verkuppeln, dann hätte sie auf beiden Seiten des Gesetzes einflussreiche Verbindungen.

Ich habe längst gemerkt, dass meine Stiefmutter ein berechnendes Miststück ist, aber Alejandra und Viviana sind so dumm, dass sie die raffinierten Schliche ihrer Mutter nicht durchschauen.

Gabriella ist bereit, ihre Töchter an blutrünstige Mörder zu verkaufen, nur um ihren Arsch zu retten.

Das ist heftig, echt heftig, aber nicht mein Problem.

Der Streit über den viel zu kurzen Lederrock eskaliert, Türen werden zugeknallt, die Schreie werden immer lauter.

Alejandra gibt für Klamotten zwar jeden Monat tausende von Dollars aus, hat aber überhaupt keinen Geschmack. Wenn Gabriella es zulassen würde, dann würde meine Stiefschwester sich wie eine Prostituierte kleiden.

Was vielleicht sogar ganz passend ist für eine vielleicht zukünftige Biker-Braut.

Viviana mischt sich in den Streit ein, sie wirft eine halb volle Champagnerflasche durch die Luft, diese kracht an die Wand und zerplatzt in tausend Scherben, sodass sich die teure Flüssigkeit auf dem Boden verteilt.

Im ersten Moment ist Gabriella entsetzt, doch dann beginnt sie zu lachen, winkt mich mit einer bestimmenden Geste zu sich und befiehlt mir, die Sauerei wegzumachen.

Am liebsten würde ich mich weigern, nein sagen und ihr lautstark mitteilen, dass ich nicht ihr verdammtes Dienstmädchen bin, doch ich beiße mir auf die Zunge und mache mich daran, die Putzsachen zu holen.

Das hier ist mein Zuhause, es mag sein, dass Gabriella und ihre Töchter das nicht verstehen können. Aber ich verbinde mit diesem Ort so viele schöne Erinnerungen, dass ich einfach nicht zulassen kann, dass sie ihn zerstören.

Hier habe ich mit meiner Mum gelebt, hier haben wir gespielt und gelacht.

Dieser Ort und meine Erinnerungen sind alles, was mir von ihr geblieben ist und ich werde nicht zulassen, dass Gabriella mir das kaputtmacht.

Ich weiß noch, dass meine Mum mir, als ich noch klein war, gesagt hat, dass ich mutig und freundlich sein soll. Und Himmel ... ich versuche es wirklich, ich gebe jeden Tag mein Bestes, aber es fällt mir immer schwerer, tapfer zu sein.

Die Diskussion über den Rock wird immer lauter und erreicht einen neuen Höhepunkt. Mittlerweile geht es auch um die Schuhe und das passende Oberteil.

Gabriella ermahnt ihre Töchter, dass sie Stil und Klasse zeigen sollen, was mich zum Schmunzeln bringt.

Stil und Klasse sind zwei Dinge, die man nicht kaufen kann, nicht für alles Geld der Welt, und darum werden Viviana und Alejandra diese beiden Eigenschaften auch niemals ihr Eigen nennen.

Und selbst wenn. Ich kenne mich ja mit den Rockern nicht aus. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Motorradfanatiker keinen großen Wert auf Stil legen. Ich will diesen Rockern kein Unrecht tun, aber ich denke, die legen bei Frauen Wert auf andere Dinge.

Brüste und Hintern wahrscheinlich, und damit können meine Stiefschwestern definitiv aufwarten.

Wir sind nicht nur charakterlich so unterschiedlich wie nur irgend möglich, sondern auch optisch. Während ich mit meinen langen blonden Haaren, den blauen Augen und der zierlichen Figur vom Aussehen her nach meiner Mum komme, ähneln Alejandra und Viviana Gabriella. Sie haben haselnussbraune volle Haare, runde Gesichter und ebenfalls braune Augen.

Ich bin froh über diese starken Unterschiede. Das Letzte, was ich will, ist, dass die Leute denken könnten, diese beiden Tussis und ich seien blutsverwandt.

Ein kurzer Schmerz flammt in meiner Fingerspitze auf, einer der Glassplitter hat sich in meinen Finger gebohrt.

Gabriella bemerkt das Blut und lacht.

„Du dummes Ding, kannst du nicht besser aufpassen? Wenn du das weggemacht hast, kannst du auch gleich noch den Kamin entaschen, das muss dringend erledigt werden!“

Wut und Verzweiflung brauen sich in meinem Inneren zusammen, Tränen steigen mir in die Augen, allerdings haben die nichts mit dem Schnitt zu tun, sondern kommen von der erneuten Erniedrigung durch meine Stiefmutter.

Wie kann eine Frau nur so boshaft und gemein sein?

Womit habe ich das alles verdient? Ich habe ihr nie etwas getan, im Gegenteil, als mein Vater sie mit nach New York gebracht und mir mitgeteilt hat, dass er sie heiraten wird, habe ich die drei mit offenen Armen empfangen.

Ein großer Fehler, für den ich nun für den Rest meines Lebens büßen werde.

Anstatt zu widersprechen, mache ich einfach, was sie mir befiehlt, so komme ich wenigstens für ein paar Minuten hier raus, raus an die frische Luft.

Erfahrungsgemäß wird der Streit über den blöden Rock noch bis Freitag andauern und das, obwohl er total sinnlos ist, denn schlussendlich hat Gabriella es noch immer geschafft, sich durchzusetzen. Sie droht einfach damit, den Geldhahn zuzudrehen, was wirklich witzig ist, denn wir sind längst pleite.

Während ich mir seit Jahren keine neuen Sachen gekauft habe, und eigentlich immer nur abgewetzte Jeans trage, die mit keinem teuren Designerlabel versehen sind, häufen Gabriella und ihre Töchter einen immer noch höher werdenden Klamottenturm an.

Nicht mehr lange und uns wird diese Kaufsucht um die Ohren fliegen ...

Ich schaufle die Asche zu den Scherben in den Eimer, wische mir über die Stirn, streiche mir so ein paar Haare aus dem Gesicht und atme tief durch.

Vielleicht ist es ja doch ein Fehler zu bleiben?

Vielleicht sollte ich einfach meine Sachen packen und gehen.

Niemand würde mich daran hindern, meine Stiefschwestern wären wahrscheinlich froh, mich los zu sein.

Die Ablehnung, die ich durch sie erfahren habe, schmerzt sogar nach all den Jahren noch wie am ersten Tag. Es ist nicht schön, allein zu sein. Tränen der Wut und der Verzweiflung bilden sich in meinen Augen, laufen über und tropfen auf das längst erloschene Feuer.

Ich kann nicht gehen. Das hier ist mein Zuhause, mein Märchenschloss und ich werde es weder Gabriella noch ihren verzogenen Monstern überlassen.

Mit der Asche, der Schaufel und dem Besen gehe ich in den Flur, doch bevor ich den Aufzug, der direkt in unser Loft führt, rufen kann, taucht meine Stiefmutter auch schon neben mir auf.

„Wie zur Hölle siehst du denn aus, Kind?“

Sie mustert mich so abschätzig, als wäre ich ein Insekt, das sie am liebsten mit ihren...