Niceville - Roman (Niceville-Trilogie, Band 1)

von: Carsten Stroud

DuMont Buchverlag , 2012

ISBN: 9783832186210 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Niceville - Roman (Niceville-Trilogie, Band 1)


 

Rainey Teague kommt nicht nach Hause

Die Polizei von Niceville brauchte nicht einmal eine Stunde, um die Person zu finden, die den Jungen zuletzt gesehen hatte: Alf Pennington. Sein Antiquariat lag an der North Gwinnett, nicht weit von der Kreuzung Kingsbane Walk, auf dem normalen Schulweg des Jungen, der Rainey Teague hieß.

Von der Regiopolis School nach Garrison Hills waren es ungefähr eineinhalb Kilometer, für die der Zehnjährige, der gern ein bisschen trödelte und sich die Zeit nahm, in sämtliche Schaufenster zu sehen, meist etwa fünfunddreißig Minuten brauchte.

Raineys Mutter Sylvia, eine im Grunde vernünftige, wenn auch vom Kampf gegen den Eierstockkrebs zermürbte Frau, hatte in der Küche des Hauses in Garrison Hills einen Snack für den Jungen bereitgestellt: ein Schinken-Käse-Sandwich und Pickles.

Sie saß an ihrem Computer und forschte in den Tiefen von ancestry.com, wobei ein Teil ihrer Aufmerksamkeit der Haustür galt, denn sie wartete wie jeden Tag darauf, dass Rainey hereingepoltert kam. Hin und wieder warf sie einen Blick auf die digitale Uhr in der Taskleiste.

Es war 15 Uhr 24, und sie stellte ihn sich vor, ihren Jungen, ihr spätes Kind, das sie, nach jahrelangen erfolglosen Versuchen mit künstlicher Befruchtung, aus dem Waisenhaus in Sallytown geholt und adoptiert hatte.

Blass und blond, mit großen braunen Augen und schlaksigem Gang – sie sah ihn, als säße sie in einem Hubschrauber, als wäre Niceville unter ihr ausgebreitet, von den dunstverhangenen braunen Belfair-Hügeln im Norden bis zum grünen Band des Tulip, der sich um den Fuß von Tallulah’s Wall wand, breiter wurde, abermals die Richtung änderte und durch das Zentrum der Stadt floss. Weit entfernt im Südosten konnte sie eben noch die flachen Küstenmarschen und dahinter das schimmernde Meer sehen.

Sie sah ihn in seiner Schuluniform, den blauen Blazer über die Schulter geworfen, mit offenem Hemdkragen und gelöster Krawatte, mit tief hängendem Harry-Potter-Rucksack und flatternden Schnürsenkeln: Er kam an den Bahnübergang zwischen Peachtree und Cemetery Hill – selbstverständlich blickte er in beide Richtungen –, und jetzt schlenderte er durch die steile Allee an der Felswand entlang, an deren Fuß der Friedhof für die konföderierten Gefallenen lag.

Rainey.

In ein paar Minuten würde er zu Hause sein.

Ihre langen, zarten Finger huschten über die Tastatur, als spielte sie Klavier. Das lange schwarze Haar hing über ihre Augen, und sie saß aufgerichtet und konzentriert da, die Füße sittsam gekreuzt, und kämpfte mit den Nebenwirkungen des Oxycodon, das sie gegen die Schmerzen eingenommen hatte.

Auf ancestry.com ging es um Ahnenforschung, und Sylvia hatte die Seite angesteuert, um ein Familienrätsel zu lösen, das sie seit geraumer Zeit beschäftigte. Im Zuge ihrer Nachforschungen hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die Antwort auf ihre Fragen irgendetwas mit einem Familientreffen zu tun haben musste, das 1910 auf Johnny Mullrynes Plantage bei Savannah stattgefunden hatte. Sylvia war entfernt verwandt mit den Mullrynes, die diese Plantage lange vor dem Bürgerkrieg gegründet hatten.

Später sagte sie zu dem Polizisten, der die Anzeige aufnahm, sie habe sich irgendwie in dieser Ahnenforschung verloren, ihr Zeitgefühl sei ihr abhandengekommen – eine der Nebenwirkungen des Oxycodon.

Als sie abermals auf die Uhr sah, diesmal mit leichter Besorgnis, war es 15 Uhr 55. Rainey hätte vor zehn Minuten zu Hause sein sollen.

Sie dachte ein wenig nach, schob den Stuhl zurück, ging durch den langen Flur zur Haustür mit ihrer Füllung aus Buntglas und dem Rundbogen aus handgeschnitztem Mahagoni und trat hinaus auf die breite, geflieste Terrasse, eine hochgewachsene, schlanke Frau in einem makellosen schwarzen Kleid, mit einer silbernen Halskette und Ballerinas aus rotem Lackleder. Sie verschränkte die Arme und beugte Kopf und Oberkörper nach links, in der Hoffnung, ihren Sohn auf der schattigen Eichenallee zu sehen.

Garrison Hills war eines der schönsten Viertel von Niceville, umspielt vom warmen Licht alten Geldes, einem Licht, das durch die Wipfel der Eichen und die grauen Fetzen von Spanischem Moos fiel, das die Rasenflächen leuchten und die Dächer der alten Villen an dieser Straße schimmern ließ.

Es war kein Junge zu sehen, der auf dem Bürgersteig dahinschlurfte. Es war überhaupt niemand zu sehen. So angestrengt sie auch Ausschau hielt – die Straße blieb leer.

Lange stand sie so da. Ihre leichte Besorgnis verwandelte sich erst in Verärgerung und nach weiteren drei Minuten in ernstere Sorge, aber noch nicht in Panik.

Sie ging wieder ins Haus, griff zu dem Telefon auf der antiken Anrichte neben dem Eingang und drückte die Schnellwahltaste 3. Sie hörte einen Rufton nach dem anderen, und mit jedem nahm ihre Sorge ein wenig zu. Nach dem fünfzehnten legte sie auf.

Sie drückte die »Beenden«-Taste und dann die Schnellwahltaste 4, um das Sekretariat der Regiopolis School anzurufen. Nach dem dritten Läuten meldete sich Father Casey, der ihr bestätigte, Rainey habe die Schule um zwei Minuten nach drei verlassen, zusammen mit dem üblichen Lemmingstrom aus lärmenden Jungen in grauen Hosen, weißen Hemden und blauen Blazern mit dem in Gold gestickten Schulwappen auf der Brusttasche.

Father Casey hörte sogleich die Dringlichkeit in ihrer Stimme und sagte, er werde zu Fuß Raineys Heimweg entlang der North Gwinnett bis zum Long Reach Boulevard gehen.

Sie tauschten die Handynummern aus, und dann nahm Sylvia die Wagenschlüssel, ging die Stufen zur Doppelgarage hinunter – ihr Mann Miles, ein Investmentbanker, war noch in seinem Büro in Cap City – und stieg in ihren roten Porsche Cayenne; Rot war ihre Lieblingsfarbe. Als sie durch die gepflasterte Einfahrt rückwärts auf die Straße setzte, war in ihrem Kopf nur weißes Rauschen, und ihre Brust war wie von Stacheldraht eingeschnürt.

Auf der North Gwinnett entdeckte sie Father Casey inmitten des Gewimmels dahinschlendernder Menschen, eine schwarz gekleidete Gestalt mit einem Priesterkragen, über eins achtzig groß und mit der Statur eines Footballspielers. Sein Gesicht war besorgt gerötet.

Sie hielt an und ließ das Fenster herunter. Sie berieten sich kurz. Wagen fuhren vorbei, Passanten sahen neugierig herüber: ein gutaussehender, etwas erhitzter junger Jesuit, der leise und eindringlich auf eine sehr hübsche Frau mittleren Alters in einem roten Cayenne einredete.

Am Ende dieser Besprechung stieß Father Casey sich vom Wagen ab und machte sich daran, jede Gasse und jeden Park zwischen der Schule und Garrison Hills abzusuchen. Sylvia Teague griff zu ihrem Handy, atmete tief durch, sprach in Gedanken ein Stoßgebet an den heiligen Christophorus und rief die Polizei an. Man sagte ihr, sie solle sich nicht von der Stelle rühren – man werde sofort einen Streifenwagen schicken.

Und so saß sie in dem nach Leder riechenden Cayenne und starrte hinaus auf den Verkehr entlang der North Gwinnett, sie versuchte, an nichts zu denken, während sich rings um sie her der Alltag von Niceville abspielte, einer verschlafenen Stadt in den Südstaaten, wo sie seit ihrer Geburt lebte.

Die Regiopolis School und dieser Teil der North Gwinnett lagen tief im grünen Herzen von Niceville. Es war ein altmodisches Stadtzentrum, fast durchgehend beschattet von großen, alten Eichen, deren dicke Äste durch zahllose Stromkabel miteinander verbunden waren.

Der Tulip floss breit und gewunden durch das Zentrum, seine glatte braune Oberfläche glitzerte im Sonnenlicht. Überall am Ufer blühten Magnolien und Bougainvilleen.

Die meisten Gebäude waren im Stil der Jahrhundertwende gebaut, aus roten Ziegeln und mit Messingverzierungen. Sie standen in breiten, schattigen, gepflasterten Alleen mit gusseisernen Straßenlaternen.

Marineblau und goldfarben lackiert, so schwer wie Panzer, rollten die Straßenbahnen am Cayenne vorbei und ließen das Lenkrad unter Sylvias Hand erbeben. Sie betrachtete das sanfte goldene Licht, den feinen Dunst aus Pollen und Flussnebel, der immer über der Stadt zu liegen schien: Er nahm den Kanten die Schärfe und verlieh Niceville das Aussehen und Lebensgefühl einer früheren, anmutigeren und würdevolleren Zeit. In einer so hübschen Stadt, sagte sie sich, konnte doch gar nichts Schlimmes passieren, oder?

Tatsächlich hatte Sylvia schon immer gefunden, dass Niceville eines der schönsten Städtchen im ganzen tiefen Süden hätte sein können, wenn es nicht aus irgendeinem unerfindlichen Grund im langen Schatten von Tallulah’s Wall erbaut worden wäre, einem riesigen Kalksteinfelsen, der den Nordostteil der Stadt überragte. Sie konnte ihn von dort, wo sie jetzt war, sehen: eine gelbe, mit Ranken und Moos bewachsene Wand, so hoch und breit, dass bestimmte Viertel im Osten der Stadt erst nachmittags von der Sonne beschienen wurden. Oben auf dem Felsen standen uralte Bäume um ein kreisrundes, mit kaltem schwarzem Wasser gefülltes Loch, von dem niemand wusste, wie tief es war.

Dieses Loch hieß Crater Sink.

Sylvia war einmal mit Rainey dort gewesen. Es hatte ein Picknickausflug sein sollen, aber die alten Fichten und Eichen waren voller flüsternder, knarzender Geräusche gewesen und hatten sich, wie es schien, über sie gebeugt, und das Wasser des Crater Sink war schwarz und still gewesen und hatte infolge irgendeiner optischen Täuschung nicht das winzigste Stück des blauen Himmels widergespiegelt.

Sie waren nicht lange geblieben.

Jetzt dachte sie wieder an Rainey, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit nicht aufgehört hatte, an ihn zu denken.

Vier Minuten...