Martin Buber: Der Weg des Herzens in der jüdischen Mystik

Martin Buber: Der Weg des Herzens in der jüdischen Mystik

von: Kenneth Paul Kramer

Crotona Verlag, 2020

ISBN: 9783861911982 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Martin Buber: Der Weg des Herzens in der jüdischen Mystik


 

EINLEITUNG

Bubers chassidische Spiritualität

Eines wolkenverhangenen Freitags um die Mittagszeit kam Virginia, eine Krankenschwester meines Pflegedienstes, die ich bisher noch nicht kannte, um die Druckgeschwürverbände an meinen Fußgelenken zu wechseln. Während der letzten beiden Monate hatte üblicherweise Linda jede Woche nach dem Verbandswechsel am Esstisch gesessen und ihren Computer mit Daten gefüttert. Das tat Virginia jetzt auch. Den Büchern in meinen Regalen und unserem Gespräch hatte sie entnommen, dass ich emeritierter Professor für Vergleichende Religionswissenschaften war und gerade ein Buch schrieb. Irgendwann sah sie auf und sagte: „Ich wurde katholisch erzogen, empfinde Religion heute aber als etwas Böses. Im Namen Gottes wird viel Unheil angerichtet.“

„Ja“, erwiderte ich, „leider trennen die institutionalisierten Religionen oft das Heilige vom Alltäglichen – das Heilige hierhin (in die Kirche, in den Gottesdienst, an besondere Orte oder in bestimmte Handlungen) und das Alltägliche dorthin (in die weltlichen Dinge, wo sich das Leben wirklich abspielt). Unter anderem deshalb schreibe ich dieses Buch, damit nämlich der religiöse Irrtum dieser Trennung zwischen dem Heiligen und dem Normalen überwunden werden kann.“

„Worum geht es in dem Buch?“, fragte sie mit spürbar wachsendem Interesse.

„Es geht um die chassidische Spiritualität in Bubers schmalem Klassiker Der Weg des Menschen. Es geht darum, wie wir auf Gottes Frage „Wo bist du in der Welt?“ antworten.“

„Ich habe keine Beziehung zu Gott“, erwiderte sie. „Ich habe verschiedenen Kirchen angehört und stand sogar eine Zeit lang in Verbindung mit einer religiösen Gemeinschaft, die den Franziskanern ähnelt. Aber es hat nie etwas genützt.“

„Das ist nur zu verständlich“, sagte ich. „Religiöse Lehren und Praktiken, Regeln und Vorschriften, machen eine Beziehung zu Gott oft noch schwieriger; sie stellen sich ihr förmlich entgegen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich nach fünfundzwanzig Jahren aus der Lehre und gleichzeitig vom praktizierenden Katholizismus zurückgezogen habe und nun dieses Buch schreiben will.“

„Und was sind Sie jetzt?“, fragte sie.

„Einfach ein Mensch. Ein gläubiger Mensch, der in ständiger Beziehung mit Gott lebt. Doch wenn ich Gott auch, geprägt durch meine frühkindliche religiöse Erziehung, als „Himmlischer Vater“ anbete, so weiß ich doch, dass Gott geschlechtslos und namenlos ist. Die Moslems haben es erfasst. Im Koran heißt es, Gott habe neunundneunzig Namen und Attribute, aber Gottes wahrer Name sei der hundertste. Und diesen Namen kennt niemand. Gerade weil Gott jenseits aller Namen, Beschreibungen, Definitionen oder Vorstellungen ist.“

„Was mich anbelangt“, erwiderte sie, „ich respektiere die Erde und versuche, hier und jetzt verantwortlich zu leben.“

„Da haben wir es. Hier ist Gott für Sie gegenwärtig. Gott ist für jeden Menschen einzigartig.“

„Hm …“

„Für mich ist es eine Glaubenszusage. Ich erlebe, dass ich zu einer dialogischen Partnerschaft mit dem namenlosen Ewigen Partner berufen bin, der auf ewig-einzigartige, ewig-überraschende Art und Weise offenbar wird.“

„Wo kann ich etwas über dieses Denken nachlesen?“, fragte sie. „In der Kirche habe ich so etwas nie gehört.“

„Ganz sicher können Sie dies zum Beispiel in den Geschichten und Lehren der Chassidim nachlesen …“

„Sie meinen die Fundamentalisten mit den Schläfenlocken?“, fragte sie erstaunt.

„Nein, die mittlerweile ausgestorbene mystische Bewegung in den osteuropäischen Volksgemeinden des 18. Jahrhunderts. Martin Buber hat ihre Geschichten gesammelt und nacherzählt; es sind Geschichten über die Heiligkeit des Alltags. Wenn man etwas über die Lehre der Chassidim lesen will, dann fängt man am besten mit Bubers schmalem Klassiker Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre an. Es sind sechs Vorträge, die Buber vor den Teilnehmern einer religiösen Tagung hielt. Es ist, als habe Buber sein Jackett ausgezogen, die Hemdsärmel aufgekrempelt und in einfacherer Sprache gesprochen, als er das sonst tut.“

Diese kurze Begegnung nehme ich hier mit auf, weil sie beispielhaft für viele Gespräche steht, die ich über die Bedeutung von Bubers chassidischer Spiritualität geführt habe. Doch bevor wir mit unserer Besprechung dieser Lehren beginnen, ist es gut, etwas über den Menschen Martin Buber zu erfahren. Wer ist er?

Warum Buber?

Warum ist es im 21. Jahrhundert noch wichtig, die Religionsphilosophie von Martin Buber zu studieren, der im letzten Jahrhundert schrieb? Buber ist ein jüdischer Religionsphilosoph und gilt als einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit Gandhi, Albert Schweitzer und Einstein. Der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld schlug ihn für den Literatur-Nobelpreis vor. Auch Hermann Hesse nominierte Buber für den Literatur-Nobelpreis mit der Begründung, er sei „einer der wenigen Weisen, die in der Welt von heute leben“, ein Schriftsteller von höchstem Rang, der die Weltliteratur mit seinen Erzählungen der Chassidim bereichert habe. Von seinem amerikanischen Biographen Maurice Friedman als eines der „Universalgenies unserer Zeit“ bezeichnet, zählt Buber zu den bedeutendsten Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts.20

Buber war ein außergewöhnlicher Mensch. Braucht man zum Verständnis seiner Schriften Kenntnisse in mindestens drei oder vier Sprachen (alten und modernen), so genügt zum Verständnis seines Wesens allein die Sprache der Menschlichkeit. Er war von innen heraus so voller Leben, dass von seinem Gesicht ein Strahlen ausging. Als Friedman Buber in einem New Yorker Hotel (wo Buber während seines Lehrauftrags am Jewish Theological Seminary wohnte) zum ersten Mal begegnete, begrüßte ihn Buber mit Handschlag und einem tiefen Blick in die Augen. Friedman verspürte unmittelbar, welch vollkommen „Anderer“ Buber anscheinend war. Seine Augen waren von einer Tiefe, Sanftheit und Direktheit, wie sie Friedman weder zuvor noch danach je wieder begegnet sind. 1961, ein Jahr nachdem Friedman vier Monate bei Buber in Jerusalem verbracht hatte, fragte er sich: „Was habe ich erlebt, als ich Buber in die Augen sah?“21 Friedman erkannte, dass Buber ihn wirklich einbezog und damit die Anforderung an ihn richtete, völlig gegenwärtig zu sein. Noch anschaulicher schreibt Bubers Freund Aubrey Hodes, Bubers Augen seien „grau, stolz, fest, zärtlich und nah“22 gewesen.

Was Buber von den meisten zeitgenössischen spirituellen Denkern abhebt, ist, dass er den „echten Dialog“ – die direkte, aufrichtige, spontane beidseitige Kommunikation – in den Mittelpunkt der Suche der Seele nach Gott gestellt hat. In diesem Licht bezeichnete Buber seine spirituelle Position in Beziehung zu anderen und zu Gott als ein Stehen auf dem unsicheren „schmalen Grat“ zwischen dem Heiligen und dem Alltag. Auf diesem schmalen Grat, „wo es keine Sicherheit aussprechbaren Wissens gibt“23, ereignet sich die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen.

In den letzten Jahren seines Lebens fragte ein Bibelgelehrter Buber, ob er seine Bibel-Übersetzung und seine Bibelforschung für die Quintessenz seines Lebenswerks halte. Buber erwiderte:

„Wenn ich selber etwas als ein „Kernstück meines Lebenswerkes“ bezeichnen soll, so kann es nichts Einzelnes sein, sondern nur die eine Grundeinsicht, die mich sowohl zum Studium der Bibel als auch zu dem des Chassidismus, aber auch zu einer selbstständigen philosophischen Darlegung geführt hat: Dass die Ich-Du-Beziehung zu Gott und die Ich-Du-Beziehung zu den Menschen zutiefst aufeinander bezogen sind. Dieses Aufeinanderbezogensein ist … das Kernstück der dialogischen Realität, die sich mir immer mehr enthüllt hat.“24

Wenn Buber angesichts der breit gefächerten Thematik seines Denkens (er schrieb und sprach über Taoismus, Chassidismus, Mystik, Dialog, Erziehung, Psychotherapie, Ethik, Religion, Judentum, Christentum und mehr) und im Licht all seiner Preise, Ehrungen und Errungenschaften sagt, dass eine Grundeinsicht ihn bei seiner gesamten Arbeit stets geführt hat, dann sollten wir selbstverständlich sehr aufmerksam darauf achten, was diese Einsicht war.

Bubers Grundeinsicht lautet, dass Gottes ewig-neue, ewig-liebevolle Gegenwart uns im Leben erscheint. Buber bezeichnete das echte, rückhaltlose Gespräch als einen sakramentalen Akt, der den Bund zwischen den Menschen und dem Absoluten, zwischen dem menschlichen „Ich“ und dem göttlichen „Du“ verkörpert und zum Ausdruck bringt. Das echte Gespräch ereignet sich für Buber auf dem „schmalen Grat“ zwischen absoluten Wahrheiten, zwischen den Dualismen von Leben und Tod, Gut und Böse, Gott und der Welt. Buber sagte einmal:

„Ich akzeptiere keine absoluten Formeln für das Leben. … Keine vorgefasste Chiffre kann alles vorhersehen, was im Leben eines Menschen geschehen kann. Wie wir leben, wachsen wir, und unsere Überzeugungen ändern sich. Sie müssen sich ändern. Deshalb denke ich, dass wir mit dieser konstanten Entdeckung leben sollten. Wir sollten im vermehrten Gewahrsein des Lebens offen sein für dieses Abenteuer. Wir sollten unsere ganze Existenz einsetzen für unsere Bereitschaft zu forschen und zu erleben.“25

Dort, auf dem schmalen Grat, können wir, sofern wir uns nur auf das Zuhören einstimmen, in jedem echten Gespräch drei, nicht nur zwei Stimmen hören: Meine, deine und die Stimme der Beziehung.

Buber bezeichnete seinen dialogischen Glauben als...