Wir sind der Kosmos: Die Grundlagen eines neuen Welt- und Menschenbildes - Jüdische Mystik und moderne Psychologie

Wir sind der Kosmos: Die Grundlagen eines neuen Welt- und Menschenbildes - Jüdische Mystik und moderne Psychologie

von: Edward Hoffmann

Crotona Verlag, 2020

ISBN: 9783861911876 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Wir sind der Kosmos: Die Grundlagen eines neuen Welt- und Menschenbildes - Jüdische Mystik und moderne Psychologie


 

KAPITEL EINS

Jüdische Mystiker: Sucher der Einheit

Der Jude hat den Vorteil, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins in seiner Geistesgeschichte vorweggenommen zu haben. Ich meine damit die … Kabbala.

Carl Gustav Jung

Wo die Philosophie endet, dort beginnt die Weisheit der Kabbala.

Rabbi Nachman von Bratzlaw

Der Begriff „Kabbala“ geht auf das Mittelalter zurück und kommt von der hebräischen Wortwurzel für „empfangen“. Die Kabbala enthält ein umfassendes, detailliertes und schlüssiges Bild unserer Beziehung zur Welt. Metaphysische Abhandlungen von ungeheurer Kraft werden mit besonderen Methoden kombiniert, mit deren Hilfe wir über unsere alltägliche weltliche Geisteshaltung hinausgelangen können. Ihr eigentlicher Ursprung ist jedoch in den Ruinen des Altertums verloren gegangen, denn es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass das Judentum schon seit seinen ersten Anfängen vor etwa viertausend Jahren eine esoterische Seite besessen hat. Zuweilen sank dieser Zugang zum Göttlichen tief in den Untergrund des jüdischen Bewusstseins und übte seine Kraft auf verborgene, kaum erkennbare Weise aus. Zu anderen Zeiten in der jüdischen Geschichte gelangte sie zu voller Blüte und zog praktisch ganze Generationen in ihren Bann.

Historiker bezeichnen die erste Phase dieser schriftlich fixierten Disziplin im Allgemeinen als die Merkaba- oder „Wagen“-Epoche. Sie umspannte die Zeit vom 1. Jahrhundert v.u.Z. bis zum 10. Jahrhundert u.Z. und hatte ihr Zentrum im nacheinander von verschiedenen Weltmächten beherrschten Palästina. Obwohl diese Tradition über einen langen Zeitraum andauerte, handelte es sich dabei um einen mehr oder weniger geschlossenen Wissensfundus, zusammengehalten von einem integrierten Bestand an Lehren und Techniken bezüglich höherer Bewusstseinszustände. Die Merkaba-Mystik wurde von einigen der angesehensten Rabbiner ihrer Zeit entwickelt und gilt als der unmittelbare Vorläufer der später entstehenden eigentlichen Kabbala.

Die Quellen deuten darauf hin, dass die Anhänger dieses Systems in ihren Studien vorwiegend zwei Richtungen folgten: Ma’asse Bereschith (das Werk der Schöpfung) und Ma’asse Merkaba (das Werk des Göttlichen Wagens). Ersteres war eher theoretisch und befasste sich mit der Erschaffung der Welt sowie den ersten göttlichen Offenbarungen. Das Ma’asse Merkaba basiert auf der Beschreibung des Himmelswagens durch den Propheten Hesekiel und ist ein Erkunden unserer Verbindung zur Gottheit. Beide Wege waren geheimnisumwittert, blieben im Verborgenen und wurden nur den frommsten Juden ihrer Zeit zugänglich gemacht. Viele große Weise, die an der Erstellung des Talmud arbeiteten (der wichtigen Schrift, die das jüdische Gesetz, Kommentar und Bibelexegese enthält und um das Jahr 500 u.Z. fertiggestellt wurde), kannten diese geheime Überlieferung, auch wenn nicht alle geneigt waren, sie zu praktizieren. Denn selbst damals warnten die Eingeweihten vor den sehr konkreten Gefahren für Körper und Geist, die jene erwarteten, die zu schnell in diesen metaphorischen Garten vordrangen, so aufrichtig ihre Ziele auch sein mochten.

Die archetypische Legende, mit der dies unterstrichen werden sollte, erzählt, vier große jüdische Weise – Ben Azai, Ben Zoma, Ben Abuja und Rabbi Akiba – hätten diesen Weg bis an sein äußerstes Ende verfolgt. Von den vier Männern – alle hoch angesehene Gelehrte zur Zeit der zweiten Zerstörung des Jerusalemer Tempels, im 1. Jahrhundert u.Z. – ging nur Rabbi Akiba unbeschadet aus der Erfahrung hervor. Die übrigen erwarteten Tod, Wahnsinn oder der Abfall vom Glauben. Um zu verhindern, dass andere ein ähnliches Schicksal ereilte, gaben die Adepten die Lehren weitgehend nur mündlich sowie vom Meister an auserwählte Schüler weiter. Als die Inhalte schließlich in schriftlicher Form zugänglich gemacht wurden, waren diese für die Masse der Juden praktisch immer verboten. Diese Haltung wahrt das Rabbinat bis zum heutigen Tag.

Die Eingeweihten der visionären Tradition nannten sich die Jorde Merkaba („die in den Wagen Hinabsteigenden“), weil sie immer tiefer in die verborgenen Winkel ihres Bewusstseins hinabstiegen. In den tiefsten Welten der Meditation, so hieß es, liege der ätherische Wagen verborgen und warte darauf, den Schüler durch alle Bewusstseinsebenen zu erheben, bis Hesekiels himmlisches Bild geschaut würde. In den Hechaloth-Traktaten (Hechaloth = Himmlische Hallen) kartierten die Meister dieses Systems nach Art erfahrener Kartographen das schwierige innere Gelände, das die Schüler auf ihrer Suche durchqueren mussten. Sie schilderten, welche Anblicke und Empfindungen den Eingeweihten erwarteten. Zum Beispiel hieß es, die sechste Himmelsebene ähnele einer endlosen grellen Spiegelung wie von Meereswellen. Bei jedem weiteren Schritt nach innen seien verwirrendere, ja sogar erschreckendere Visionen zu erwarten, so ihre Schilderung. In einem typisch symbolischen Fragment aus dem 4. oder 5. Jahrhundert u.Z. bemerkt dessen anonymer Verfasser: „Von Machon bis Arabot ist es eine fünfhundert Jahre lange Reise. … Was ist darinnen? Das Schatzhaus des Sehens, der Speicher des Schnees, der Speicher des Friedens, die Seelen der Gerechten und die Seelen der noch Ungeborenen, die entsetzlichen Strafen, die den Frevlern vorbehalten sind.“1

Doch die Weisen betonten auch, letztendlich seien solche Bilder dem Bewusstsein des Schülers unterstellt. Deshalb rieten dieselben Schriften dem Praktizierenden auch, sich von den Erscheinungen nicht überwältigen zu lassen. Wenn er durch die vorangegangenen Übungen ausreichend vorbereitet sei, werde er zur rechten Zeit die richtigen Worte sprechen und damit die Visionen bannen können, die seine Seele zerschmetterten, erklärten die Weisen. Typischerweise wurde der Eingeweihte durch Fasten, besondere Atemübungen und rhythmische Gesänge in einen veränderten Bewusstseinszustand versetzt. Interessanterweise gibt es auffallende Parallelen zwischen dieser Herangehensweise an ein höheres Bewusstsein und der etlicher anderer spiritueller Traditionen. So werden zum Beispiel auch im Tibetischen Buddhismus die Schüler ermahnt, „die Visionen der Gottheiten im Bardo“ [nicht-körperlichen Zustand] seien „die Widerspiegelung spiritueller Prozesse und Erfahrungen aus diesem Leben“.2

Die zweite große esoterische Strömung im Judentum zu jener Zeit war spekulativer und konzentrierte sich auf den Aufbau des Kosmos sowie unsere Verbindung dazu. Die wichtigste Schrift war das Sefer Jezira (Buch der Schöpfung), von dem man glaubte, es sei das erste schriftlich verfasste jüdisch-metaphysische Werk. Es wurde anonym im 3. und 6. Jahrhundert verfasst, um jene Zeit also, in welcher der Talmud seine endgültige Form erhielt. Trotz seiner ungeheuren Wirkung ist das Sefer Jezira recht kurz; es umfasst in jeder Ausgabe weniger als zweitausend Wörter. Es ist keine ekstatische oder meditative Abhandlung, sondern bietet – im Format einer kurzen Zusammenfassung – eine knappe, aber atmosphärisch dichte Beschreibung der verborgenen Mechanismen der Welt.

Im Buch der Schöpfung werden zweiunddreißig geheime Wege zur Gottheit besprochen (eine Anzahl, die interessanterweise exakt der Hälfte der vierundsechzig kosmischen Situationen entspricht, die das asiatische I Ging oder Buch der Wandlungen kennt). Diese Kanäle werden durch die zehn sogenannten Urzahlen – die Sefirot oder Energie-Essenzen – sowie die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets symbolisiert. Alle Aspekte des Kosmos, auch die Natur von Raum und Zeit sowie unser Zusammenwirken damit, werden durch das konstante Wechselspiel dieser Schwingungskräfte aufrechterhalten, so heißt es. Die Vorstellung von den zehn Sefirot wurde zur Grundlage der späteren Kabbala, die diese Auffassung zu einem unter der Bezeichnung Baum des Lebens bekannten formellen System weiterentwickelt hat.

Mit seinem präzisen und deduktiven Stil stieß das Sefer Jezira seit seiner ersten Verbreitung bei jüdischen Visionären auf großes Interesse. Es bildete die Grundlage für die spätere kabbalistische Erforschung unseres Aufbaus als einer Energiematrix sowie unserer Beziehung zu den Energien in der Welt um uns. Im Laufe der Jahre wurden viele Kommentare zum Sefer Jezira verbreitet, und es war vielleicht das meiststudierte jüdisch-esoterische Werk vor Erscheinen des Sohar (Buch des Glanzes) im 13. Jahrhundert in Spanien.

In dieser Zeit beantworteten die Themen des Buches der Schöpfung und der Merkaba-Schule die zentralen Fragen der Juden, die nach höherem Wissen strebten. Über das Leben oder auch nur die Beweggründe ihrer Anhänger weiß man wenig. Sicher waren sie größtenteils rabbinische Gelehrte, die eine Sehnsucht nach etwas verspürten, das sie in den Gesetzen des Talmud und in den üblichen Disputen über die Bibel nicht finden konnten. Sie selbst betrachteten sich als Anhänger einer erhabenen Tradition, die sie auf die Propheten und sogar auf Abraham, den angeblichen Verfasser des Sefer Jezira, zurückführten. Den Autoren dieser Schriften ging es weitaus mehr darum, ihre Botschaft zu verbreiten, als Ruhm zu erlangen; daher existieren nur äußerst vage Mutmaßungen darüber, wer diese Dokumente tatsächlich erstellt hat. Zu dieser Zeit spielten außerdem sowohl die Lehren islamischer Sufis als auch die christlicher Mystiker mit hinein; so ähnelt zum Beispiel das klassische jüdische Werk Lehrbuch der Herzenspflichten, von Bachja ben Josef Ibn Pakuda aus dem 11. Jahrhundert, sehr stark Schriften von Sufis aus jener Zeit.

Mit dem Erscheinen des anonym verfassten Sefer Bahir (Buch des hellen Leuchtens) um 1175...