Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino - Vom tiefsten Punkt meines Lebens auf den höchsten Berg der Welt

Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino - Vom tiefsten Punkt meines Lebens auf den höchsten Berg der Welt

von: Heidi Sand, Kristin Koopmann

kurz & bündig Verlag, 2020

ISBN: 9783907126325 , 128 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 13,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino - Vom tiefsten Punkt meines Lebens auf den höchsten Berg der Welt


 

Willkommen auf meiner Reise

Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe und drei Kindern war ich der Meinung, ich wüsste, was Geduld ist. Ich musste auf 5 300 Meter steigen, um eines Besseren belehrt zu werden.

Da sitze ich nun mit Hunderten anderen Bergsteigern in dieser Zeltstadt auf Geröll, das ultimative Ziel buchstäblich direkt vor Augen, und doch ist alles, was ich gerade machen kann, rumsitzen und Tee trinken. Immerhin ist er warm. Aber da kribbelt es schon im Hintern. Ich bin schließlich nicht hier, um mich auszuruhen. Ich will auf den höchsten Punkt der Welt, auf das Dach der Welt, nach ganz oben. Es ist ein ambitioniertes Ziel. Eines, das nur wenige Menschen bisher erreicht haben. Nicht jeder schafft es. Einige bleiben für immer oben. Ich möchte zu keiner dieser beiden Gruppen gehören.

Hier im Basislager stehe ich am Anfang der Everest-Reise, stecke aber mittendrin in einer ganz anderen. Meiner persönlichen Reise. Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier. Jeder ist das. Einige wollen hoch, weil er der höchste Berg der Welt ist. Einige, um es sich zu beweisen. Einige, um es abzuhaken, weil sie eben schon am Nordpol oder auf einigen anderen Gipfeln waren und der Everest noch fehlt. Angeblich soll George Mallory, einer der Wegbereiter des Bergsteigens, auf die Frage, warum er auf den Gipfel des Everest will, geantwortet haben: «Weil er da ist.» Auch das ist sicher ein guter
Grund.

Ich bin hier, weil mir der Gedanke, dass ich eines Tages den Everest besteigen könnte, vor achtzehn Monaten neuen Lebensmut gegeben hat. Damals steckte ich mitten in einer langwierigen Chemotherapie und brauchte dringend ein Ziel, auf das ich hinarbeiten konnte. Eine Belohnung. Irgendetwas, was mir den Alltag und die Behandlung erträglicher machen konnte. Ich erinnere mich sehr genau an den Moment im Oktober 2010, nach der sechsten von insgesamt zehn Behandlungen. Bis dahin hatte ich die Chemo gut weggesteckt, aber nun saß ich vollkommen erschöpft und niedergeschlagen auf dem Balkon unserer Hütte in Grindelwald mit einer Tasse Tee in der einen und dem Buch Die weiße Spinne in der anderen Hand. Der österreichische Alpinist Heinrich Harrer schreibt darin über den Reiz und die Gefahren der Eiger-Nordwand, jener Gebirgsflanke, auf die ich gerade einen wunderschönen Blick hatte. Und in diesem Moment formte sich tief in meinem Unterbewusstsein dieser Gedanke. Der Gedanke, dass ich auf etwas hinarbeiten musste, der Krankheit Darmkrebs zeigen musste, dass sie mich nicht kleinkriegen würde. Ich musste mich wehren und dieses passive Gefühl der Kraftlosigkeit und Wehrlosigkeit loswerden. Ich musste aufstehen und aktiv werden. Im wahrsten Sinne weitergehen.

Zu sagen, die Krebsdiagnose sei damals überraschend
gekommen, wäre untertrieben. Meine erste Reaktion war, den Arzt zu bitten, die richtige Krankenakte zu konsultieren. Ich war 43 Jahre alt, meiner Meinung nach topfit und kerngesund. Also informierte ich den Arzt, dass ich in drei Wochen an einem Ultramarathon teilnehmen werde. Er gab mir den freundlichen Rat, den Lauf vielleicht abzusagen und stattdessen gesund zu werden. Daran habe ich mich gehalten. Was ich jetzt gerade in fünf Wörtern zusammengefasst habe, war aber nicht einfach. Eine Chemo ist das nie. Keine Krise ist das. Sie ist eine Reise mit vielen Hindernissen. Eine, die viele Parallelen zum Bergsteigen hat. Man sieht in der Ferne den Gipfel, das Ziel, und man rennt los. Aber der Weg geht nicht immer aufwärts, manchmal muss man durch ein Tal oder über eine Gletscherspalte, manchmal rutscht man ab und kann sich gerade noch halten. Ich stürzte nach der sechsten Chemo ab. Ich brauchte ein neues Ziel. Auf dem Balkon in Grindelwald fasste ich es in Worte: Um meinen persönlichen Everest zu bezwingen, setzte ich mir das Ziel, den wirklichen Everest zu besteigen.

Als ich ein paar Tage später aus Grindelwald nach Hause zurückgekehrt war, nahm ich ein Buch der österreichischen Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner in die Hände, der dritten Frau, die alle Achttausender bestiegen hatte, und las über ihre Everest-Besteigung. Bedingt durch die Behandlung, schlief ich beim Lesen mehrmals ein, aber zu diesem Zeitpunkt war der Gedanke in meinem Kopf und das große Ziel längst formuliert. Nun musste ich es nur noch meiner Familie sagen.

Ein derart konkretes Ziel, einen innigen Wunsch vor Augen zu haben, veränderte alles für mich. Zum Positiven. Es ging nicht mehr um die Chemo und die Krankheit, sondern um etwas Größeres. Ich lebte nicht mehr von Behandlung zu Behandlung, sondern für ein Datum in der Zukunft, in der alles gut wäre. Ich lebte für den Moment, in dem ich geheilt wäre und das machen würde, was mir Energie gibt. Diese Einstellung hat mir zusätzliche Kraft gegeben und die dringend benötigte Ablenkung. Die Therapien sind zeitaufwendig, man hat sehr viel Zeit zum Nachdenken. Das ist nicht immer gut.

In den ersten Wochen und Monaten nach der Diagnose habe ich diese Zeit damit verbracht, mein Leben neu zu formulieren, ihm eine neue Wende zu geben. Ich fragte mich, was ich noch erreichen wollte. Und im selben Moment wog ich den schlimmsten anzunehmenden Fall ab. Für meine Kinder und meinen Mann wäre eine Welt zusammengebrochen, wenn wir für immer hätten Abschied nehmen müssen. Aus meiner Sicht war ich mehr als eine Mutter, zwischen meinen Kindern und mir herrschte – und das ist immer noch so – ein ganz enges Vertrauensverhältnis. Und ich hörte die Stimme in meinem Kopf, die sagte, das kann es doch nicht gewesen sein. Ich muss mir noch Zeit erkämpfen. Mit einem Ziel vor Augen änderten sich auch meine Gedanken. Ich nutzte die Chemotherapie, um mich mental auf dieses Ziel vorzubereiten. Statt über die Krankheit nachzudenken, fokussierte ich mich auf das, was danach kommen sollte. Ich las und las und las. Alles, was ich über den Everest erfahren konnte, sog ich auf. Und schöpfte daraus unendlich viel Kraft.

Warum ausgerechnet der Everest, fragen Sie? Hätte es nicht auch eine Nummer kleiner sein können? Sicher, wenn es darum geht, ein Ziel zu wählen, das einen aus einer Krise befreit, hat jeder eine andere Idee. Manche gehen auf Weltreise oder laufen einen Marathon. Meine war eben der Everest. Das klingt vielleicht nicht mehr ganz so verrückt, wenn man weiß, dass ich aus einer Bergsteigerfamilie komme. Meine Eltern haben meine Geschwister und mich schon früh mit in die Berge genommen. Mein Vater verbrachte viel Zeit in den Bergen und kam in meiner Erinnerung immer glücklich und in sich ruhend zurück. Diese Beziehung zu den Bergen, dieses Gen, habe ich geerbt. Wenn ich auf einen Berg steige, gibt er mir Energie
zurück.

Obwohl die Krebsdiagnose im Sommer 2010 vermutlich der Auslöser war, so war doch ein Marathon in Barcelona 2003 der Moment, an dem die Reise im Grunde begann. Meine drei Kinder waren damals schon sehr selbstständig und brauchten mich nicht mehr 24 Stunden am Tag um sich herum, und somit konnte ich mich vermehrt auf andere Dinge konzentrieren. Ich konnte öfter in und auf die Berge, und durch das Training für den Marathon wurde ich so fit, dass ich diese Bergtrips noch mehr genießen konnte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Ich stieg auf den Mont Blanc und fuhr in Kirgistan mit dem Ex­tremskifahrer Flory Kern und seiner Truppe Ski, und von jeder Tour kam ich mit drei bis fünf neuen Ideen zurück. Kurz vor meiner Diagnose war ich auf dem Mount Denali (früher: Mount McKinley) in Alaska, einem 6 190 Meter hohen Berg, der mich geradezu verzauberte. Hier steigt man ohne Träger auf und zieht sein gesamtes Material auf einem Schlitten hinterher. Es war ein besonderes Erlebnis. Schon wegen des wirklich einzigartigen Klos im Camp 3. Aber es war nicht der Moment, an dem ich beschloss, dass ich den nächsten Schritt wagen müsste. Der Everest stand nie wirklich zur Debatte. Nach der erfolgreichen Besteigung des Mount Denali flog ich nach Hause zurück und wurde von meinem jüngsten Sohn Henrik gleich wieder in den Alltag zurückgeholt, als er mich mit den Worten begrüßte: «Ich freu mich so sehr, dass du wieder da bist, ich habe dich echt vermisst.» – und im nächsten Atemzug: «Übrigens Mama, ich habe überhaupt keine frische Wäsche mehr im Schrank.» Ich musste schmunzeln.

Das war auch der Moment, in dem ich meine Bauchschmerzen nicht mehr ignorieren konnte. Sie hatten auf dem Mount Denali angefangen, aber ich hatte sie als Muskelzerrung abgetan. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland stand der Abiball meines ältesten Sohnes Paul vor der Tür, außerdem hatte ich mich für den schon erwähnten Ultramarathon in Davos angemeldet. Zeit, zum Arzt zu gehen, hatte ich eigentlich nicht. Ich bin auch niemand, der wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt rennt. Und zu diesem Zeitpunkt war ich ziemlich überzeugt davon, dass es sich um eine Kleinigkeit handeln würde. Ich nahm ein paar Schmerztabletten, trank Kamillentee und machte mit meinem Training weiter. Aber mit dem Krebs ist es dann wohl doch wie mit dem Wetter am Berg: So sehr du auch alles planst und vorbereitest, am Ende hast du nur zu einem sehr begrenzten Grad die Zügel in der Hand. Am Montag nach dem Abiball meines Sohnes ging ich schließlich heimlich zum Arzt. Was dabei herauskam, konnte ich meiner Familie nicht mehr verschweigen. Noch am selben Tag machte man eine Darmspiegelung. Die Diagnose: Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Ich unterzog mich einer Notoperation, um den Tumor entfernen zu lassen. Ich willigte ein, eine Chemotherapie zu absolvieren. Den Ultramarathon, der drei Wochen später stattfand, sagte ich ab, aber teilgenommen habe ich irgendwie doch – zumindest symbolisch. Bei Kilometer...