Was mich umtreibt - Tod, Freiheit, Ich ...

von: Galen Strawson

Verlag Freies Geistesleben, 2019

ISBN: 9783772544163 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 23,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Was mich umtreibt - Tod, Freiheit, Ich ...


 

Einleitung


Manche Menschen bekommen schon sehr früh einen Begriff von Unendlichkeit. Vor allem bei kleinen Kindern mit einer Vorliebe für Zahlen ist dies durchaus nicht ungewöhnlich – erst kürzlich konnte ich das bei einem meiner Enkel beobachten. Ein Leben lang bleibt die Unendlichkeit verstörend für uns Menschen, insbesondere, wenn sie als Ewigkeit verstanden wird und, was unweigerlich geschieht, zum Gedanken an den Tod weiterführt. Doch gerade als Kinder trifft uns diese Erkenntnis mit großer Wucht, wie ich aus eigenem Erleben bestätigen kann. Obwohl es keinen Todesfall in meiner Familie gegeben hatte und meine Freundin aus Kindertagen (mit fünf Jahren hatten wir uns «verlobt») auch erst sehr viel später durch einen tragischen Unfall ums Leben kommen sollte, hatte ich seit meinem vierten Lebensjahr panische Angst vor dem Tod. Als ich mit 22 Monaten ganze drei Tage ohne Besuchserlaubnis meiner Familie im Krankenhaus verbringen musste, kam mir dies schier unendlich vor. (Es half auch nichts, dass man mir sagte, dass meine Eltern sonst ernstlich erkranken könnten.) Das areligiöse Umfeld, in dem ich aufwuchs, war für eine Bewältigung dieser Angst auch nicht gerade zuträglich. Am schlimmsten jedoch litt ich in meiner Kindheit unter dem Umstand, dass ich kaum schlafen konnte – zum einen, weil ich ein ungemütliches Armeebett im Dachzimmer eines großen, kalten Hauses mein Eigen nannte, vor dessen Tür sich obendrein ein feuerverzinktes Ungetüm von einem Wassertank befand, zum anderen, weil alle Übrigen weit weg waren. Mein Bruder und meine Schwester schliefen in dem Stockwerk unter mir und meine Eltern sogar zwei Treppenfluchten (21 Stufen und noch einmal 16 Stufen) tiefer. So lag ich Nacht für Nacht allein in der Dunkelheit wach und dachte über den Tod nach, über die zukünftige ewig währende Nicht-Existenz meiner selbst, und noch viel schlimmer, meiner gesamten Familie. (Auf S. 93 werde ich kurz darauf eingehen.) Sehr viel später habe ich während einer kurzen Psychotherapie meinem Therapeuten gegenüber geäußert, ich sei «mit dem Tod aufgewachsen», was etwas melodramatisch klingt, aber in gewisser Weise durchaus zutrifft. Bis ins junge Erwachsenenalter hinein beschäftigte mich das Thema Tod nachhaltig. Der Friedhof St. Giles lag nur ein paar hundert Meter von unserem Haus in Oxford entfernt. Und obwohl ich ja wusste, dass es für die unendliche Dauer des Totseins, also der Nicht-Existenz, keinen Unterschied macht, beunruhigte es mich stark, dass auf dem Friedhof offensichtlich kein Platz mehr war. Ich wünschte mir, wenn es schon für eine so lange Zeit sein müsste, wenigstens an einem Ort gemeinsam mit meiner Familie begraben zu sein.

Wie vielleicht alle Kinder, sehnte ich mir, als ich noch sehr klein war, eine gute Fee herbei, die mir jedweden Wunsch erfüllen könnte. Ich wusste bereits aus den mir bekannten Märchen, dass es wohl wenig klug wäre, alle meine zukünftigen Wünsche von dieser Fee erfüllen zu lassen, denn wenn sich etwas rächt, dann Habgier. So wünschte ich mir also ausschließlich, endlich schlafen zu können, wann immer ich wollte – auch wenn es noch so verlockend erschien, sich eine Süßigkeiten-Maschine herbeizaubern zu lassen.

Eine kindliche Fixierung auf den Tod ist zwar eine Besonderheit, ungefähr so, wie als Linkshänder oder mit roten Haaren geboren zu werden, aber nicht unbedingt außergewöhnlich, wie ich 1974 herausfinden sollte, als mir das Buch The Discovery of Death in Childhood and After von Sylvia Anthony in die Hände fiel. Bereits Dreijährige können sich des Todes sehr bewusst sein. In den späten Siebzigerjahren, meine Tochter war ungefähr drei, hatte einer ihrer Spielkameraden mit starken Todesgedanken zu kämpfen. Im Gegensatz zu mir war er jedoch in der Lage, seinen Ängsten offen Ausdruck zu geben. Wurde die Angst des Nachts zu groß, schrie ich manchmal. Kamen dann meine Eltern zu mir, was durchaus nicht immer der Fall war und lang anhaltendes Weinen erforderte, behielt ich alles für mich und erfand schnell einen Albtraum, in dem ich von Wölfen verfolgt wurde. Ein Grund dafür, dass ich meinen Eltern die Gedanken über Tod und Ewigkeit nicht anvertrauen konnte, war sicherlich, dass ich tief im Innern bereits wusste, dass ich richtig lag, und dies nicht auch noch aus ihrem Mund bestätigt wissen wollte. Vergeblich versuchte ich dann, die Ritterfiguren von meiner Zimmertapete zu meiner Verteidigung einzusetzen – auch sie waren nicht gegen die Ewigkeit gewappnet. Immer wieder erfand ich eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der mit seiner Mutter in einem rot-weiß gepunkteten Fliegenpilz wohnte, nur um meine Gedanken vom Tod abzulenken. An viel erinnere ich mich nicht mehr, aber meine Einbildungskraft reichte nie lang genug aus, um alles Düstere aus meinen Gedanken zu verbannen.

Der Tod war also eines der ersten Themen (und damit meine ich die eigentlichen, großen Themen, Fragen «kosmischer Ordnung», nicht Dinge wie die Größe meiner Ohren oder die Gepäckausgabe in Heathrow), die mich nachhaltig beschäftigten, und doch nimmt er in diesem Buch nur einen marginalen Platz ein. Seither bin ich mein Leben lang ein Mensch geblieben, der von Besorgnis umgetrieben wurde, und damit bin ich nicht allein. Wir alle sind im «kosmischen Sinne» verstört, sobald wir uns nicht ausschließlich darum kümmern müssen, zu überleben, es warm zu haben oder uns zu ernähren, wie es leider viel zu vielen Menschen auf dieser Welt ergeht. Natürlich sind einige Menschen in höherem Maße besorgt als andere, aber dies kann allein der Tatsache geschuldet sein, dass wir mehr Zeit dazu haben, uns Gedanken zu machen. Vielleicht haben wir nur deshalb mehr Zeit, weil wir «Schlaflose» sind. Besäße ich ein magisches, unfehlbares Instrument zum Messen meiner Betroffenheit, einen «Sorgometer», ich läge bestimmt oberhalb der 85 Prozent – wie weit darüber, vermag ich nicht zu sagen –, und doch mäße dieser «Sorgometer» nur die bewussten, offen zutage tretenden Ängste.

Die hier zusammengestellten Texte beschäftigen sich mit der Freiheit des Willens, dem Bewusstsein, dem Tod, aber auch damit, was es bedeutet, als Philosoph ein wahrhafter «Naturalist» zu sein, einer, der an nichts Übernatürliches glaubt. Sie handeln von der Idee des Ichs, dem Bewusstsein, ein Selbst zu sein oder eines zu besitzen; von diesem Selbst in der Zeit, vom Narrativen im Leben und en passant von menschlicher Leichtgläubigkeit ohne Grenzen. Bei den Kapiteln, welche das «Narrative», also das «Erzählerische» abhandeln («Ein Irrtum unserer Zeit» und «Das ungeschichtliche Leben») schwingt etwas Polemik mit, denn ich schrieb sie gegen den anscheinend allgemein verbreiteten Konsens, dass jeder, der sein Leben in irgendeiner Form «anpasst», notwendigerweise auch ein «narratives» Leben führt. Meines Erachtens liegt dieser Sicht eine schwerwiegende, ja sogar schädliche Fehleinschätzung zugrunde. Es berührt mich immer noch zutiefst, wie viel Dankbarkeit mir im Laufe der Jahre dafür entgegengebracht wurde, dass ich dem meine eigene Position entgegengesetzt habe. All jene Menschen bestätigten mir, dass sie sich immer irgendwie «falsch» gefühlt hätten, nicht in der allgemein anerkannten «narrativen» Art zu leben. Ihr Echo macht all die Feindseligkeiten wett, die ich durch Verfechter des «Pro-Narrativen» erfahren musste. (Was bedeutet es überhaupt, «narrativ» zu leben? Ich weiß es bis heute nicht, und ich glaube, ich kann auch keinen besseren Erklärungsversuch unternehmen als auf den Seiten 255f.)

Vor rund zehn Jahren, kam es mir in den Sinn, dass meine «nicht-narrative» Sicht des Lebens (wie auf den Seiten 65-68 erläutert) in der 1995 begonnenen Einnahme des Antidepressivums Fluoxetin begründet liegen könnte. Zumindest könnte dies jemand mutmaßen, der nicht daran glaubt, dass ein Mensch von Natur aus überhaupt in der Lage ist, eine «ungeschichtliche» Sicht auf das Leben zu haben. Zu keinem Zeitpunkt war ich selbst jedoch von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt, denn ich kannte zahlreiche Personen, die trotz der Einnahme von Fluoxetin eine stark narrative Sichtweise beibehielten. Einige Jahre später stieß ich auf einen Tagebucheintrag aus dem Juli 1994, einer Zeit, lange bevor ich mich mit diesem Thema befasst hatte: «Nichts Narratives, keinerlei Entwicklung in meinem Leben. Es scheint mir, mein Leben habe keine weitere Ausdehnung als über den jeweiligen Moment hinaus – dass ich eine Person bin, die von einem Tag zum anderen fortbesteht. Zum Teil traf dies wohl schon immer zu, es hat sich allerdings in letzter Zeit gravierend verstärkt. Was den einzelnen Tag überdauert und ihn mit dem folgenden verbindet, sind Probleme oder noch zu erledigende Dinge. Sie halten mein Leben zusammen. Ich besitze nicht wirklich ein Selbst. Ich denke, im Vergleich zu anderen, entspricht das der Wahrheit.» Manch einem mag es seltsam erscheinen, dass eine Person zutiefst von der Vorstellung des Todes verängstigt sein kann, ohne das eigene Leben wirklich als...