Apraxien

von: Georg Goldenberg

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783840922657 , 102 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Apraxien


 

1.1 Historische Wurzeln der Apraxieforschung (S. 2-3)

Im Jahre 1861 berichtete Paul Broca vor der anthropologischen Gesellschaft in Paris über einen Patienten, der infolge einer linksfrontalen Läsion die Fähigkeit des Sprechens verloren hatte. Dieser Bericht markiert die Geburtsstunde der modernen Neuropsychologie. Broca merkte darin an, dass nicht nur der sprachliche Ausdruck des Patienten auf den Automatismus „tan tan“ beschränkt war, sondern auch seine Gesten oft unverständlich waren (Broca, 1861). Im Rückblick kann man fragen, ob „Tantan“ nicht zusätzlich zur Aphasie eine Apraxie für die Ausführung kommunikativer Gesten hatte.

Knappe zehn Jahre später behauptete der deutsche Psychiater Finkelnburg, dass die Einbußen aphasischer Patienten nicht auf sprachliche Unzulänglichkeiten beschränkt seien, sondern dass sie das allgemeine „Vermögen, sowohl Begriffe mittels erlernter Zeichen zu verstehen, wie auch Begriffe durch erlernte Zeichen kundzugeben“ verloren hätten. Er bezeichnete diesen Verlust als „Asymbolie“ (Finkelnburg, 1870) und führte als Beleg unter anderem fehlerhafte und „plumpe“ kommunikative Gesten an. Zum Beispiel machte eine „als fromme Katholikin aufgewachsene“ Patientin „beim gemeinsamen Tischgebet nie aus eigenem Antrieb das Zeichen des Kreuzes. Wenn die Umgebung sie dazu aufforderte, so griff sie unsicher tastend bald hinter’s Ohr, bald nach dem Halse, bis man es ihr vormachte, worauf sie die gesehene Bewegung exact nachahmte.“ Bei einem anderen Patienten fiel ihm auf, dass „seine Gesten auffallend ungeschickt, mitunter ganz incongruent zu dem, was er ausdrücken wollte“ waren, und er meinte, dass „auch das Verständnis für die Pantomimen anderer abnimmt“ (S. 450). Der Begriff „Apraxie“ wurde, zumindest in gedruckter Form, erstmals vom deutschen Sprachwissenschaftler Steinthal (1881) benutzt. Anders als Finkelnburg bezog sich Steinthal jedoch nicht auf gestörte kommunikative Gesten, sondern auf den Werkzeug- und Objektgebrauch. Er beschrieb einen Patienten, der „aphatisch und anarthrisch gewesen, doch bei Verstand geblieben [war]. Als er aber schreiben wollte, ergriff er die Feder verkehrt; auch Löffel und Gabel fasste er an, als ob er sie nie gebraucht hätte“ (S. 458). Steinthal betonte, dass das Problem nicht die motorische Ausführung des Objektgebrauchs betraf: „Nicht die Bewegung der Glieder an sich ist gehemmt, sondern die Beziehung der Bewegungen auf den zu behandelnden Gegenstand, die Beziehung des Mechanismus auf den Zweck ist gestört“. Er schloss: „Diese Apraxie ist eine offenbare Steigerung der Aphasie.“ Finkelnburg beschrieb die Störung kommunikativer Gesten und Steinthal die des Werkzeug- und Objektgebrauchs. Sie waren sich aber einig in der Annahme einer unauflöslich engen Verbindung der Störungen mit der Aphasie. Die motorische Ausführung der gestörten Handlungen zogen sie nicht als mögliche Fehlerquelle in Betracht. Insbesondere Steinthal bekannte sich ausdrücklich zum „ideomotorischen“ Prinzip (Prinz, 1987), nach dem die Vorstellung einer motorischen Aktion automatisch ihre Ausführung auslöst, so dass der Übergang von der Vorstellung zur Ausführung keinen Zwischenraum lässt, in dem eine Unterbrechung oder Störung ansetzen könnte. Die bis heute maßgebenden theoretischen Grundlagen der Apraxieforschung wurden vom deutschen Psychiater Hugo Liepmann gelegt (Liepmann, 1900, 1908; Goldenberg, 2003a). Liepmann führte eine systematische Gruppenstudie an Patienten mit rechts- und linkshirnigen Läsionen durch und stellte fest, dass nur die mit den linkshirnigen Läsionen Fehler bei der Ausführung kommunikativer Gesten machten, wobei es unter den Patienten mit linkshirnigen Läsionen und Apraxie einige gab, die nicht aphasisch waren. Er ließ die Patienten die Gesten, die sie auf Aufforderung nicht produzieren konnten, auch nachmachen und fand, dass sie auch damit Schwierigkeiten hatten. Liepmann etablierte damit nicht nur die Apraxie als eine von der Aphasie unabhängige Folge linkshirniger Läsionen, sondern er stellte auch die ideomotorische Einheit von Vorstellung und Ausführung motorischer Aktionen infrage. Er schrieb: „Störungen im Nachmachen bekunden, dass hier nicht eine Ungenauigkeit des zeitliche räumlichen Bildes vorliegt, sondern eine Unfähigkeit, die Glieder gemäß bestimmten räumlichen Vorstellungen zu dirigieren“ (Liepmann, 1908, S. 26 f.).

1.2 Ein Strom der Handlungskontrolle von posterior nach anterior

Liepmann hatte in Philosophie promoviert, bevor er sich der Medizin zuwandte und seine Arbeiten sind vom philosophischen Hintergrund der Cartesianischen Teilung zwischen Geist und Gehirn geprägt. Sein grundsätzliches Anliegen war es, durch Lokalisieren von Hirnfunktionen ...