Das Dorf in den roten Wäldern - Der erste Fall für GAMACHE

von: Louise Penny

Kampa Verlag, 2019

ISBN: 9783311700470 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Das Dorf in den roten Wäldern - Der erste Fall für GAMACHE


 

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Jane Neal segnete im Frühnebel des Sonntags vor Thanksgiving das Zeitliche. Ihr Ableben kam für alle überraschend. Niemand würde behaupten wollen, Miss Neal wäre eines natürlichen Todes gestorben, es sei denn, man vertrat die Ansicht, dass alles im Leben vorherbestimmt war. Dann hatte Jane Neal sechsundsiebzig Jahre lang auf diesen Moment hingelebt, in dem sie zwischen den bunten Ahornbäumen am Rande von Three Pines ihren letzten Atemzug tat. Mit ausgestreckten Armen und Beinen lag sie in dem farbenprächtigen, raschelnden Laub, so als hätte sie gerade Engelchen flieg gespielt.

Chief Inspector Armand Gamache von der Sûreté du Québec kniete sich neben sie, und dabei knackten seine Knie so laut wie ein Gewehrschuss. Seine großen, kräftigen Hände schwebten über dem kleinen Blutfleck, der ihre flauschige Strickjacke verunzierte, als könne er wie durch Zauberei die Wunde zum Verschwinden bringen und die Frau zum Leben erwecken. Aber das konnte er nicht. Magie gehörte nicht zu seinen Gaben. Dafür besaß er andere. Der Geruch von Mottenkugeln, der ihn an seine Großmutter erinnerte, stieg ihm in die Nase. Janes sanfte und freundliche Augen starrten ihn an, als sei sie erstaunt, ihn zu sehen.

Er jedenfalls war überrascht, sie zu sehen. Das war sein kleines Geheimnis. Nicht dass er sie vorher schon einmal zu Gesicht bekommen hätte. Nein, sein kleines Geheimnis bestand darin, dass ihn mit Mitte fünfzig, auf dem Höhepunkt einer langen und inzwischen offenbar zum Stillstand gekommenen Laufbahn, ein gewaltsamer Tod noch immer überraschte. Was ungewöhnlich war für den Leiter der Mordkommission und vielleicht einer der Gründe, warum er in der von Zynismus geprägten Welt der Sûreté nicht weiter nach oben gelangte. Gamache hoffte stets, dass jemand vielleicht etwas missverstanden hatte und es gar keine Leiche gab. Aber bei der schon starren Miss Neal war ein Irrtum ausgeschlossen. Gestützt von Inspector Beauvoir erhob er sich, knöpfte zum Schutz gegen die Oktoberkälte seinen gefütterten Burberry zu und wunderte sich.

 

Einige Tage zuvor hatte sich schon jemand über Jane Neal gewundert, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Sie hatte sich mit ihrer Freundin und unmittelbaren Nachbarin Clara Morrow zum Kaffee im Bistro des Dorfes verabredet. Clara saß am Fenster und wartete. Geduld gehörte nicht gerade zu ihren Stärken, und ihre Ungeduld, zusammen mit dem Café au lait, machte sie nervös. Leise mit den Fingern auf die Tischplatte trommelnd sah Clara aus dem zweiflügeligen Fenster auf den Dorfanger und die alten Häuser und Ahornbäume, die ihn säumten. Die Bäume, deren Laub atemberaubende Rot- und Goldtöne angenommen hatte, waren im Grunde das Einzige, was sich in diesem ehrwürdigen Dorf jemals veränderte.

Sie beobachtete einen Pick-up, der mit einer wunderschön gesprenkelten Dammhirschkuh auf der Motorhaube auf der Rue du Moulin ins Dorf fuhr. Langsam umkreiste er den Dorfanger und zwang die Fußgänger innezuhalten. Es war Jagdsaison, und sie befanden sich in einem Jagdgebiet, wobei Jäger wie dieser zumeist aus Montréal oder einer anderen großen Stadt kamen. Sie mieteten einen Pick-up und polterten in der Morgen- und Abenddämmerung auf der Suche nach Wild wie Nilpferde zur Fressenszeit über die Feldwege. Wenn sie dann einen Hirschen erblickten, stiegen sie auf die Bremse, sprangen aus dem Wagen und ballerten los. Nicht alle Jäger waren so, das wusste Clara, aber es waren genug. Und genau diese Jäger banden ihre Beute dann auf der Motorhaube des Trucks fest und fuhren in der Gegend herum, überzeugt, dass das tote Tier auf dem Wagen Kunde davon gab, was für Helden sie waren.

Jedes Jahr erlegten diese Jäger Kühe und Pferde und Haustiere und andere Jäger. Und manchmal, man mochte es kaum glauben, erschossen sie sich auch selbst, möglicherweise in einem Anfall von Wahnsinn, in dem sie sich mit dem Sonntagsbraten verwechselten. Ein kluger Mensch hatte einmal gesagt, manchen Jägern – nicht allen, aber doch einigen – falle es schwer, eine Kiefer von einem Kitz oder einem Kind zu unterscheiden.

Clara fragte sich, wo Jane blieb. Da ihre Freundin meistens pünktlich war, konnte sie ihr die heutige Verspätung nachsehen. Clara fiel es ohnehin leicht, den meisten Leuten die meisten Dinge zu verzeihen. Allzu leicht, wie ihr Mann Peter meinte. Aber auch Clara hatte ihr kleines Geheimnis. Denn sie ließ es nicht immer auf sich beruhen. In den meisten Fällen schon. Aber manchmal merkte sie sich ein Vergehen und erinnerte sich seiner in Momenten, wenn sie durch die Unfreundlichkeit der Welt getröstet werden wollte.

Auf der Montreal Gazette, die jemand auf ihrem Tisch hatte liegen lassen, hatten sich die Krümel eines Croissants angesammelt. Dazwischen konnte Clara die Schlagzeilen lesen: Parti Québécois will Souveränitätsreferendum abhalten – Drogenkrieg in Townships – Wanderer verirren sich im Tremblant Park.

Clara riss ihren Blick von den trostlosen Schlagzeilen los. Sie und Peter hatten schon vor geraumer Zeit ihr Abonnement der Montreal Gazette gekündigt. Unwissenheit war wirklich ein Segen. Sie zogen das Lokalblättchen aus dem nahen Williamsburg vor, das sie über nichts Aufregenderes als Waynes Kuh, den Besuch der Enkel der Guylaines oder eine Quilt-Versteigerung zugunsten des Altenheims informierte. Ab und an fragte sich Clara, ob sie damit vor der Realität und der Verantwortung davonliefen, und dann stellte sie fest, dass es ihr egal war. Außerdem erfuhr sie alles zum Überleben Notwendige genau hier, in Oliviers Bistro, im Herzen von Three Pines.

»Du träumst mal wieder«, ertönte eine vertraute und geschätzte Stimme. Es war Jane, außer Atem und lächelnd, ihr von Lachfalten durchzogenes Gesicht gerötet von der kühlen Herbstluft und dem rasch zurückgelegten Weg von ihrem Cottage auf der anderen Seite des Dorfangers.

»Entschuldige bitte meine Verspätung«, sagte sie leise in Claras Ohr, als sie sich umarmten, die eine klein, mollig und atemlos, die andere dreißig Jahre jünger, schlank und noch immer etwas nervös von dem Kaffee. »Du zitterst ja«, bemerkte Jane, setzte sich an den Tisch und bestellte sich ebenfalls einen Café au lait. »Dass du dir solche Sorgen machst, hätte ich nicht gedacht.«

»Blöde Kuh«, sagte Clara und lachte.

»Das war ich heute Morgen, und wie. Hast du schon gehört?«

»Nein, was denn?« Neugierig beugte Clara sich vor. Sie war mit Peter in Montréal gewesen, um Leinwand und Acrylfarben zu kaufen. Sie waren beide Künstler. Peter ein erfolgreicher. Clara war noch nicht entdeckt worden, und wie die meisten ihrer Freunde insgeheim dachten, würde sie das auch nicht werden, wenn sie weiterhin darauf beharrte, solche unergründlichen Werke zu schaffen. Clara musste zugeben, dass ihre Serie von Kriegerinnen und deren Uteri auf kein besonders lebhaftes Käuferinteresse stieß, wohingegen sich ihre Haushaltsgegenstände mit toupierten Haaren und riesigen Füßen eines gewissen Erfolgs erfreuten. Sie hatte immerhin eine der Arbeiten verkauft. Die anderen fünfzig lagen im Keller, in dem es ein bisschen wie in Frankensteins Werkstatt aussah.

»Nein«, flüsterte Clara ein paar Minuten später schockiert. In den fünfundzwanzig Jahren, die sie nun in Three Pines lebte, hatte es ihres Wissens nie ein Verbrechen im Dorf gegeben. Wenn hier die Türen abgesperrt wurden, dann nur, um zu verhindern, dass einem die Nachbarn zur Erntezeit Körbe mit Zucchini in den Hausflur stellten. Gut, wie die Schlagzeile der Gazette zeigte, gab es noch etwas anderes, das in ähnlichen Mengen wie Zucchini geerntet wurde: Marihuana. Aber das wurde beharrlich ignoriert.

Davon abgesehen gab es keine Verbrechen. Keine Einbrüche, keinen Vandalismus, keine Überfälle. In Three Pines gab es nicht einmal eine Polizei. Ab und an fuhr Robert Lemieux von der lokalen Sûreté durch das Dorf, um deren Präsenz zu zeigen, aber im Grunde bestand kein Anlass dazu.

Bis zu diesem Morgen.

»Vielleicht war es ja nur ein schlechter Scherz?« Clara versuchte, das hässliche Bild zu verdrängen, das Janes Bericht vor ihrem geistigen Auge hatte entstehen lassen.

»Nein, das war kein Scherz«, sagte Jane und erzählte weiter. »Einer der Jungen lachte. Wenn ich jetzt so daran denke, kam es mir irgendwie bekannt vor. Es war kein heiteres Lachen.« Jane sah Clara mit ihren klaren blauen Augen an. Augen, in die Verwunderung geschrieben stand. »Es war ein Lachen, wie ich es manchmal in der Schule gehört habe. Glücklicherweise nicht oft. Ein Lachen, wie es Jungen von sich geben, wenn sie sich einen Spaß daraus machen, ein Tier oder einen Menschen zu quälen.« Der Gedanke ließ Jane erschauern, und sie zog ihre Strickjacke enger um sich. »Ein hässlicher Klang. Ich bin froh, dass du nicht dabei warst.«

Bei ihren letzten Worten streckte Clara den Arm über den runden Holztisch und nahm Janes kalte, kleine Hand. Sie wünschte, sie wäre statt Jane dort gewesen.

»Es waren Jugendliche, sagst du?«

»Sie trugen Skimasken, daher ist es schwer zu sagen, aber ich glaube, ich habe sie erkannt.«

»Wer war es?«

»Philippe Croft, Gus Hennessey und Claude LaPierre.« Jane flüsterte die Namen und sah sich vorsichtig um, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand mithörte.

»Bist du sicher?« Clara kannte die drei. Sie waren nicht gerade Engel, aber genauso wenig würde man ihnen ein solches Vergehen zutrauen.

»Nein«, räumte Jane ein.

»Dann solltest du die Namen besser für dich behalten.«

»Zu spät.«

»Was meinst du damit, zu spät?«

»Ich habe ihre Namen schon genannt, heute Morgen, als es...