Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt - Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden / Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen

Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt - Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden / Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen

von: Jan Brandt

DUMONT Buchverlag, 2019

ISBN: 9783832184520 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt - Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden / Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen


 

Dies ist die Geschichte von zwei Häusern und zwei Straßen – und von zwei Brüdern, die in die USA auswanderten, um im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Unmögliche zu erreichen: ihrer Herkunft zu entkommen. Sie zogen nach Newport, Rhode Island, in den »neuen Hafen« der Neuen Welt: eine kleine Stadt an der Atlantikküste, 115 Kilometer südlich von Boston, hügeliges Land, fruchtbarer Boden, mildes Klima, umgeben von weißen Stränden und steilen Klippen mit einem weiten Blick aufs Meer.

Der ältere Bruder blieb nur sechs Jahre, dann kehrte er in die Heimat zurück, nach Ostfriesland. Der jüngere blieb bis an sein Lebensende und war zumindest in Familien- und Gärtnerkreisen noch über seinen Tod hinaus berühmt. Und gefürchtet: Es heißt, er sei ein schwieriger Mensch gewesen, ein Perfektionist, dem man nichts habe recht machen können und der sich mit allen überwarf, weil er stets an seinen hohen Ansprüchen festhielt und ausfällig wurde, sobald man ihn enttäuschte. Der eine trägt meinen Namen – oder, um genau zu sein, ich trage seinen, Jan Brandt, denn er ist mein Urgroßvater; der andere war Arend, the Madman.

Es ist die Geschichte meiner Familie.

Und eine Reise an den Anbeginn unserer Zeit.

Es war der 26. April 2013, Freitagnachmittag, 18 Grad und sonnig, als ich auf dem Flughafen Boston Logan International landete, in einen silberfarbenen Chevrolet Cruze stieg und mich auf Spurensuche nach meinen Vorfahren begab. Im Gepäck hatte ich nicht viel mehr als ein paar Fotos und ausgedruckte E-Mails von Lokalhistorikern und ein halbes Dutzend Bücher: Max Frischs gesammelte USA-Texte, Geert Maks kolossalen Reisebericht Amerika, Harry J. Eudenbachs Studie über Hausgärtner in Newport, Thornton Wilders Erzählung Theophilus North und Edith Whartons Roman The Age of Innocence (beide spielen in Newport) sowie den großen US-Roman über Geld, Macht und Liebe: The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald. Insgesamt zweitausend Seiten, die, weil sie alle in mein Smartphone passten, nur 112 Gramm wogen.

Elf Tage nach den Bombenanschlägen war in Boston Normalität eingekehrt. Auf der achtspurigen Interstate 93 stauten sich die Autos, und es dauerte zwei Stunden, bis ich aus der Stadt heraus war. Kaum schwenkte ich aber auf den Fall River Expressway ein, wurde die Fahrt extrem entspannend. Ich glitt mit 110 Stundenkilometern dahin, vorbei an dichten Wäldern, blauen Seen und Buchten voller Boote. Bald überquerte ich die Mount Hope Bridge, die das Festland mit der Insel Rhode Island und die Gegenwart mit der Vergangenheit verband. Und dann war ich da: mitten im Frühling, alles um mich herum blühte in den schönsten Farben. Tulpen- und Kirschbäume, Rosskastanien und Silberahorne.

Meine Vorfahren kamen zur gleichen Jahreszeit an. Als der fast 24-jährige Jan Brandt nach zweiwöchiger Reise am 1. Mai 1869 mit dem Segelschiff Bremen in New York eintraf und von dort aus mit der Eisenbahn, der Stonington Line, nach Newport weiterreiste, dürfte er, was die Pflanzenvielfalt angeht, einen ähnlich starken ersten Eindruck gehabt haben wie ich, womöglich sogar einen noch stärkeren, schließlich stammte er aus einer der ärmsten, kargsten und am dünnsten besiedelten Gegenden Deutschlands, aus Vellage, einem Geestdorf an der Ems, in dem damals in 64 Häusern 249 Menschen lebten: Landarbeiter, Kleinbauern und Handwerker mit ihren Frauen und Kindern. Sein Vater war Schuhmachermeister und der Leiter der Armenverwaltung des Dorfes, der neun Morgen Land als Erbpacht bewirtschaftete und mit seiner Familie zur Miete wohnte. Jan sei, so heißt es in unserer Familie, ein »richtiger Rantanta« gewesen, mit dem man nur schwer habe auskommen können. Eine Schwester brach im Eis ein und ertrank, die andere starb an Keuchhusten. Ein Bruder wurde Müller, einer Malermeister, beide in anderen Orten, der eine in Ihren, der andere in Enschede, keiner hielt es zu Hause aus.

Ich weiß nicht, was ihn forttrieb. Die Sehnsucht nach der großen weiten Welt? Nach Abenteuer, Wohlstand, Freiheit? Wollte er seinem Vater entkommen? Der Armut? Einem möglichen Kriegseinsatz in der preußischen Armee? Es gibt keine persönlichen Aufzeichnungen, keine Briefe, keine Tagebücher – nur Geschichten, mündliche Überlieferungen. In unserer Familie werden außer Fotos keine persönlichen Gegenstände aufbewahrt und an die nachfolgende Generation weitergereicht. Ich weiß nur, dass er Gärtner war und dass Newport zu jener Zeit, während des von Mark Twain so getauften Gilded Age, des »vergoldeten Zeitalters«, ein wahres Paradies für professionelle Pflanzenliebhaber gewesen sein muss.

Nach dem Ende des Bürgerkriegs boomte die Wirtschaft in den USA. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen war bald doppelt so hoch wie in Europa und versprach sozialen Aufstieg für jedermann. Die First Transcontinental Railroad war eben eröffnet worden und erschloss neue Märkte unvorstellbaren Ausmaßes. Europäische Einwanderer strömten ins Land und mit ihnen Hoffnungen und Bedürfnisse. Die, die am meisten am allgemeinen Aufschwung verdienten, die Vanderbilts und Astors und Wideners, errichteten palastartige Sommerhäuser an Newports Küste und ließen ihre Zimmer und Terrassen mit Blumen schmücken, ihre Gärten mit exotischen Bäumen und Büschen.

Kurz nach seiner Ankunft änderte Jan seinen Vornamen in John, wohl weil Jan in den USA ein weiblicher Vorname ist. Er wohnte bei einer sechsköpfigen Farmerfamilie im benachbarten Ort Middletown und arbeitete dort auf der landwirtschaftlich fortschrittlichen Ogden Farm von George E. Waring Jr., einem Entwässerungsingenieur, der den Central Park trockengelegt und Jersey-Rinder in die USA eingeführt hatte, in Rhode Island mehrere Betriebe leitete und später New York mit einem Abwassersystem versorgen sollte. John muss seinen vier Jahre jüngeren Bruder Arend überzeugt haben, auch herüberzukommen, vielleicht hat er ihm sogar die teure Überfahrt bezahlt. Am 30. April 1872 jedenfalls erreichte Arend Brandt New York, und zusammen übernahmen sie von Waring die Gärtnerei Vernon Garden am Livingston Place in Newport.

Mein Urgroßvater zog 1875 jedoch wieder zurück nach Deutschland und heiratete seine Verlobte Thalke. Sein Schwiegervater hatte ihr nicht erlaubt, auszuwandern, und ihm hatte er, falls er wiederkomme, eine großzügige Mitgift, viel Land und einen verkehrstechnisch günstig gelegenen Gemischtwarenladen in Ihrhove in Aussicht gestellt, 18 Kilometer östlich von Vellage, 70 Kilometer von der Nordsee entfernt. Ein ruhiger Ort, umgeben von Wiesen und Feldern, dem von Wallhecken und Schlooten und Tiefs durchzogenen Hammrich. Die dreifache Verlockung war wohl zu groß, um widerstehen zu können. Am 12. Juni 1875 heirateten Jan und Thalke, auf dem Trauschein steht noch seine Adresse in Newport, der Stadt seiner Träume. Er sollte sie nie wiedersehen.

Stattdessen begann er sich mit ganzer Kraft den neuen Projekten zu widmen – dem Aufbau seines Unternehmens und der Gründung einer großen Familie. Thalke und er bekamen zehn Kinder, von denen acht das Erwachsenenalter erreichten. Zwei davon sollten später selbst in die USA auswandern. Sein Laden an der Reichsstraße, der späteren Großwolderstraße, war bald über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt, es gab dort alles: Kolonial-, Eisen-, Porzellan- und Kurzwaren; Salz, Getreide und Viehfutterartikel; Kunstdünger, Kohlen und Baumaterialien; Lebensmittel und Drogeriewaren: Tafelbutter, feinste ostfriesische Teemischungen, Wasmuth’s Fenchel-Honig, Wasmuth’s Victoria-Seife, Erdnusskuchen und Hamburg-Altonaer Malzextrakt. Auf seinen Ländereien, »Brandts Kamp« genannt, baute er Gemüse an und züchtete Blumen, wie er es in Newport gelernt hatte, mit seiner langen Gesteckpfeife durchschritt er die Felder und Beete und begutachtete schmauchend das Wachstum seiner Pflanzen; er hatte ein paar Hühner und Schweine und Kühe im Stall, als Eigenbedarf, und neben dem Haus gab es einen Weg, einen Kleiweg, der später seinen Namen tragen und aus Blaubasaltsteinen bestehen würde – der Brandtsweg.

Jan war zurückgekehrt in seine Heimat. Er baute ein erfolgreiches Unternehmen auf und gründete eine große, aber keine enkelkinderreiche Familie. Er überstand den Ersten Weltkrieg, ohne selbst eingezogen zu werden oder einen seiner beiden Söhne in einer der sinnlosen Schlachten zu verlieren. Und trotz allem dachte er manchmal mit einem Anflug von Sehnsucht und Wehmut darüber nach, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wäre er damals in Amerika geblieben – einfacher oder schwerer, ärmer oder reicher. Er hatte, so schien es ihm jedenfalls im Nachhinein, den leichteren Weg gewählt. In der Gegend, in der er aufgewachsen war, kannte er die Leute und die Gepflogenheiten, er hatte dank seines Schwiegervaters schnell Kontakt zu den einflussreichen Kaufleuten und Landwirten des Dorfes aufnehmen können, seine Kinder und Nichten und Neffen halfen ihm bei der Arbeit im Geschäft und auf dem Hof, und er profitierte davon, dass er in der Fremde gewesen war, drüben, auf der anderen Seite des Atlantiks – er hatte etwas Exotisches, Weltmännisches, und das galt auf dem Land damals als Privileg. Manche Kunden hatten, sobald sie den Laden betraten, das Gefühl, woanders zu sein, nicht nur durch die Produkte in den Regalen, die von überallher stammten. Jan Brandt sprach mit ihnen...