Meistens kommt es anders, wenn man denkt - Roman

von: Petra Hülsmann

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783732572113 , 511 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

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Meistens kommt es anders, wenn man denkt - Roman


 

Kennen wir uns nicht?


Tage, die um sieben Uhr morgens mit einem Anruf meiner Mutter begannen, versprachen meist, keine guten Tage zu werden. Nichts gegen meine Mutter, ich hatte sie sehr lieb, aber ein Anruf um diese frühe Uhrzeit konnte nur zwei Gründe haben: schlechte Nachrichten oder ganz schlechte Nachrichten. Ich putzte mir gerade die Zähne, als mein Handy die Guten-Morgen-Playlist abrupt unterbrach und anfing zu klingeln und zu brummen. Vor Schreck hätte ich fast die Zahnbürste fallen lassen, und als ich sah, dass es meine Mutter war, fing mein Herz an zu rasen. Hastig spuckte ich die Zahnpasta aus und ging ran. »Mama? Ist was passiert?« In Gedanken sah ich mich schon zu meinem jüngeren Bruder Lenny ins Krankenhaus eilen, weil sein Herz nun doch wieder schlappgemacht hatte.

»Hallo, Nele«, erwiderte meine Mutter so gut gelaunt, wie nur sie es morgens um sieben Uhr sein konnte. »Nein, alles in Ordnung. Hast du gut geschlafen?«

»Äh, ja, danke. Ist wirklich alles okay bei euch? Geht es Lenny gut?«

»Ja, natürlich. Uns allen geht es gut.«

Meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich auf den Rand der Badewanne sinken ließ. »Mann, Mama. Wie kannst du mich so erschrecken?«

»Was? Wieso habe ich dich denn erschreckt?«

»Na, weil Anrufe zwischen 22 und 8 Uhr normalerweise nichts Gutes bedeuten!«

»Ach, Nele-Schätzchen«, rief meine Mutter bestürzt. »Das tut mir leid, ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Ich wollte dich nur unbedingt noch erreichen, bevor du ins Büro gehst. Bei der Arbeit wollte ich dich lieber nicht stören. Du bist ja noch neu da, und die sollen doch nicht denken, dass du den ganzen Tag von deiner Mutter am Telefon terrorisiert wirst.«

»Wenn du mich einmal anrufst?«, fragte ich ungläubig. »Das wäre schon klargegangen, denke ich. Außerdem hättest du mir ja auch eine Nachricht schreiben können.«

»Das dauert doch immer so lange.«

Meine Mutter war tatsächlich eine grauenhafte Nachrichten-Schreiberin. Ein Text von ihr sah etwa so aus: Jallo Nwle ewie gegts lommst du motgen nit zu Oma wit fshrem un drei tsxhüs mama hab dick lien grüsse aucj von papa und lemmy. An ihrem Online-Status konnte ich dann sehen, dass sie weiterhin schrieb, also wartete ich, und wartete und wartete, nur um drei Minuten später folgende Nachricht zu erhalten: Lenny. Meine Mutter behauptete immer, ihre Finger seien zu dick fürs Display, sodass sie nie die richtigen ›Knöppe‹ träfe. Groß- und Kleinschreibung oder Korrekturen waren ihr zu nervig. Also durchaus verständlich, dass die Option ›Nachricht schreiben‹ für sie heute Morgen nicht infrage gekommen war. »Na gut. Aber worum geht es denn nun eigentlich?«

»Es gibt fantastische Neuigkeiten! Großartige, wunderbare Neuigkeiten. Papa und ich möchten es dir und Lenny gern zusammen sagen, deswegen laden wir euch morgen zum Frühstück ein. Ich weiß, dass das sehr kurzfristig ist, aber ich hoffe, du hast Zeit?«

»Ja, habe ich. Habt ihr im Lotto gewonnen?«

»Nein, besser.«

»Habt ihr …«

»Ich verrate nichts, Nele«, fiel meine Mutter mir lachend ins Wort. »Bis morgen früh dauert es ja nicht mehr lang. Also dann um zehn im Entenwerder 1?«

»Alles klar.« Ich war furchtbar neugierig, aber ich wusste, dass es zwecklos war. Wenn meine Mutter nichts verraten wollte, würde sie auch nichts verraten. »Wie geht’s Lenny?«, erkundigte ich mich.

»Bestens. Er hat auch Neuigkeiten für dich. Wird er dir bestimmt morgen erzählen.«

»Weißt du eigentlich, wie fies es ist, mich erst anzutrailern und mir dann den Film nicht zu zeigen?«

»Ja, weiß ich«, erwiderte meine Mutter vergnügt. »Jetzt erzähl doch mal: Wie ist es in der neuen Agentur?«

Apropos Agentur. Allmählich musste ich mich beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Die Arbeitszeiten waren zwar flexibel, aber ich war erst seit zwei Wochen da und wollte auf keinen Fall für faul gehalten werden. Also erhob ich mich vom Badewannenrand und ging zum Waschbecken. Das Handy stellte ich auf Lautsprecher, um beide Hände zum Schminken frei zu haben. »Der neue Job ist toll«, fing ich an zu schwärmen, während ich Make-up im Gesicht verteilte. »Meine Kollegen und Olli, einer der beiden Chefs, sind supernett. Heute lerne ich auch endlich den zweiten Inhaber kennen, bislang war der im Urlaub. Die Agentur hat extrem interessante Kunden, und die Kampagnen sind genial. Kennst du zum Beispiel diese Dating-App Searchlove?«

»Nein, leider nicht. Oder zum Glück nicht, wie man es nimmt.«

Ich legte einen dezenten Lidschatten auf. »Na, jedenfalls war die App so gut wie am Ende, weil alle zu Findlove gewechselt sind. Aber dann hat die Agentur Searchlove ein völlig neues Image verpasst, und die Firma hat seitdem einen Zuwachs von zweiunddreißig Prozent verzeichnet. Zweiunddreißig Prozent! Ist das nicht der Hammer?« Ich konnte mein Glück noch immer kaum fassen, seit zwei Wochen Mitarbeiterin der PR-Agentur M&T zu sein. Der Name stand für die beiden Agenturinhaber Claas Maurien und Oliver Thevs, die die Agentur vor fünf Jahren gegründet hatten. Mit ihren innovativen Ideen und genialen Konzepten waren sie innerhalb kürzester Zeit zu einer der angesagtesten Agenturen in der Branche geworden. Schon viermal hatte ich mich dort beworben. Alle Versuche waren erfolglos geblieben, doch dann hatte es endlich geklappt – ausgerechnet, als ich mich am absoluten Tiefpunkt meines Lebens befunden hatte. Ich war unglaublich froh darüber, endlich meine Chance bekommen zu haben, und hundertprozentig entschlossen, alles zu geben, um bei M&T die Karriereleiter hinaufzuklettern. Jeden einzelnen Schritt hatte ich bereits geplant, und langfristig war es mein Ziel, in die Geschäftsführung aufzusteigen. Schließlich brauchte jeder Mensch eine Vision, und das war meine.

»Ich freu mich so für dich, Nele«, sagte meine Mutter und riss mich damit aus meinen Karriereträumen. »Du hast dir diesen Job wirklich verdient, ich weiß doch, wie hart du dafür gearbeitet hast. Na gut, dann will ich dich mal nicht länger aufhalten. Ich wünsch dir einen schönen Tag, und benimm dich, wenn du heute den anderen Chef kennenlernst.«

»Natürlich benehme ich mich, Mama.«

»Ach, das weiß ich doch, meine Große. Also dann, bis morgen im Entenwerder.«

»Ja, bis morgen. Was feiern wir noch mal? Euer neues Haus?«

Meine Mutter lachte nur. »Vergiss es, Nele.«

Nachdem ich mich fertig geschminkt hatte und im Ergebnis absolut natürlich und nicht geschminkt aussah, tüdelte ich mir eine Kombination aus Flechtfrisur und lockerem Knoten ins Haar. Ich schlüpfte in mein dunkelblaues Lieblingskleid, das mit winzig kleinen Kirschen bedruckt war. Ich hatte es mir zur Belohnung genäht, nachdem Lenny seine letzte Herz-OP überstanden hatte und die lange Zeit des Bangens endlich vorbei war. Tobi, mein Ex, hatte das Kleid gehasst und viel zu unsexy gefunden, sodass ich es während unserer Beziehung kaum getragen hatte. Aber zum Glück war mir seit zwei Monaten komplett egal, was Tobi von meinen Klamotten oder mir hielt. Ich betrachtete mich kritisch im Spiegel meines Kleiderschranks und drehte mich hin und her. Dabei fiel mein Blick auf den Plan, den ich nach der Trennung von Tobi verfasst und dorthin gehängt hatte, um ihn mir täglich vor Augen zu führen. Er war an der Ostsee entstanden, wohin ich mich nach zwei Wochen intensiven Selbstmitleids verzogen hatte, um den Kopf frei zu kriegen. Nach einem endlos langen Spaziergang am Strand hatte ich mich in den Sand gesetzt und den Wellen zugeschaut. Der Wind war mir durchs Haar gestrichen, die Sonne hatte mich gewärmt und die Möwen hatten mir zugerufen: »Jetzt sieh doch nur, wie schön die Welt ist. Das ist deine Zeit, lass sie dir nicht von irgendwelchen beknackten Typen versauen.« Ich fand die Ostsee-Möwen sehr klug, also holte ich umgehend mein Notizbuch aus der Tasche und erstellte einen Zukunftsplan. Als Erstes verordnete ich mir einen absoluten Männerstopp. Nach etlichen Beziehungspleiten musste ich mir wohl endlich eingestehen, dass ich für die Liebe nicht geschaffen war und die Liebe nicht für mich. Ich hatte es immer wieder versucht, und immer wieder war ich gescheitert. Mein lädiertes Herz benötigte dringend eine Pause. Außerdem konnte ich mich durch den Männerstopp voll und ganz auf meinen Job konzentrieren. Ich liebte meine Arbeit und wollte meine Karriere endlich anpacken, statt immer nur darüber zu reden. Und zu guter Letzt wollte ich endlich mal wieder Zeit für mich haben und tun und lassen, was ich wollte. In den letzten Jahren hatte ich immer wieder den Fehler gemacht, mich selbst in Beziehungen zu verlieren. Der Typ war Stand-up-Paddler? Dann ging ich halt zum Stand-up-Paddeln. Er interessierte sich für Fußball? Dann fand ich mich alle zwei Wochen am Samstagnachmittag im Stadion wieder. Er hasste ›Heimchen am Herd‹? Dann tat ich eben so, als könnte ich nicht mal Wasser kochen. Aber darauf hatte ich keine Lust mehr, jetzt war ich wieder ich. Nele Wilkens. Jetzt ging es um mich, um mein Leben. Und das tat mir verdammt gut.

»So«, sagte ich schließlich zu meinem Spiegelbild. »Ich geh jetzt Karriere machen und beim neuen Chef einen guten Eindruck hinterlassen.«

Auf dem Weg zur Tür schaute ich kurz in der Küche nach, ob Anni, meine beste Freundin und Mitbewohnerin, noch da war. War sie allerdings nicht. Vermutlich hatte sie bei Sebastian geschlafen, unserem Nachbarn, mit dem sie seit zwei Monaten zusammen war. Die beiden waren noch immer frisch verliebt. Also wirklich äußerst...